Kapitel III: Die Frostriesen
Winter
Silbrigmond, zwei Tage später.
Betont lässig betrat Faust zusammen mit Winter den Speisesaal der Rauvinkaserne und grüßte den Hochfürsten und seine Gäste mit einem nonchalanten Nicken. Dabei gab er sich besondere Mühe, der dunklen Gestalt im Schatten keine Beachtung zu schenken. Allerdings machten die rotgeränderten Augen, die daran erinnerten, dass er die letzten beiden Nächte wie ein Besessener für diese Wiederbegegnung trainiert hatte, das Kalte-Schulter-Manöver ein wenig zunichte. Winter unterdrückte ein Kichern. Seit Faust gehört hatte, dass Drizzt Do’Urden in der Stadt war und ihn um dieses Treffen gebeten hatte, führte er sich auf wie ein schmachtender Fünfzehnjähriger. Seine Schwärmerei für den Drow war Winter ein Rätsel. Gewiss, Drizzt hatte einmal den Ruf des „besten Kämpfers Faerûns“ besessen, aber er war längst ein Relikt vergangener Zeiten – vermutlich tauchte Faust selbst in mehr Heldenliedern auf als sein großes Vorbild.
„Faust und Winter von den Schattenstreitern. Ich danke Euch für Euer Kommen.“
Hochfürst Methrammar Aerasumé erhob sich mit einer Mischung aus militärischer Steifheit und elfischer Grazie. Der Halbelf war der Sohn von Alustriel Silberhand, die wie so viele mächtige Magier der Zauberpest zum Opfer gefallen war. Nach dem Tod der Silbernen Dame war ihr Sohn innerhalb von zwei Jahren erst zum Oberkommandanten der Silberritter, dann zum Hochfürsten der Stadt und schließlich zum Herrscher der Silbermarken aufgestiegen. Winter mutmaßte, dass er seine rasante Karriere vor allem der Nostalgie der Silbrigmonder verdankte. Methrammar Aerasumé mochte zwar das Silberhaar und die edlen Gesichtszüge seiner Mutter geerbt haben, aber er besaß weder ihre Weitsicht noch ihre Zaubermacht. Außerdem konnte kein Mensch seinen Namen aussprechen! Naja, Winter musste sich eingestehen, dass ihr gehässiges Urteil wohl weniger mit seiner politischen Leistung als mit dem Umstand zu tun hatte, dass der Ritter bisher jede ihrer Festeinladungen mit einer gewissen steifen Höflichkeit abgelehnt hatte, die erahnen ließ, wie er zum Lebenswandel seiner berühmtesten Bürgerin stand …
„Darf ich vorstellen.“ Der Hochfürst nickte der Frau zu seiner Rechten zu – einer zierlichen alten Dame mit lebhaften braunen Augen und einem forsch gebogenen Kinn. „Tessarin Alaurun, Erste Sprecherin des Stadtrats von Nesmé. Und ein alter Freund Tessarins und der Silbermarken, Drizzt Do’Urden.“
„Wir kennen uns“, sagte Faust großspurig und ließ sich breitbeinig gegenüber dem Hochfürsten nieder.
Falls Drizzt sich ebenso wenig wie Winter erinnern konnten, wann die beiden Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, hatte er seine Gesichtsmuskeln besser im Griff als sie.
„Ich schätze, es geht um einen Auftrag? Offenbar etwas Geheimes, wenn Ihr uns zur Besprechung hierher in die Kaserne bestellt statt in den Palast?“
„Die Erste Sprecherin von Nesmé bittet um Eure Hilfe in einer beunruhigenden Angelegenheit. Die Art von Angelegenheit, die besser nicht im offiziellen Rahmen besprochen werden sollte, um einer Panik vorzubeugen.“
Tessarin Alaurun musterte Faust mit unverhohlener Neugier, war dabei aber weder abschätzig wie mancher Adlige noch hing sie so fasziniert an seinen Lippen wie die jungen Silbrigmonder, die ihn neuerdings umschwärmten. Faust hatte es verstanden, in den Jahren, in denen er mit Winter in der Stadt gelebt hatte, eine treue Anhängerschaft von Kampfbegeisterten um sich zu scharen. Er traf den Nerv der Zeit – Silbrigmond war, verglichen mit anderen Magiehochburgen, in den Pestjahren zwar noch glimpflich davongekommen, doch auch hier war das Vertrauen in die arkane Kunst ins Wanken geraten. Kampforden aller Art lagen hoch im Kurs.
„Vor etwa einem Zehntag brach in meiner Heimatstadt eine Seuche aus“, erklärte die Stadtvorsteherin von Nesmé. „Es fängt mit Bauchkrämpfen an und endet im schlimmsten Fall innerhalb weniger Tage mit dem Tod. Noch ist die Zahl der Opfer gering und wir konnten den Ursprung der Seuche ausmachen – unsere Nachforschungen ergaben, dass das Trinkwasser verseucht war. In Proben aus dem Surbinfluss wurde ein Gift gefunden, das in manchen Pilzen des Unterreichs vorkommt, vermischt mit einer Substanz, die sich als Schattenmaterie herausstellte.“
Winter horchte auf. Schattenmaterie war reine magische Energie des Schattengewebes. Nur Magier des Schattengewebes, die einen gewissen Machtgrad erreicht hatten, waren imstande sie zu bändigen. Ungebundene Schattenmaterie verflüchtigte sich sofort und war nicht nachweisbar, aber mit den richtigen alchemistischen Verbindungen konnte man sicher den ein oder anderen tödlichen Sud daraus brauen.
„Ihr glaubt also, dass Umbranten-Magier die Bewohner Eurer Stadt vergiften wollten?“, fragte Faust.
„Ich bezweifle, dass Netheril besonderes Interesse an einer bettelarmen Grenzstadt mit einem chronischen Trollproblem hat“, erwiderte die alte Dame lakonisch. „Silbrigmond dagegen … Der Juwel des Nordens ist wie der verlorene Sohn, den Telamont Tanthul nur allzu gern heimholen würde. Die Wurzeln der lllusker, der die Mehrzahl des Silbrigmonder Adels entstammt, reichen zu den alten Netherim zurück. Ein Großteil der magischen Schätze der Stadt geht auf das gefallene Imperium zurück … Und unsere Nachforschungen haben ergeben, dass die verseuchten Quellen im Immermoor entspringen.“
„… und das grenzt nicht nur an Nesmé, sondern auch an Silbrigmond.“
Der Hochfürst stieß angespannt die Luft aus.
„Ein Aufklärungstrupp, den ich ins Immermoor entsandte, kehrte nicht heim. Versuche, die Männer magisch zu orten, blieben erfolglos“, fuhr Tessarin fort und starrte betreten auf ihre Hände. Es waren alte, fleckige Magierhände mit Fledermausdung unter den Fingernägeln. Hände, die vermutlich schon viele alte Freunde begraben hatten. „Es waren nicht irgendwelche Männer. Es waren gestandene Krieger, die sich in zahlreichen Trollschlachten bewiesen haben.“ Sie sah auf und blinzelte Drizzt zu, der ihr Lächeln nur mit den Augen erwiderte. „Also bat ich einen alten Freund um Hilfe, denn es gibt wohl niemanden, der das Immermoor besser kennt als Drizzt Do’Urden.“
„Von den Umbranten und ihrer Magie verstehe ich dagegen nicht viel“, bekannte der Drow. „Aber ich erinnerte mich an eine Begegnung in der Wüstenstadt Oreme vor fünfzehn Jahren.“ Drizzt sprach leise und musterte Faust und Winter dabei ernst mit seinen seltsamen lavendelfarbenen Augen. „Und daran, dass man die Schicksalsstreiter unter anderem für ihren Sieg über den jüngsten Sohn des Hochprinzen rühmt. Darum wollte ich euch beten, mich zu begleiten.“
Winter räusperte sich vernehmlich und setzte ihr schmeichelndes Geschäftslächeln auf. Gerade überlegte sie, wie sie in dieser ritterlichen Runde wohl am besten auf die Frage der Vergütung zu sprechen kommen sollte, als Faust ihr zuvorkam.
„Wir schulden Drizzt ohnehin noch einen Gefallen“, sagte er zu Winters Verdruss.
Äh, nein, tun wir nicht, er hat uns freiwillig geholfen.
Faust ignorierte ihren telepathischen Einwand und wandte sich an den Hochfürsten. Sein linker Mundwinkel zuckte vor Übermut – für gewöhnlich kein gutes Zeichen.
„Eine Bedingung hätte ich dennoch. Selbst östlich des Sternregenmeers heißt es, dass man nirgends so gut feiern kann wie in Silbrigmond.“
„Nun, Ihr habt einiges dazu beigetragen, den Ruf Silbrigmonds diesbezüglich zu festigen“, bemerkte der Fürst unverbindlich.
„Meint Ihr, Ihr schafft es, in einem Zehntag ein Turnier auszurichten?“
„Ich schätze, das wäre möglich …“, setzte der Ritter verwundert an.
Faust wandte sich mit blitzenden Augen an Drizzt und hielt ihm seine Eisenhand hin.
„Was sagst du, Drizzt? Revanche für Oreme?“
Natürlich. Winter verdrehte die Augen.
Das also war der Grund für Fausts Imponiergehabe. Drizzt hatte ihn im Zweikampf besiegt – und war damit der letzte Held Faerûns, der unbesiegt gegen ihn stand. Vermutlich würde nichts seine Besessenheit heilen, ehe Drizzt Do’Urden blutspuckend vor ihm im Arenenstaub kniete. Und das gedachte er offenbar in aller Öffentlichkeit zu bewerkstelligen. Das war wohl auch das Bild, das Drizzt in diesem Moment in seinen Augen las. Der Drow hatte zu lange mit dem Misstrauen seiner Umwelt leben müssen, um sich irgendeine Gefühlregung anmerken zu lassen. Nur der Schatten eines Stirnrunzelns verriet, was er von Fausts Geltungssucht hielt. Plötzlich fragte sich Winter, ob Faust das beabsichtigt hatte? Vielleicht wollte er den Drow provozieren. Immerhin wusste jedes Kind, dass Drizzt am besten kämpfte, wenn er für etwas einstand. Und wo war der Reiz an einem Kampf ohne ein wenig grundsoliden Antagonismus?
„Einverstanden.“
Drizzt schlug ein und ein schiefes Diesmal-krieg-ich-dich-Grinsen machte sich auf Fausts Gesicht breit.
Erst auf dem Weg nach Hause bemerkte Winter, dass sie ebenfalls angefangen hatte zu grinsen. Verdammt, warum war Fausts Euphorie für waghalsige und halsbrecherische Aktionen so ansteckend?
Das Grinsen verging ihr jedoch, als Miu die Tür öffnete und sie die Gestalt am Küchentisch erkannte.
„Grim“, sagte sie überrumpelt.
Sie hatten nichts mehr von ihm gehört seit dem Vorfall in Mephistos Brutstube. Und wie dort drohten sein Anblick und die Schuldgefühle, die er in ihr heraufbeschwor, sie zu lähmen.
Als ihr Bruder sich erhob, wirkte er noch ein wenig grimmiger als sonst.
„Na, ist das Göttergespräch nicht zu deiner Zufriedenheit verlaufen?“, knurrte Faust bissig und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen.
Grimwardt brummte etwas wage Blasphemisches. Dann musterte er Winter mit zauderndem Argwohn – wie ein Käufer, der nicht sicher war, ob man ihn übers Ohr gehauen hatte.
„Hm, Drizzt Do’Urden also, wie? Was wollte der Knabe denn von euch?“
Sie erzählten es ihm.
„Schattengift, hm?“ Er nickte grummelnd in seinen Bart hinein. „Wann soll’s denn losgehen?“
Drake
Immermoor, am nächsten Tag zur Mittagsstunde
Leute, die nichts davon verstanden, sprachen oft von „Faerûns Unterwelt“. Das war natürlich eine maßlose Übertreibung. Es gab zahlreiche „Unterwelten“ und die meisten waren nicht größer als der Straßenzug, den irgendein selbsternannter „Gildenführer“ für sich beanspruchte, der lediglich das Glück besaß, einen Kopf größer zu sein als der Rest der Gossenratten seines Viertels. Selten gelang es einem „König der Diebe“ mehrere Gilden zu einen – und meistens endete seine Herrschaft eher früh als spät. Die Enklaven der Roten Magier von Thay – offiziell ein Handelsnetzwerk für magische Exporte aus dem Zulkirreich – waren da eine Ausnahme. Da nicht die Händler selbst, sondern das Land Thay Eigentümer der Enklaven war, war jeder Angriff auf eine Enklave ein Angriff auf das Zulkirreich. Die Protektion Thays bewahrte die Händler vor feindlichen Übernahmen. Das Resultat war ein hochorganisiertes Spionagenetzwerk, das die Verbindungen zu lokalen Informanten nutzte, um Faerûns Geheimnisse über magische Kommunikationswege nach Eltabbar weiterzuleiten.
Und nun gehören diese Geheimnisse mir, dachte Drake, während er sich geistesabwesend über den Handrücken fuhr. Dort, wo Szass Tam das arkane Mal in seine Haut gebrannt hatte, das ihn als Angehörigen des Roten Zirkels kennzeichnete, war eine sechszackige Narbe zurückgeblieben. Sein Preis dafür, dass er die Schicksalsstreiter mit Szass Tam an den Verhandlungstisch gebracht hatte. Dem ersten Test hatte das Spionagenetzwerk standgehalten. In weniger als einer Stunde hatte er alles über Tessarin Alrauruns Auftrag herausgefunden und Winter und ihre Gefährten im Immermoor aufgespürt. Andererseits war das bei deren Talent für subtile Vorgehensweisen auch kein Kunststück. Auch die Verfolgung war nicht gerade eine Herausforderung – er musste nur der Spur von Trollblut folgen, die die Gefährten auf der Suche nach dem verschwundenen Aufklärungstrupp hinter sich ließen. Selbst eine Horde tollwütiger Wildsäue war unauffälliger als …
Plötzlich lag Drake flach auf dem Boden, einen beißendem Schmerz im Rücken, und blickte in sein eigenes überraschtes Gesicht, reflektiert im kalten Stahl einer höllisch scharfen Säbelklinge. Eine zweite, lichthelle Klinge zitterte keine zwei Fingerbreit vor seiner Kehle.
„Ich gehöre zu denen“, ächzte Drake verdrießlich und ruckte den Kopf in Richtung der vier Gestalten, die hinter dem Drow aus dem Dickicht traten. Das war jetzt schon das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass er sich kalt erwischen ließ.
„Hab den Kerl nie gesehen“, meinte Faust, hielt Drizzt jedoch grinsend zurück, als er seinen Druck auf Drakes Kehle verstärkte.
Missmutig rappelte er sich auf.
„Warum verfolgst du uns?“, fragte Winter, ihre grünen Smaragdaugen zu Schlitzen verengt.
„Verfolgen? Ich bin Eure einzige Verbindung zu Eurem neuen Gönner“, log er und tippte sich gegen die Stirn. „Scheint so, als gehöre ich jetzt zum Klub. Danke übrigens fürs Warten.“
In Wahrheit war seine Geschäftsbeziehung zu Szass Tam mit der Unterzeichnung des Vertrags beendet. Um ehrlich zu sein, wusste er selbst nicht genau, warum er den Gefährten gefolgt war.
Mach dir nichts vor, du bist IHR gefolgt.
„Du warst mal wieder verschwunden, kaum dass wir unsere Namen unter das Papier gesetzt hatten“, erinnerte ihn Winter. „Außerdem wissen wir ja nicht mal, wo du wohnst.“
„Als ob der ein Zuhause hätte“, spottete Faust.
„Was weißt du denn schon.“
„Ich weiß, dass du lieber in der Gosse pennen würdest, als irgendwo, wo du unangemeldeten Besuch bekommen könntest. Deshalb wartet auch nie jemand auf dich.“
„Leck mich.“
Nach dieser herzlichen Begrüßung nahm Drizzt die Spur des verschwundenen Spähtrupps wieder auf. Es ging ein eisiger Wind. Die Kälte, die in den Boden drang, festigte den sumpfigen Untergrund und erleichterte ihnen das Fortkommen. Doch das nachgiebige Marschland schlief nur unter der winterstarren Oberfläche, sodass sich die Spuren der Männer, die sie verfolgten, wie Wegweiser in den Boden gegraben hatten. Vermutlich wären sie viel schneller vorangekommen, hätte Faust den Waldläufer nicht während der Arbeit mit einer Flut aufdringlicher Fragen und peinlicher Plappereien belagert. Drizzt wich ihm mit stoischer Höflichkeit aus und fuhr lediglich kurz zusammen, als Faust sich erkundigte, wie er denn damit klar käme, dass die Liebe seines Lebens während der Zauberpest ums Leben gekommen sei, er habe da so ein paar Theorien gehört … Drake hatte noch nie so viel Mitgefühl mit einem Kerl gehabt, dessen Klinge seine Kehle berührt hatte.
„Hat er sich schon zwei verschlungene D auf den Arsch tätowieren lassen?“, raunte er Winter zu, die Faust und Drizzt mit einer Mischung aus Belustigung und Befremdung beobachtete.
„An mangelndem Taktgefühl stehst du ihm jedenfalls in nichts nach“, erwiderte sie mit einem halb verhohlenen Grinsen.
„Apropos mangelndes Taktgefühl. Ich habe mich ein wenig über die drei Kerle informiert, die dir letztens in Silbrigmond einen so reizenden Besuch abgestattet haben.“
„Oh.“
„Wenn du nicht noch mal mit einer Tigerpranke im Genick aufwachen möchtest, solltest du was unternehmen.“
„Drake …“, setzte Winter unbehaglich an.
„Den Wertiger kannst du vernachlässigen, der steht unter der Kontrolle des Elfen. Der sollte dir eher Sorgen machen, denn er hat den Ruf über Leichen zu gehen, wenn er sich in etwas verbissen hat. Und was Richter Stock-im-Arsch angeht – den hast du jetzt für den Rest deines Lebens an der Backe. Du verarschst seinen Gott: Das ist so persönlich, wie es für ihn werden kann.“ Auch das waren Informationen, die er seinen neuen Verbindungen verdankte. „Dass sie dein Geheimnis kennen, macht sie gefährlicher, als du vielleicht ahnst. Stell dir vor, Richter Bleichauge fühlt sich durch irgendeine seiner Regeln daran gebunden, dem Hochfürsten von Silbrigmond von deiner neuen Diät zu erzählen. Vielleicht würde er ein paar Mal abgewiesen, aber irgendwer würde der Sache vielleicht nachgehen und dann würdest du eines Tages feststellen, dass dein Teleportationsschlüssel nicht mehr funktioniert. Als nächstes würde die politische Karriere deines Bruders den Bach runtergehen. Und wie würden wohl die Sandkämpfer darauf reagieren, dass eine ihrer Anführerinnen die Tochter einer ‚Schattenhexe‘ ist?“
„Glaubst du, ich wüsste das alles nicht!“
Winters Gereiztheit konnte nicht ihre Beunruhigung verbergen.
„Entweder du weißt es nicht oder du handelst nicht danach“, erwiderte er. „Beides zeugt nicht gerade von Weitsicht. Von wie vielen Feinden wollt ihr euch noch in den Arsch treten lassen, bevor ihr zurücktretet?“
„Was soll ich denn deiner Meinung nach … Oh, verzeih, mir ist schon klar, was ich deiner Meinung nach tun sollte“, schnaubte sie verdrießlich, drosselte aber eilig ihre Lautstärke, als Faust zu ihnen herübersah. „Aber ich kann Elijas und Hades nicht einfach verschwinden lassen“, fuhr sie im Flüsterton fort. „Grim hasst mich auch so schon. Und Faust würde mir das niemals verzeihen. Er …“
„… steht auf flinke kleine Elfen, schon klar.“ Drake seufzte lakonisch. „Schön, also keine einfache, saubere Lösung. War ja nur ein Angebot, ist schließlich dein Arsch.“
„Ich könnte ihre Erinnerung löschen.“
Drake schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Winter dazu im Stande wäre, aber Magie hatte ihre Grenzen.
„Dazu sind sie die beiden zu bekannt – schwer, lange zu vergessen, wer man ist, wenn eine ganze Stadt es weiß.“
„Ich würde sie nur bis zu dem Punkt löschen, wo ich ins Spiel komme.“
„Sie geraten zu häufig in magietote Zonen. Ein blinder Fleck im Gewebe und alles ist wieder da.“
Winter zögerte einen Moment, ehe sie erwiderte: „Antimagie unterdrückt nur für eine kurze Zeit das magische Gewebe. Und das magische Gewebe ist bloß so eine Art künstliche Barriere, mit der die Götter die Magie regulieren. Aber es gibt Magie, die diese Barriere überwinden kann …“
„Ist das der Grund für diese Seelenvampir-Geschichte?“
„Nein … teilweise. Sagen wir, ich habe den Grundstein gelegt. Szass Tam hat mir Lehrmittel zur Fortbildung zur Verfügung gestellt.“
„Lehrmittel zur Fortbildung?“ Drake hob spöttisch eine Augenbraue.
Mit einem reizenden Lächeln, in dem eine subtile Drohung mitschwang, erklärte Winter: „Ich glaube, der nächste, der versucht, mich an einen Altar zu binden und mir meine Seelen zu rauben, wird als sabbernder Irrer enden – ob mit Antimagie oder ohne.“
Drake hätte sie am liebsten geküsst. Zugleich fand er den Gedanken, dass es irgendwann kein Mittel mehr geben könnte, Winter davor zu bewahren, willkürlich in fremde Gedanken einzudringen, nicht sehr erbaulich. Vielleicht sollte er sich doch besser an den Plan halten, egal wessen Plan es war und wie übel er ihm aufstieß – bevor er sich zu sehr in diese Sache verrannte …
Faust
Wenige Stunden später.
Es musste ein blutiger Kampf gewesen sein. Im Umkreis von einigen Metern war weiß gefrorenes Moos in den Boden gestampft worden. Rotbraune Blutkrusten hier und dort bildeten ein trauriges Mosaik. Drizzt fuhr mit dem Finger über ein blutiges Farnblatt und leckte daran. Dann sprach er eine magische Formel und seine Augen füllten sich für einen Moment mit Nebel. Als sich sein Blick klärte, senkte er bedauernd den Kopf und berührte in stiller Trauer das Mielikki-Amulett, das er um den Hals trug.
„Sie sind tot“, sagte er leise.
„Das waren keine Umbranten“, stellte Faust fest. Es sah nicht so aus, als wäre der Trupp einem magischen Angriff zum Opfer gefallen. Das hier wirkte eher wie ein grundsolides, blutiges Gemetzel.
Drizzt nickte bestätigend und deutete auf einen der Abdrücke im Boden – wer immer ihn hinterlassen hatte, musste größer und schwerer gewesen sein als ein Umbrant, denn er hatte eine viel deutlichere Spur hinterlassen als die kleineren Abdrücke der Menschen.
„Frostriesen“, sagte der Drow.
„So weit im Süden?“
„Im Winter ziehen die Stämme vom Grat der Welt häufig ins Moor, um Trolle zu jagen.“ Während er sprach, folgte Drizzt den Spuren der Riesen in Richtung Norden. „Trotzdem hätte das hier nicht geschehen dürfen. Es gibt einen Friedenspakt zwischen den Städten des Nordens und den Frostriesenstämmen unter Gerti Orelsdottr. Das hindert sie nicht, Unvorsichtige anzugreifen, die in ihr Gebiet vordringen, aber Galen und seine Männer trugen Abzeichen – sie waren in offizieller Mission unterwegs; das hätten die Riesen anerkennen müssen. Entweder es waren Renegaten, die sich der Jarlstochter widersetzen, oder...“
„Oder die Schattenmagier haben den Frostriesen ein besseres Angebot gemacht“, sagte Faust.
Sie waren am Fuß eines Abhangs angekommen. Drizzt schob einige Zweige beiseite und enthüllte einen Höhleneingang. Faust folgte dem Drow ins Innere und als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er die Leichen der fünf getöteten Männer, kreisförmig angeordnet, wie für ein Ritual. Fremdartige Schriftzeichen prangten auf ihren Stirnen und an den Wänden.
„Nicht berühren!“, warnte Winter. „Das sind magische Runen.“
„Frostriesenmagie“, brummte Grimwardt und kniff die Augen zusammen, um die Runen genauer in Augenschein zu nehmen. „Es sind religiöse Symbole, die Unheil fernhalten sollen. Das hier hat nichts mit den Umbranten zu tun, Faust, diese Männer wurden der Sturmmaid geopfert.“
„Nie gehört“, murmelte Faust.
„Eine Frostriesengöttin“, erklärte Drizzt. „Gerti Orelsdottr stammt von einer Blutlinie ab, die der Legende nach auf einen Titan zurückgeht, der wiederum ein Sohn der Sturmmaid gewesen sein soll. Was auch immer an dieser Geschichte dran sein mag – ihr Vater Orel Jansson war der erste Jarl, dem es gelang, die Stämme vom Grat der Welt zu einen.“
Titanen.
Faust hätte nicht gedacht, ausgerechnet hier auf Spuren von Titanen zu stoßen, nachdem er jahrelang vergeblich nach ihnen gesucht hatte. Er hatte in den letzten fünf Jahren viel Zeit in Bibliotheken verbracht. Zum einen hatte er versucht, etwas über das Wesen der Zeit herauszufinden, um die Geheimnisse des Zeitmals zu ergründen, das der alte Sarrukh ihm zum Geschenk gemacht hatte. Zum anderen galt sein Interesse den Göttern. Wer waren sie und was verlieh ihnen die Macht, die sie für sich beanspruchten? Natürlich kannte jedes Kind die Entstehungsgeschichte der Welt: Am Anfang schuf Ao das Universum, ein riesiges Nichts. Aus diesem formten sich Licht und Schatten: die Schwestern Selune und Shar. Die Zwillingsschwestern wiederum schufen Chauntea, die Verkörperung Torils. Chauntea bat um Wärme, damit auf ihr Leben entstehen könne. Selune war dafür, Shar dagegen. Die beiden kämpften gegeneinander und so entstanden die Götter der Magie, des Krieges, des Todes und der Krankheiten. Selune obsiegte und mit dem Gott der Sonne entstand das erste Leben auf Toril. So der Mythos. Die wenigsten menschlichen Gelehrten stellten diese Geschichte in Frage, doch sah man über den Tellerrand Faerûns hinweg, fand man andere Sichtweisen. Die Elfen etwa verehrten ihre Götter nicht als die Schöpfer der Welt, sondern als Helden, die ihre wahre Bestimmung gefunden hatten. Und Faerûns Schwesterebene Kara-Tur kam ganz ohne Götter aus: Die Seelen der Karaturianer verließen die materielle Welt nach dem Tod nicht, sondern lebten als Ahnengeister fort – ein Kreislauf, der sich selbst regulierte, ohne höhere Mächte. Wer die Götter Faerûns auch waren, ob die Schöpfer der Welt oder einfach nur sehr mächtige Unsterbliche, Faust glaubte nicht an ihre Unantastbarkeit. Mephisto hatte bereits bewiesen, dass Göttlichkeit übertragbar war. War sie auch revidierbar? Die einzigen, von denen es hieß, dass sie imstande waren, einen Gott „mit der Krankheit der Sterblichkeit anzustecken“ und zu töten, waren die Titanen. Kaum etwas war bekannt über diese mysteriösen Kreaturen. Es hieß, dass sie einst einen grausamen Krieg gegen die Götter angezettelt und dafür vom Pantheon in den Abgrund verbannt worden waren. Viele Gelehrte sahen in ihnen darum eine mächtige Art von Dämonen. Andere behaupteten, sie seien die verbotenen Kinder von Göttern und Sterblichen. In jedem Fall waren sie eines der bestgehüteten Geheimnisse des Pantheons. Allein das machte sie für Faust interessant. Leider schien es kein Herankommen an sie zu geben, seit Asmodeus den Abgrund an den Grund der Dimensionen gebannt hatte. Aber vielleicht waren ja nicht alle Titanen dem Bann der Götter zum Opfer gefallen …
„Schätze, wir sollten dieser Gerti Orelsdottr mal einen Besuch abstatten“, bemerkte er mit einem Schmunzeln.
Grimwardt
Gratsgebirge, kurz darauf.
Der Schneesturm war so dicht, dass Grimwardt Miu, die vor ihm ging, nicht einmal mehr als Schemen erkennen konnte. Winter hatte die Frostriesen, die Tessarins Leute getötet hatten, mithilfe eines Haars aufgespürt, das sie in der Nähe der Höhle aufgelesen hatte. Dann waren sie ins Gebirge teleportiert.
„Sie müssen hier irgendwo sein“, brüllte Winter gegen das Schneetreiben an.
Ein Hagelkorn von der Größe einer Faust traf Grimwardt hart an der Stirn.
Das reicht, dachte der Priester gereizt, griff nach seinem Tempusamulett und befahl dem Schneesturm zur Ruhe zu kommen. Er hatte ein Aufbäumen der Elemente des Wassers und der Luft erwartet, doch stattdessen stieß er auf den Geist eines fremden Zauberwirkers, geschützt von der Macht der Sturmmaid. Grimwardt lächelte grimmig.
„Gerti sendet ihre Grüße“, ließ er die anderen wissen.
Zorn schlug ihm entgegen, als seine Rivalin um die Beherrschung des Wetters kämpfte: Ihr wütendes Aufbäumen brandete auf ihn zu wie eine Schneelawine, doch Grimwardt hielt ihm mühelos stand. Der Sturm legte sich wie weggeblasen und gab den Blick auf ihre Umgebung frei.
Sie standen in einem Tal. In nördlicher Richtung zeichneten sich die schneeverwitterten Umrisse hallenartiger Bauten ab. Grimwardts Aufmerksamkeit galt jedoch vielmehr dem Purzelbäume schlagenden Felsen, die schneefressend den Berg hinab wirbelte, dicht gefolgt von einem zweiten und dritten Geschoss. Während seine Gefährten den Schneelawinen mit Flugzaubern entkamen oder zur Seite auswischen, stemmte Grimwardt lediglich die Beine fester in den Schnee und ließ die Gebilde auf sich zupreschen. Donnernd umschloss ihn das kalte Nass, doch Tempus‘ Segen hielt allen Schaden von ihm fern und der Felsen zerstob wie Sand an seinem Plattenpanzer. Der Priester schüttelte sich einmal wie ein nasser Hund, das heilige Feuer, das seine Rüstung umgab, schmolz den Schnee zu Nichts und er wirbelte mit gezückter Axt herum.
Fünf erschlagene Frostriesen und zwei jaulende Winterwölfe lagen im Kreis um ihn herum. Drizzt erhob sich und steckte die Säbel weg.
„Angeber“, murmelte Drake, der gerade mal einen seiner beiden Dolche hatte zücken können, während der Drow die Felsenwerfer im Alleingang erledigt hatte.
Faust sagte nichts, biss sich aber grübelnd auf die Lippen.
Grimwardt schlug ihm grinsend auf die Schulter und raunte ihm zu: „Gratuliere, wenn du es schaffst, dein Schwert zu ziehen, bevor er dich zu Hackfleisch verarbeitet.“
„Hm-m.“
Derweil hatte sich Drizzt, der sich wenig darum zu scheren schien, wie sein Solomanöver bei den anderen ankam, neben einen der Frostriesen gekniet, um ihm die Waffen abzunehmen und seine Wunden abzubinden. Keiner seiner Stiche schien tödlich gewesen zu sein.
„Helft mir“, bat er Grim. „Der Friede zwischen Silbrigmond und den Frostriesen steht auf sehr wackligen Beinen. Ich will nicht noch mehr Sand in diese Wunde streuen.“
„Es sieht nicht so aus, als hätte Gerti Orelsdottr ähnliche Bedenken“, brummte Grimwardt mit einem Blick auf die dornenbesetzten Keulen der Angreifer. Dennoch sprach er ein schwaches Heilgebet für die Verwundeten.
Dem ersten Frostriesen, der sich regte, setzte Faust einen Fuß auf die Brust und sein Schwert daneben.
„Führst du uns freiwillig zur Jarlstochter oder müssen wir unsere Suche mit der Klinge fortsetzen?“
„Wer bist du, Menschling?“, knurrte der Wächter mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Ein Freund der fünf Männer, die ihr eurer Sturmgöttin geopfert habt.“
„Keine Ahnung, wovon du sprichst“, grunzte der Riese.
„Gerti wird es wissen.“
Der Wächter gab mit einem widerwilligen Nicken zu verstehen, dass er sie zu ihr führen würde. Schnaubend erhob er sich und blieb mit geballten Fäusten so dicht vor Faust stehen, als wolle er ihn mit einem gewaltigen Hieb seiner tellergroßen Pranke in den Boden stampfen. Stattdessen fuhr er sich nur einmal schnaubend mit dem Oberarm übers Gesicht und spuckte dann vor Faust aus. Grimwardt schrieb sein rotziges Gebaren der verletzten Würde eines schlechten Verlierers zu. Erst als er bemerkte, dass den anderen Wächtern, die ihnen auf dem Weg durchs Lager folgten, bei Fausts Anblick ebenfalls vor Zorn die Nüstern bebten, sah er ein wenig genauer hin. Ihm fiel auf, dass Faust eine neue Lederrüstung trug. War das etwa …?
- Riesenleder, Faust? Ernsthaft?!
- Sturmriese … Konnte ja nicht ahnen, dass wir hier auf Verwandten meiner verdammten Rüstung treffen würden, oder?
Für seine Faust-in-die-Fresse-Haltung belegte Grimwardt den Gefährten im Stillen mit einem Schwall derber Flüche, die Tempus stolz gemacht hätten.
Inzwischen waren sie an der Jarlshalle angelangt – ein haushohes Zelt, das sich von den umstehenden Behausungen lediglich durch einige kostbare Yetifelle unterschied, die die Öffnung zierten.
„Waffen!“, blökte ihn einer der beiden Krieger an, die vor der Halle Wache standen. Statt mit dornenbesetzten Keulen waren diese beiden mit Schwertern und Plattenpanzern gerüstet. Ihre dichten weißen Bärte trugen sie zu drei Zöpfen geteilt, die ihnen bis auf die Knie reichten. Ein alter Kinderreim kam Grimwardt in den Sinn: Wenn im Walde einen Ries‘ ihr seht, so rennt so schnell wie lang sein Bart ihm weht. Er bezweifelte, dass sie mit diesen beiden so leichtes Spiel haben würden wie Drizzt mit den Felsenwerfern. Widerwillig gab er also seine Axt ab und warf Faust einen warnenden Blick zu, jetzt bloß keinen Streit vom Zaun zu brechen. Sie würden diese Audienz ohnehin schon auf dem falschen Fuß beginnen.
„Ich rede“, raunte er Faust schnöde im Vorbeigehen zu, während er durch die Zeltöffnung trat.
Flankiert von zwei weiteren Elitekriegern thronte Gerti Orelsdottr hochaufgerichtet auf dem Hochsessel des Jarls. Reine Machtdemonstration, erkannte Grimwardt: Für einen Riesen war die Clanführerin nicht sonderlich groß. Ohne den Jarlssitz hätte sie Faust, der fast zwei Meter maß, gerade einmal um einen Kopf überragt. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie durch den durchdringenden Blick ihrer eisblauen Augen wett. Und da sie nicht mit einem Bart dienen konnte, trug sie ihr bläulich schimmerndes Haupthaar nach Kriegermanier zu drei Zöpfen geflochten, die ihr bis auf die Füße fielen. Mit einem einzigen, kurzen Blick traf sie ein schnelles Urteil über jeden der Anwesenden. Als Grimwardt an der Reihe war, las er zunächst einen Hauch von Respekt in ihren Eisaugen, doch Zorn und Verachtung gewannen die Oberhand.
„Der Gratspakt zeichnet diesen Teil des Gebirges als kjempeland aus.“ Gerti trommelte mit allen zehn Fingern angriffslustig gegen die Stuhllehnen. „Ihr seid nichts weiter als Freiwild in meinem Land. Also warum, glaubt Ihr, sollte ich Euch zuhören, statt Euch den Zorn der Sturmmaid spüren zu lassen, nachdem Ihr meine Späher niedergeschlagen habt?“
„Der Gratspakt besagt auch, dass es Euch nicht gestattet ist, Gesandte der Silbermarken im Immermoor anzugreifen“, entgegnete Grimwardt ruhig. „Die fünf Männer, die dort in jener Höhle als Opfergaben für Eure Göttin aufgereiht liegen, beweisen, dass Ihr zuerst gegen den Pakt verstoßen habt.“
„Opfergaben!“, höhnte die Clanführerin. „Nichts begreift Ihr! Menschlinge waren es, die das Monster unter dem Immermoor aufgeweckt haben! Nun vergiftet es die Sümpfe. Die Trolle fressen das Gift und wir essen die Trolle und krepieren daran! Die Menschlinge auf der Schwelle zum Unterreich sind ein Friedensangebot in Aurils Namen, um das Sumpfmonster zu besänftigen.“
„Dieses Sumpfmonster scheint euch ja mächtig Angst zu machen, hm?“, bemerkte Faust spöttisch – und ernte dafür einen strafenden Blick von Grimwardt.
„Das Immermoor ist das Monster!“, blaffte Gerti ihn an. „Die Sümpfe sind nur Fell und Narben und Furunkel auf der Haut des Immermonsters. Niemand kann es bekämpfen, ohne das Moor selbst zu zerstören!“
„Ich habe von diesem Wesen gehört – vor langer Zeit“, meldete sich Drizzt zögernd zu Wort: „Eigentlich war es mehr die Theorie eines Magiers, den die meisten in Menzoberranzan für verrückt hielten. Es kam immer wieder vor, dass Spähtrupps in dem Bereich des Unterreichs, der genau unter dem Immermoor liegt, tagelang verschollen blieben. Das Areal ist unter den Bewohnern des Unterreichs als das Labyrinth von Araumtcos bekannt. Der Magier behauptete, dieses Labyrinth sei ein riesiges Wesen, das so groß und formlos sei, dass man tagelang durch seine Eingeweide wandern könne.“
„Hm“, machte Grimwardt. „Wie sahen die Menschen denn aus, die den Zorn des Monsters geweckt haben?“
„Verschlagene Kreaturen, die mit den Schatten liefen“, erwiderte die Frostriesin. „Stets in Dunkelheit gekleidet.“
„Umbranten“, sagte der Kriegspriester. „Das waren keine Menschen, sondern Umbranten.“
„Schattenmenschen, weiße Menschen, grüne Menschen, was macht das für einen Unterschied?“, brummte die Jarlstochter. „Ihr taugt doch alle bloß als Beilage.“
Grimwardt ignorierte die verächtliche Bemerkung: „Wie lange ist das nun her?“
„Einen Sonnenzyklus vielleicht?“, mutmaßte die Frostriesin. „Ein oder zwei von ihnen sind auf unserem Speisetisch gelandet. Wir lauerten ihnen vor der Höhle auf. Vor einem Mond erfuhren wir von Trollsklaven, dass ein neuer Trupp von Schattenmenschen angekommen war. Wir sandten auch dieses Mal einen Trupp, um ihnen aufzulauern, doch sie kamen nicht wieder aus der Höhle heraus.“
„Was würdet Ihr uns denn dafür bieten, wenn wir uns für Euch um die Umbranten kümmern würden?“, erkundigte sich Faust.
Gerti Orelsdottr lachte verblüfft auf.
„Ihr glaubt allen Ernstes, ich werde zulassen, dass Ihr ins Unterreich zieht, um das Monster noch ärger aufzustacheln?!“
„Solange die Umbranten dort unten sind, wird es nicht zur Ruhe kommen, das habt Ihr doch selbst schon erkannt.“
„Wollt Ihr sagen, unser Opfer war umsonst?“, knurrte die Frostriesin und griff reflexartig nach ihrem Morgenstern, der am Fuße des Jarlssitz ruhte.
„Wie“, höhnte Faust. „Erst nehmt Ihr uns unsere Waffen ab und dann nutzt Ihr solch einen scheinheiligen Vorwand, um uns unbewaffnet anzugreifen? Das verdorbene Trollfleisch scheint Euch nicht nur die Mägen vergiftet zu haben!“
Gerti schleuderte Eisdolche aus ihren Augenschlitzen. Grimwardt stieß ein ernüchtertes Seufzen aus. So viel zu seinem Versuch, die Sache auf diplomatischem Wege zu lösen.
„Selbst Maden haben das Recht, sich zu verteidigen“, brachte Gerti knirschend hervor. „Hakon! Jorn! Gebt unseren ‚Gästen‘ ihre Waffen zurück! Die kleine Made, die sich in die Haut unserer Vetter hüllt, gehört mir!“
Faust
„Ja, gebt Klein-Drake sein Messer zurück.“ Den Seitenhieb konnte sich Faust in Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf einfach nicht verkneifen.
„Pass auf, dass Klein-Drakes Messer nicht die Seiten wechselt“, kam es grantig zurück.
Drake und Grimwardt nahmen sich je einen der Krieger an Gertis Seite vor, während sich Drizzt den beiden Frostriesen am Eingang zuwandte. Die Clanführerin griff in einer fließenden Bewegung nach ihrer Waffe und berührte eine heilige Rune an ihrem Thron, die sie in eine tosende Sturmaura hüllte. Brüllend sprang sie auf Faust zu. Kurz bevor sie ihn erreichte, nutzte er Winters eilig gewirkte Zeitstarre aus, um sich üppig mit Kampf- und Schutzzaubern einzudecken. Nun kam auch endlich der Vorteil seiner neuen Riesenlederrüstung zum Tragen: Gerti war nicht schlecht erstaunt, als ihr Gegner sie mit einem Mal um eine ganze Zwergenlänge überragte. Faust schmetterte ihren Schlag ab und überzog sie mit einer chaotischen Hiebserie, doch sie erwiderte wacker jeden Schlag mit einem Gegenangriff. Während des Kampfes schielte Faust immer wieder zu Drizzt hinüber. Für gewöhnlich bestand seine Taktik darin, den Gegner gleich zu Anfang in einen leidenschaftlichen Klingentanz zu verwickeln, der ihm keine Chance zu ripostieren ließ: Faust hatte am eigenen Leib erfahren, dass Drizzt für gewöhnlich überall war, nur nicht am Ende seiner Klinge. Doch die Enge der Jarlshalle und die Größe seiner Gegner machten es dem Drow schwer, den Hieben seiner Gegner auszuweichen. Am Ende war es nicht Drizzt, sondern Winter, die die beiden Frostriesen aus dem Hinterhalt mit einer Verdorren-Welle ausschaltete, die sie nicht hatten kommen sehen. Faust fragte sich, ob er sich diesen kleinen Schwachpunkt des Dunkelelfen wohl zunutze machen konnte. Dummerweise würde die Arena Drizzt mehr Platz als genug bieten, um ihn, wie bereits das letzte Mal, durch schiere Gewandtheit zu …
Zu spät sah Faust durch den Wirbelsturm, der Gerti umtoste, ihren Morgenstern auf sich zukommen. Das höllisch schmerzhafte Splittern seiner Schulterknochen ermahnte ihn, Gerti den gebührenden Respekt zu erweisen. Statt auf Drizzt konzentrierte er sich wieder ganz auf seine Klinge. Dennoch schwitzte er schon bald Blut und Wasser. Erst als Grimwardt, der seinen Gegner bereits besiegt hatte, ihm zur Seite sprang und sie Gerti Orelsdottr mit vereinten Kräften attackierten, gewannen sie die Oberhand. Trotzdem rappelte sich die Clanführerin noch zweimal mit einem zornigen Knurren wieder auf, ehe der Wirbelsturm endgültig verebbte und sie im Innern des ersterbenden Sturmtrichters zusammenbrach.
Zähes Mädchen!, dachte Faust anerkennend.
Während er ächzend die Hände auf die Knie stützte, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Es war Drake, der in Geistergestalt aus der Zeltwand neben ihm tauchte. Für einen Moment glaubte Faust, der kleine Dreckskerl wolle seine Drohung wahrmachen und ihn aus dem Hinterhalt angreifen, doch sein Angriff galt dem letzten Frostriesenkämpfer. Doch auch der Riese hatte Drake entdeckt und wich schnell genug aus, sodass Drakes Angriff knapp sein Herz verfehlte. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Faust, dass der Gegenangriff des rasenden Barbaren Drake das Leben kosten könnte. Geistesgegenwärtig sprang er vor und sein Diamantenschlag-Manöver brachte den überrumpelten Gegner zu Fall. Sein Einsatz überraschte ihn selbst nicht weniger als Drake. Dessen kurzes, schmallippiges Nicken in Fausts Richtung war zwar weniger eine Dankesbekundung als eine Kenntnisnahme, doch er ahnte ja nicht, welches Geschenk er Faust gerade gemacht hatte! Faust grinste wie ein Honigkuchenpferd, als sich vor seinem geistigen Auge eine Taktik abzeichnete, mit der es ihm vielleicht möglich sein würde, Drizzt in der Arena zu besiegen!
„Gerti Orelsdottr darf nicht sterben!“, holte ihn Drizzt, der an ihm vorbeistürzte und sich besorgt über die bewusstlose Clanführerin beugte, in die Gegenwart zurück. „Ohne sie würden die Clans im Streit versinken und der Friedenspakt zwischen Silbrigmond und den Frostriesen wäre ein für allemal zunichte.“
Miu und Grimwardt taten, was sie konnten, um die Jarlstochter und ihre Leibwächter zu retten. Drakes Gegner und einer der Frostriesen, die Winters Zauberhinterhalt zum Opfer gefallen waren, waren längst auf dem Weg in die Stadt der Seelen oder wohin auch immer es ihr Volk nach dem Tod verschlug. Doch Gerti hatte nichts abbekommen, was ein ordentlicher Heilzauber nicht wieder richten konnte – dafür hatte Faust gesorgt, denn es gab schließlich noch etwas, das er von ihr erfahren wollte, nun, da er seine Verhandlungsposition verbessert hatte. Nachdem er die Clansführerin entwaffnet hatte, hievte er sie zurück auf den Jarlssitz, um ihr ein Stück ihrer angeschlagenen Kämpferwürde zurückzugeben.
Mit einem Ruck kam sie zu sich und ihre eisblauen Winteraugen waren sofort hellwach.
„Wieso bin ich noch am Leben?“, brummte sie.
„Weil ich schon eine Rüstung habe?“, bot Faust an.
Er meinte den Hauch eines Schmunzelns in ihren Augen zu lesen. Ein gutes Zeichen. Vielleicht war ihre anfängliche Arroganz nur Schau gewesen. Eine Inszenierung, die nicht den Gefährten, sondern ihren Vertrauten galt, die beim ersten Anzeichen von Schwäche ihre Autorität in Frage stellen würden. Nun, da ihre vier besten Männer – und ihre gefährlichsten Gegner – tot oder bewusstlos waren, konnte sie es wagen, ihnen einen Blick hinter die Maske zu gewähren.
„Nun habt Ihr ja die Belohnung, die Ihr gefordert habt“, bemerkte sie mit einem Blick auf die Beute, die sie den Frostriesenwächtern abgenommen hatten. Nur Gertis Morgenstern, zweifellos ein Familienerbstück, hatten sie nicht angetastet. „Also macht, dass Ihr verschwindet!“
Interessant, dachte Faust. Indirekt ließ sie sie damit wissen, dass sie ihr Vorhaben, dem Treiben der Umbranten im Unterreich nachzugehen, guthieß. Für eine Frostriesin zeigte sie erstaunliches diplomatisches Geschick.
„Ich hätte da noch eine Frage“, sagte Faust. „Nur so aus Neugier: Stimmt es, dass Titanenblut durch Eure Adern fließt?“
Gerti sezierte ihn lange und ausgiebig mit ihren Winteraugen. Herausfordernd lehnte sie sich schließlich vor: „Vielleicht erzähle ich es Euch, wenn Ihr die Nacht mit mir verbringt.“
Es klang wie eine Duellforderung.
„Oh“, sagte Faust überrumpelt.
„Natürlich nur in großer Gestalt“, fügte sie hinzu.
„Na gut … Euer Angebot ehrt mich, also, wenn Ihr wollt ...“ Dann fiel ihm ein, dass der Vergrößerungseffekt seiner Rüstung nicht sonderlich lang anhielt. „Das heißt … Wie ausführlich soll das Ganze denn werden?“
Gerti zog belustigt eine Augenbraue hoch, Drake prustete los, Grimwardt verbarg stöhnend den Kopf in den Händen, Drizzt und Miu sahen aus, als wären sie am liebsten im Boden versunken, und Winter … Bei Winters Anblick fühlte sich Faust an eine Viper erinnert, die kurz vor dem Giftbiss in völliger Reglosigkeit verharrte.
Faust schluckte.
„Äh, Winter, du könntest mir hier nicht zufällig aushelfen? Ich meine, du hast doch sicher Zauber, die … äh …“
„Die was, Faust?“ Ihr Was hätte Glas zerspringen lassen können.
„Die sein Größenproblem beheben“, grinste Drake und Faust bereute augenblicklich seine Rettungsaktion.
„Mit Verlaub, aber mir will sich der Sinn hier nicht so ganz erschließen“, erklärte Winter, jedes Wort so pointiert wie ein Rapierhieb. „Was genau ist denn so wichtig an dieser Geschichte, dass du so darauf brennst, sie zu hören?“
Faust spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Oh Mann, wie komme ich aus der Nummer wieder raus?
„Ach, ist nicht so wichtig“, gab er klein bei. An Gerti gewandt fügte er hinzu: „Vielleicht bin ich ja mal bei Gelegenheit in der Gegend …“
Die Clanführerin stieß ein verächtliches Schnauben aus.
„Und vielleicht habe ich bei Gelegenheit was Besseres zu tun“, blaffte sie ihn an. „Na los, macht, dass Ihr verschwindet! Alle miteinander!“
Faust hatte sich selten so klein gefühlt – und das lag nicht allein daran, dass der Größeneffekt seiner Rüstung gerade im unpassendsten aller Momente nachließ …