Kapitel IV: Eileanar
Grimwardt
Araumtcos, zwei Tage später.
Die Höhle, in der die Frostriesen ihr blutiges Geschenk an das Moormonster inszeniert hatten, führte tief ins Unterreich. Auf der anderen Seite der unsichtbaren Schwelle zwischen Ober- und Unterwelt erwartete sie ein wunderliches Labyrinth aus Pilzlandschaften – manche Pilzgewächse bildeten komplexe Höhlensysteme, andere wuchsen in Schichten übereinander wie hängende Gärten und wieder andere schufen gangartige Schläuche, durch die wie durch das Adergeflecht eines komplizierten Organismus klebrige Flüssigkeiten rannen. Falls sie sich tatsächlich im Innern eines monströsen Pilzwesens befanden, schien die Anwesenheit der sechs Eindringlinge die Kreatur nicht zu stören. Nur manchmal kam es vor, dass sich – vielleicht durch Muskelbewegungen des riesigen Organismus – die Wände auf die Gefährten zubewegten und sie sich den Weg freihacken mussten, um nicht eingeschlossen zu werden. Wenn das geschah, sonderten die Wände dasselbe giftige Sekret ab, das durch die „Aderläufe“ der Kreatur floss: Araumtcos blutete. Sein Blut war es, das den Menschen in Nesmé, die aus den verseuchten Quellen getrunken hatten, das Leben gekostet haben musste. Doch wie gelangte sein Blut an die Oberfläche? Und warum hatten die Umbranten das veranlasst? Je weiter sie in das Labyrinth vordrangen, desto dichter wurde das Pilzgeflecht und desto häufiger wurden die Muskelkontraktionen. Drizzt glaubte, dass dies ein Zeichen dafür sein musste, dass Araumtcos Schmerzen litt. Selbst dem Drow war es nahezu unmöglich, in dieser sonderbaren Welt seinen untrüglichen Richtungssinn zu bewahren.
Als die Pilzformationen schließlich am zweiten Tag ihrer Wanderung eine kränklich gräuliche Färbung annahmen, wussten die Gefährten, dass sie auf der richtigen Spur waren. Schon kurz darauf endete der Höhlengang in einer Sackgasse. Wieder einmal schlugen sie sich durch nachgiebige Pilzschichten – doch schon nach wenigen Axthieben traf Ambrosia auf Widerstand. Eine unsichtbare Barriere in Form einer magischen Energiewand versperrte den Weg und gebot den Pilzwucherungen Einhalt.
Grimwardt stutzte den Pilz soweit zurecht, um erkennen zu können, was sich auf der anderen Seite der Energiewand befand, doch er erspähte nur wage einen dunklen Hohlraum sowie einige gebäudeartige Strukturen. Als Auserwählter des Tempus konnte er auch in völliger Dunkelheit sehen, allerdings nicht sehr weit. Dasselbe galt für Winter, deren körperliche Veränderungen ihr hier unten zugutekamen, und Drake, dessen Glasauge kaum etwas verborgen blieb. So blieben nur Faust und Miu, die auf eine Lichtquelle angewiesen waren.
Da sie die Wand nicht bannen konnte, ohne den Pilz zu befreien, der umgehend alles überwuchert hätte, was die Netherarkanisten hier unten verbargen, teleportierte Winter die Gefährten hinter die Wand.
Vor ihnen lag eine zerklüftete Ruinenlandschaft. Der Hohlraum selbst war kaum höher als ein Haus, dafür aber so weitläufig, dass er ein kleines Stadtviertel hätte beherbergen können, und von ihm gingen zahlreiche Wege ab. Der einstige Zweck der Gebäude war in den meisten Fällen nicht mehr erkennbar – mehr als loses Geröll war von ihnen nicht übrig geblieben. Nur von einigen wenigen waren einzelne Gemäuer und labyrinthartige Kellerstrukturen erhalten geblieben. Offenbar waren die Umbranten in den Tiefen des Unterreichs auf die Ruinen einer alten Netherenklave gestoßen. Wachen gab es nicht – scheinbar wähnten sich die Forscher hier unten vor ungebetenen Gästen sicher.
Grimwardt bat Drizzt, der sich im Unterreich von ihnen allen am unauffälligsten zu bewegen wusste, die Lage auszukundschaften. Die anderen schlenderten durch das Ruinenfeld.
„Die Stadt muss bei ihrem Fall vor Hunderten von Jahren im Sumpf versunken und zu einem Teil von Araumtcos geworden sein“, staunte Faust, der leicht zu begeistern war, wenn es um geschichtlichen Humbug ging. „Die Umbranten haben ihm praktisch ein Loch in die Eingeweide gebrannt und jetzt weicht der Pilz an die Oberfläche aus. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, was sie da angerichtet haben.“
„Wie ernüchternd“, brummte Grimwardt, während sein Blick mit mäßigem Interesse ein halb verblichenes Wandbild streifte. „All die Aufregung für einen Haufen alter Steine.“
Er musste sich eingestehen, dass er ein wenig enttäuscht war. Statt auf finstere Mysterien, die ihm einen Grund hätten liefern können, gegen Netheril in den Krieg zu ziehen, schienen sie lediglich auf den Irrsinn eines fanatischen Forschers gestoßen zu sein.
Dann blieb er abrupt stehen.
„Oha“, zwinkerte Faust. „Der Kerl auf diesem ‚Haufen alter Steine‘ hat erstaunliche Ähnlichkeit mit Tempus, hm?“
Das Wandbild zeigte den Feindhammer mit wehendem schwarzem Bart im Kampf gegen eine monströse Kreatur, die einen Krummsäbel in jeder ihrer sechs Arme schwang.
„Das ist Tempus im Kampf gegen Targus.“ Grimwardts Blick flog über die Darstellung. Targus war ein altnetherischer Aspekt Garagos‘, des einstigen Gottes des Krieges. Tempus hatte ihn erschlagen, als er noch ein niederer Gott gewesen war, und seinen Platz eingenommen. Das musste kurz vor dem Fall des alten Netheril gewesen sein. Das bedeutete, dass dieser Tempel einer der jüngsten seiner Art war. Und dieses Wandbild …
„Mir ist kein einziges Artefakt in der Kulturgeschichte bekannt, das Tempus ohne seinen Helm zeigt. Dies ist womöglich das älteste Relikt, das von der Verehrung des Feindhammers zeugt.“
„Schade, dass es zu groß ist, um es mitzunehmen“, meinte Winter. „Das hätte sich doch hervorragend in deiner Abtei gemacht!“
„Gibt es keine Möglichkeit, das Bild magisch abzupausen und …?“
Während Faust und Winter über reproduktionsmagische Verfahren fachsimpelten, sog Grimwardt jedes Detail dieses ungewöhnlichen Fundstücks in sich auf. Dabei fiel ihm auf, dass die Wand aus einem fremdartigen, hellgrauen Metall geschaffen war. Trotz seiner geringen Dicke musste das Material äußerst widerstandsfähig sein, wenn es den Fall der Enklave und die Jahrhunderte, in denen es den Umwelteinflüssen der Pilzkreatur ausgesetzt gewesen war, so unbeschadet überstanden hatte. Er war gespannt, was sein zwergischer Freund Borgo dazu sagen würde.
Grimwardt hatte gerade eine Probe des eigenartigen Metalls aus den Trümmern geborgen, als Drizzt zurückkehrte. Gwenyfhar, seine Panthergefährtin, trottete lautlos wie sein Schatten an seiner Seite.
„Der Komplex ist riesig“, beschrieb der Drow die Lage. „Es arbeiten immer ein oder zwei Magier und um die zehn Sklaven zusammen. Wachen gibt es nur im Lager; ich nehme an, sie sind dort stationiert, um die magischen Fundstücke zu bewachen.“
„Wie viele Wachen sind es?“
„Zehn, die ich ausmachen konnte – ausnahmslos menschliche Netherim. Ein Umbrantenmagier befehligt sie – der Ausgrabungsleiter, schätze ich. Bei ihm ist ein weiterer Umbrant, vielleicht sein Gehilfe.“
„Führ uns hin.“
Das Lager war nicht weit entfernt vom Tempus-Tempel gelegen. Offenbar hatten die Forscher gezielt Gebäudekomplexe „entpilzt“, von denen sie sich magische Funde erhofften. Die einzelnen Ausgrabungsstätten waren durch enge Energieröhren miteinander verbunden. Aus der Finsternis eines solchen Tunnels beobachteten die Gefährten das Lager. Drei Soldaten bewachten die Zelte; fünf weitere saßen bei Fackellicht bei einem Würfelspiel zusammen. Drizzt deutete stumm auf ein größeres Zelt in der Mitte – dort mussten sich der Ausgrabungsleiter und sein Gehilfe aufhalten.
Faust stieß Grimwardt mit verschränkten Armen an und ruckte den Kopf in Richtung des Zelts.
„Antimagische Zone?“
Grimwardt antwortete mit einem kurzen Nicken.
„Winter, kümmere dich um die Wachen beim Feuer“, befahl er. „Drizzt, schalte die Patrouillen aus. Drake, durchsuche die anderen Zelte nach den fehlenden Soldaten. Faust und ich kümmern uns um die Umbranten. Los!“
Als die beiden wenige Augenblicke später das Zelt stürmten, stand keiner der Soldaten mehr aufrecht. Faust griff im Laufen nach einer der Fackeln, während Grimwardt seinen Zauber wob. Ihr Angriff traf die beiden Magier unvorbereitet. Der Gehilfe ging bereits mit Fausts erstem Schwertstreich zu Boden. Der Ausgrabungsleiter sprang überrumpelt von einem Pult auf, auf dem Karten und andere Unterlagen verstreut lagen. Grimwardt setzte über den Tisch hinweg – doch als er mit der Axt ausholen wollte, stand ihm der Magier plötzlich in zehnfacher Ausführung gegenüber. Er stutzte. Spiegelbilder? Wie war das möglich? Im nächsten Moment wirbelte ein Luftzug die Papiere auf dem Schreibpult auf … und zehn gespaltene Schädel sanken auf die Tischplatte. Zwiespalt hatte seinem Namen alle Ehre gemacht. Als der Tod in die Augen des Fremden trat, verschwanden die Spiegelbilder und er verwandelte sich … von einer hageren Bohnenstange in einen stämmigen Glatzkopf.
Grimwardt und Faust wechselten fragende Blicke.
„Umbranten verarschen Umbranten“, meinte Faust achselzuckend, warf sich sein Schwert über die Schulter und begann, den Fremden zu plündern.
„Woher wusstest du, welcher davon er war?“
Faust zog die Nase kraus. „Guter Riecher.“
„Was bist du, ein Trüffelschwein?“, brummte Grimwardt kopfschüttelnd. „Und warum konnte der Kerl trotz Antimagie zaubern? Sowohl seine Spiegelbilder als auch sein Verkleidungszauber schienen dagegen immun zu sein.“
„Hm, ich glaube, er war ein ziemlich hohes Tier. Sieh dir das an.“ Faust reichte ihm einen Siegelring, den er bei dem Fremden gefunden hatte: Das Siegel zeigte eine Sphäre über drei Berggipfeln.
Grimwardt kniff die Augen zusammen, als er sich daran zu erinnern versuchte, wo er das Symbol schon einmal gesehen hatte. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte er bedächtig, „aber ich glaube, die Gehirnmasse, die da an deinem Schwert klebt, gehört einem der Prinzen von Umbra.“
Winter
Die Augen des bewusstlosen Zaubergehilfen bewegten sich unruhig hinter den geschlossenen Lidern, als Winters Zauber seinen Geist durchbohrte. Ein magischer Fingerzeig und sie hätte all seine Erinnerungen löschen und seinen Geist auf Tag Null schalten oder ihm einreden können, er sei ein dreijähriger Dunkelzwerg.
„Weck ihn auf.“
Nachdem Miu den Verwundeten mit einem Heilzauber in die Wirklichkeit zurück geholt hatte, zwang Winter ihn mit einem telepathischen Befehl, den Blick auf seinen toten Gefährten zu richten. Sie las Verwirrung und Furcht in seinen Gedanken.
„Wer ist das?“
„Das … ist einer der Zwillinge. Prinz Vattick oder Mattick Tanthul. Niemand kann sie auseinander halten.“
„Aber der Siegelring, den er trägt, gehört einem anderen, nicht?“
Sie hielt ihm das Schmuckstück unter die Nase.
„Das ist Prinz Brennus‘ Wappen – der jüngste Sohn des Hochprinzen. Er … ist ein Meister der Erkenntnismagie und derjenige, der diesen Ort gefunden hat. Er ist der Leiter der Expedition. Ich dachte …“
Er schnappte nach Luft, als Winter die Eindrücke und Erinnerungen, die ihm bei der Betrachtung des falschen Prinzen in den Sinn kamen, achtlos durchblätterte wie Seiten in einem Buch. Offenbar waren Vattick und Mattick in Umbra für ihre Intrigen berühmt-berüchtigt. Ihre Illusionen waren nicht einmal mithilfe mächtiger Magie zu durchschauen. Welches Spiel auch immer sie spielten, der Gehilfe gehörte nicht zum Kreis der Eingeweihten. Offenbar hatte sein Leben bisher hauptsächlich in der Bibliothek stattgefunden. Winter verlor schnell das Interesse an ihm.
„Was habt ihr hier unten gesucht?“
„Wissen … Wissen um das alte Netheril.“
„Was ist mit dem Expeditionsleiter? An welcher der Ruinen hat er gearbeitet?“
„Er hat die Ausgrabungen an der Akademie betreut“, sagte der Magier.
Winter spürte sein Unbehagen und zwang seinen Geist, sich ihr zu offenbaren. Sie sah einen weiteren Umbranten, der den falschen Brennus bei seinen Besuchen in der Arkanen Akademie häufig begleitet hatte, doch seine Gestalt war in Schatten gehüllt. Doch obwohl der Zaubergehilfe nicht wusste, wer der Fremde war, schien eine Aura der Macht von ihm auszugehen, die ihn vor Ehrfurcht schaudern ließ.
Sie gab ihre Erkenntnisse an die anderen weiter. Faust fand eine Karte, auf der die Lage der Akademie verzeichnet war.
„Wenn wir da vorbeischauen wollen, sollten wir uns beeilen“, bemerkte Drake. „Der Tod eines Prinzen wird nicht lange unbemerkt bleiben. Und ich will hier weg sein, bevor Hackschädels Zwillingsbruder auftaucht. Auf der anderen Seite des Lagers habe ich was Portalartiges gesehen – schätze, die hatten keine Lust, sich jedes Mal durch die Eingeweide des Pilzmonsters zu graben, um nach Hause zu kommen. Wird also nicht lange dauern, bis seine Mitverschwörer hier auftauchen.“
„Gut, brechen wir auf“, sagte Winter. „Warum geht ihr nicht schon mal vor? Ich muss noch ein wenig Gedächtnisarbeit leisten, damit unser Freund hier uns keine Scherereien bereitet.“
Grimwardt sog scharf die Luft ein. Natürlich wusste er, dass der Zaubergehilfe niemandem mehr Scherereien bereiten würde, wenn sie mit ihm fertig war. Ihre Maskerade galt lediglich Drizzt. Wenn er herausfand, mit wem er es zu tun hatte, würde sie ihn vermutlich töten müssen und sie wollte Faust nicht seinen Wettkampf verderben …
Faust
Die Arkane Akademie hatte einmal – den Plänen des Expeditionsleiters zufolge – aus einem festungsartigen Hauptgebäude und neun Türmen bestanden – ein Turm für jede Schule der Magie. Im Gegensatz zu den restlichen Gebäuden der Stadt schien der größte Teil des Komplexes erhalten geblieben zu sein. Grimwardt glaubte, dass das ungewöhnliche Metall, das er bereits in den Trümmern des Tempus-Tempels entdeckt hatte, dafür verantwortlich war. Die Akademie war vollständig daraus erbaut. Die Umbranten hatten nur die Hautfassade der Akademie aus dem Pilz befreit. Fenster gab es nicht – vielleicht hatte der Pilz also niemals einen Weg hinein gefunden. Das würde erklären, warum die Expeditionsmitglieder ihre Arbeit nicht fortgesetzt hatten. Faust konnte nur erahnen, welchen Wirbel ein solcher Fund – eine vollständig erhaltene Zauberakademie aus dem alten Imperium – in Umbra ausgelöst haben musste.
„Ein mächtiger Dimensionsbann liegt auf dem Gebäude“, sagte Winter, nachdem sie den Komplex einer magischen Untersuchung unterzogen hatte. „Und das Haupttor ist keine wirkliche Tür, sondern ein Portal. Ohne Schlüsselring gibt es kein Hineinkommen.“
„Mal sehen, was ich mit Sagenkunde herausfinden kann“, meinte Faust und kniete sich vor das kunstvoll verzierte Eingangsportal. Er hatte die Formel noch nicht zu Ende gesprochen, als er spürte, wie der Zauber die Kontrolle über seinen Körper übernahm und seine Glieder zu zucken begannen.
„Faust! Sie sind da!“
Mius eindringliches Rütteln riss ihn jäh aus dem Bann der Vision.
„He!“, krächzte er, während er sich durch den Nebel zurückkämpfte. „Ich war noch nicht so weit, was …?“
„… Das ist für unsere Brüder!“, hörte er noch eine zischende Stimme, ehe ein jähes Zaubergewitter über ihn herein brach.
Energiekugeln regneten auf ihn nieder, während er sich auf die Beine kämpfte und die Lage zu überblicken versuchte. Die Angreifer – drei Umbranten – waren mindestens fünfzig Meter entfernt. Der kleine Kahlkopf mit dem hassverzerrten Blick war unschwer als der Zwillingsbruder des falschen Ausgrabungsleiters zu erkennen. Der zweite Umbrant, ein Magier mit schwarzem Kinnbart, schien weitaus besonnener, wenn auch ebenso entschlossen. Der Krieger in ihrer Mitte, vermutlich ihr Anführer, war weitaus kräftiger und größer als die anderen beiden. Er trug eine kostbar verzierte Rüstung mit einem aufwendig gestalteten Klingenfänger aus Drachenzähnen am Halsstück. Das Emblem eines schwarzen Drachens zierte auch seinen Schild und den Griff seines Schwertes.
Sie standen drei Prinzen von Umbra gegenüber.
Faust rannte los.
Drizzt, die wieder einmal als erstes reagiert hatte, war innerhalb eines Lidschlags bei den Angreifern. Bevor er sie erreichte, hüllte Schwarzbart sich und den Zwilling in eine Regenbogensphäre, die von schwarzen Schlieren durchzogen war – ihre Bedeutung überstieg Fausts arkane Kenntnisse, doch die Mutation eines ohnehin schon mächtigen Zaubers konnte nichts Gutes bedeuten. Offenbar stimmte es, was man sich über die Umbranten erzählte: Seit der Zauberpest gab es – vielleicht außer Winter – niemanden mehr, der es mit ihrer Zaubermacht aufnehmen konnte.
Drizzt war nur noch ein Blitz, der sich der Wahrnehmung entzog, als er auf den Drachenkrieger zu preschte. Sein Angriff riss den viel größeren Umbranten beinahe von den Füßen, doch er zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Mit dem ersten Schwerthieb brachte er Drizzt zu Fall, der zweite verfehlte nur knapp das Herz des am Boden Liegenden.
Faust kam gerade noch rechtzeitig, um den schwer verwundeten Drow zur Seite zu stoßen, aus dem Angriffsbereich des Umbranten. Zusammen mit Grimwardt und Drake nahm er den Drachenkrieger in die Zange. Der stieß ein irres Lachen aus, als Stahl auf Stahl traf und er sich gegen drei Angreifer zugleich zu Wehr setzte. Das Lachen endete in einem ohrenbetäubenden Kreischen, das sie alle wie nach einem Explosionsknall in einen Kokon der Taubheit hüllte. Faust gelang es, den Druck auf den Ohren abzuschütteln, doch Drake neben ihm ging vor Schmerz in die Knie, während ihm Blut aus den Ohren quoll. Ein flüchtiger Blick nach hinten sagte Faust, dass der Schallangriff auch Winter und Miu in die Knie gezwungen hatte. Unter dem Schwarm von Energiegeschossen, die die Magier auf die vor Schmerz Gelähmten niederbeschworen, gingen die beiden Frauen zu Boden. Unmittelbar darauf folgte eine Bannwelle – Faust schien es, als ob ihn etwas bis auf die Knochen auszog und nackt und schutzlos zurückließ: Ein einziger gegnerischer Bann entriss ihm und seinen Gefährten die Kontrolle über sämtliche Schutz- und Kampfzauber, die auf ihnen lagen. Die Umbrantenbrüder hatten ihren Standpunkt klargemacht: Das war keine Drohgebärde – sie wollten sie tot sehen! Es sah wirklich mies für sie aus; trotzdem spürte Faust, wie ihm die Kampfwut in die Glieder fuhr.
- Grim!
- Schon klar.
Grimwardts antimagische Zone konnte zwar nichts gegen die Regenbogensphäre ausrichten, aber sie beraubte den Drachenkrieger seines Zaubervorteils und schützte sie zudem vor weiteren Zauberangriffen der beiden Magier. Verbissen attackierten die beiden Freunde den Krieger von beiden Seiten. Schon nach wenigen Hieben gewannen sie die Oberhand. Doch als er schon aus zahlreihen Wunden blutete, gelang es dem Drachenkrieger aus dem Klingendickicht auszubrechen. Die Bewegung riss eine tiefe Wunde in sein Knie, wo Grimwardts Axt ihn streifte, doch mit letzter Kraft schleppte er sich aus der antimagischen Zone und ehe die Freunde es verhindern konnten, hatte er sich mit einem Stoßgebet an seine Dunkle Herrin geheilt, und griff mit doppelter Wucht an.
Ein kurzer Seitenblick sagte Faust, dass Grimwardt genau wie er selbst nicht mehr lange durchhalten würde. Doch es lag ihm fern, in Verzweiflung zu verfallen. Er hatte schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, sein Zanmatou-Manöver, das ihn zum Großmeister gemacht hatte, einmal unter realen Bedingungen zu erproben.
- Grim, wenn das nicht reicht, musst du es rausreißen!
- Mach jetzt bloß keine Dummheiten! … Faust?
Faust holte tief Luft und katapultierte sich aus dem Stand in die Höhe, das Schwert über den Kopf erhoben. Die Welt um ihn herum hielt den Atem an, während sein Körper die Kraft von zehn Schlägen in diesen einen legte: Sein Herz schlug zehnmal so schnell, seine Muskeln spannten sich zum Zerbersten und der Rausch brachte sein Blut zum Kochen. Zwiespalt schnitt durch den Schild, den der Umbrant eilig über den Kopf riss, wie durch Butter – doch etwas stimmte nicht. Statt zu zersplittern, nahm der Drachenschild eine geleeartige Konsistenz an: eine widerstandslose Masse, die die ungeheure Wucht des Schlages abfederte – nur um dann wieder zu erhärten und in tausend messerscharfe Einzelteile zu zersplittern, die mit todbringender Geschwindigkeit in alle Richtungen davonstoben.
Schildsplitter schnitten in Fausts Fleisch. Gleichzeitig forderte die ungeheure Kraftanstrengung, die er in das Manöver gelegt hatte, ihren Tribut: Es gab kaum einen Knochen in seinem Körper, der noch heil war, und er kämpfte mühsam darum, bei Besinnung zu bleiben. Als es ihm endlich gelang, den Schmerz und die Schwärze fortzublinzeln, erspähte er, wie der Drachenkrieger Hieb um Hieb Grimwardt immer näher an die tödliche Regenbogensphäre trieb. Faust biss die Zähne zusammen und versuchte vergeblich auf die Beine zu kommen – wenn nicht irgendein Wunder Grimwardt zur Hilfe käme, wären sie geliefert.
Das Wunder kam in Gestalt von Drizzt Do’Urden, der, obgleich er sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte, pfeilschnell über Faust hinwegsetzte. Faust erkannte sofort, dass der Drachenkrieger ohne seinen Schild und ohne den Schutz seiner göttlichen Magie, die Grimwardts Bannzone noch immer unterdrückte, gegen den Drow verloren hatte: Wenn es um Leben oder Tod ging, war Drizzt unbesiegbar.
Du irrer, kleiner Mistkerl, dachte Faust erleichtert, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.
Als Grimwardt ihn schließlich mit einem Heilzauber aufweckte, war von den drei Umbranten keine Spur mehr zu sehen. Seine Gefährten wirkten erschöpft und angeschlagen, doch sie schienen noch glimpflich davon gekommen zu sein.
„Reicht es nicht, dass unsere Gegner versuchen, uns umzubringen“, knurrte Grimwardt, während er ihm unsanft auf die Füße half. „Musst du ihnen dabei auch noch behilflich sein?“
„Was ist passiert?“, ächzte Faust.
„Drizzt ist passiert. Der Krieger hatte keine Chance, aber an die beiden Magier gab es kein Herankommen. Drizzt war halbtot und ich hätte auch nicht mehr lange durchgehalten – sie waren also immer noch im Vorteil. Drake hat schließlich damit gedroht, ihrem Bruder die Kehle durchzuschneiden. Das wollten die beiden offensichtlich nicht riskieren. Sie haben sich zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken. Aber sie werden nicht lange fortbleiben, da bin ich mir ziemlich sicher. Was auch immer sie hier unten treiben – sie wollen nicht, dass wir es herausfinden.“
Faust nickte. Ein Blick in die Runde sagte ihm, dass seine Gefährten einem weiteren Angriff heute genauso wenig gewachsen waren wie er selbst. Es stand 1:0 für die Umbranten. Doch er würde sich nicht zurückziehen, ehe er nicht wusste, was an diesem Ort so besonders war, dass der Hochprinz vier seiner Söhne schickte, um ihn zu bewachen. Während Winter das Pilzwesen befreite, indem sie ein Loch in einen der Energiewälle bannte, sodass der Pilz zurückfordern konnte, was ihm gehörte, kniete sich Faust vor das Portal der Akademie und wagte einen zweiten Zauberversuch mit Sagenkunde.
Als er wenige Minuten später die Augen aufschlug, pochte sein Herz wild gegen seine Brust.
„Eileanar“, murmelte Faust, während der Nachhall der Vision noch durch seinen Geist spukte. „Wir sind in Eileanar – der Enklave des Karsus.“