FÜNFTES BUCH: FLUSS DER VERDAMMTEN
Prolog
Drake
Abtei des Schwertes, Mirtul 1395 TZ.
Entgeistert sog die Menge die Luft ein, als sich die Leiche aufrichtete. Die Lichtstrahlen, die durch die Abteifenster in den Saal fielen, bündelten sich im Gesicht des Auferstandenen und enthüllten den Feuerglanz des Himmels über Kriegersruh, der noch in seinen weit aufgerissenen Augen funkelte. Lange herrschte Totenstille. Dann fielen die ersten Gläubigen auf die Knie, um Tempus für sein Wunder zu danken. Tempus oder Grimwardt. Für die meisten gab es da kaum noch einen Unterschied.
Drake wandte sich verächtlich ab.
Ein religiöser Mummenschanz. Ein hübsch inszeniertes Theaterstück, nichts weiter war diese ganze Veranstaltung. Grimwardt verstand es wirklich sich in Szene zu setzen. Wo war der grummelige Abteileiter geblieben, der all den heiligen Pomp verabscheute? Jetzt verlierst du endgültig den Boden unter den Füßen, Grimwardt Fedaykin! Egal - was ging ihn das an? Er war wegen des Auftrags hier. Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Grimwardt von den Toten zurückkehren würde. Alles andere wäre auch zu einfach gewesen…
„Drake!“
Winter hatte ihn in einer der Alkoven entdeckt und bahnte sich einen Weg zu ihm durch. Sie hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen und unter den Glücksfältchen der Erleichterung las er schuldige Verunsicherung. Sie spürt es, dachte Drake. Irgendwann würde Grimwardts Licht ihre Finsternis entlarven. Und die wurde immer tiefer. Ihr Gesicht war blasser geworden seit ihrer letzten Begegnung und die Schatten größer – lebendiger. Die Veränderung war subtil – jemand, der jeden Tag mit ihr zu tun hatte, würde sie kaum bemerkt haben. Auch Drake hätte sie wohl nur für Übermüdung gehalten, wäre er nicht schon einmal Zeuge einer solchen Verwandlung gewesen. Damals, bei seinem Mentor. Die Ironie zu werden, was man bekämpft, hatte er es genannt.
Hm, interessant.
„Scheint ja noch mal gutgegangen zu sein“, bemerkte Drake mit einem Nicken in Richtung des Totenbetts.
„Ja.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jetzt haben wir wenigstens einen Grund zu feiern. Komm, es gibt reichlich zu essen.“
„Danke, ich verzichte.“
Winter zuckte - ein wenig pikiert wegen der rüden Ablehnung - mit den Schultern.
„Wie du meinst.“
Stirnrunzelnd sah er ihr nach, als sie wieder in der Menge verschwand. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht geblieben…
Um den Blicken der Anwesenden zu entgehen, zog er sich die Kapuze tiefer in die Stirn, ehe er in die Geisterwelt eintrat, wo sich alle Bewegungen verlangsamten, die Farben zerflossen und die Formen zeitverzerrt und verschwommen wirkten. Unsichtbar und gestaltlos glitt er durch das Mauerwerk, das hier die Konsistenz einer zähflüssigen Masse hatte, und schritt unbehelligt durch die Massen, die vor der Abtei warteten. Während die Realität um ihn herum an Geschwindigkeit verlor, bewegte er sich schneller, sodass er die Abtei schon nach wenigen Minuten meilenweit hinter sich gelassen hatte. Am Ufer eines Flusslaufs kehrte er auf die materielle Ebene zurück. Seine Gedanken suchten nach der telepathischen Verbindung, die sein Auftraggeber zwischen ihnen erstellt hatte. Er hasste diese Art der Kommunikation – aber zumindest war sie sicher.
Ich habe Neuigkeiten. Er wartete, bis er die fremde Präsenz in seinem Geist spürte, ehe er fortfuhr: Grimwardt Fedaykin ist als Heiliger von den Toten zurückgekehrt. Und seine Schwester ist im Begriff sich in einen Umbranten zu verwandeln.
Kapitel I: Omegas Opfer
Faust
Schwerterteich, zwei Tage später.
Sein Magen zog sich zusammen, als er die Lichtung wiedererkannte. Eine Erinnerung malte klebrige Blutspuren ins Gras, wo der abgetrennte Kopf seines Lehrmeisters über den Waldboden gerollt war. Faust schüttelte den Kopf: Tyrail und sein Sinn für Dramatik! Für den Elfen schien die ganze Welt aus einem einzigen, ewigen Kampf zu bestehen: Das Licht der Elfen gegen das Zwielicht der Menschen. Aber Faust war es leid, von der Vergangenheit beherrscht zu werden.
„Sicher, dass du allein mit ihm fertig wirst?“, brummte Grimwardt.
Faust schnaubte grimmig.
Er kannte Tyrails Kampfstil. Er war auf Duelle spezialisiert; war darauf trainiert, alles auszublenden bis auf den einen Gegner… Faust würde einen Weg finden müssen, seinen Fokus zu brechen, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte.
„Tyrail ist irgendwo in der Nähe“, sagte er. „Er wird erst rauskommen, wenn ihr weg seid. Das hier muss ich alleine machen.“
Nachdem Miu ihn noch einmal mit einem eindringlichen Blick gewarnt hatte, nicht mehr Blut zu vergießen als nötig, zogen sich seine Freunde ins Dickicht zurück.
„Du kannst rauskommen, Tyrail!“
Nichts. Es dauerte noch einige Minuten, ehe sich der Elf am Rande der Lichtung zeigte. Vermutlich war er den anderen gefolgt, um sicherzugehen, dass sie sich auch tatsächlich zurückzogen.
Stumm harrten die beiden Kontrahenten einander gegenüber.
„Wusstest du, dass ich es war, der ihn fand?“ Tyrails Eisaugen wanderten über die Lichtung. „Sein Blut war noch warm…“
Faust wusste, es würde nichts ändern, wenn er sich entschuldigte. Es würde Tyrail nicht von seiner Besessenheit heilen. Fast wünschte er, den Elfen ebenso hassen zu können wie er ihn. Das würde vieles einfacher machen. Aber so sehr sich Tyrail auch in anderen Dingen irrte – in dieser Sache war er im Recht.
„Was passiert, wenn ich gewinne?“, murmelte er.
„Dann solltest du mich töten“, sagte der Elf ohne zu zögern. „Ich werde niemals aufhören dich zu jagen.“
Faust seufzte resigniert. „Wie du meinst.“
Steif verneigten sich die beiden Kontrahenten voreinander, ehe sie die Schwerter zogen.
„Aber keine faulen Tricks!“
Faust hatte die Mahnung noch nicht ausgesprochen, da schlug der Elf bereits die Hacken zusammen. Typisch Tyrail! Kaum jemand legte so viel Wert auf Soldatenehre wie er, aber im Kampf war ihm jedes Mittel Recht, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Faust spürte, wie die magischen Stiefel des Elfen ein leichtes Vibrieren aussandten. Die Luftbewegung ließ den Schriftzug erstarren, den der alte Sarrukh in seinen Arm geritzt hatte, und die Lichtung um sie herum gefror in der Zeit. Es funktioniert, stellte Faust begeistert fest. Dank des neuen Zeittricks gelang es ihm, sich in Tyrails Zeitstarre „hineinzumogeln“. Faust nutzte die Verblüffung seines Gegners, um eilig die Schriftrolle zu zücken, die er am Morgen in Silbrigmond besorgt hatte, und die magische Formel vom Pergament abzulesen. Jäh katapultierte der Zauber die beiden Kontrahenten zurück in den Zeitstrom. Das Glühen ihrer Schwerter verlosch und das kleine Irrlicht, das stetig um Tyrails Klinge tanzte, verschwand von der Bildfläche.
„Ulinu en‘lianter!“, fluchte der Elf gepresst. „Eine antimagische Zone?! Du verdammter Bastard!“
Spöttisch breitete Faust die Arme aus.
„Lass uns wie früher kämpfen!“ sagte er grinsend. „Ganz ohne Magie!“
Tyrails Verunsicherung beflügelte ihn. Er hatte ein wenig nachgeforscht und seinen Schwachpunkt gefunden: Das kleine Irrlicht war ein Klingengeist, ein manukeryth, der Geist eines verstorbenen elfischen Helden, aus dessen Beistand Tyrail während des Kampfes Kraft und Willensstärke schöpfte. Durch die Unterdrückung des magischen Gewebes verlor der Klingengeist seinen Kontakt zur materiellen Ebene. Natürlich beschnitt dies auch seine eigene Kampfkraft, doch Faust hoffte, dass der Nachteil auf Tyrails Seite überwiegen würde.
Der Elf nutzte den einzigen Vorteil, der ihm noch blieb: seine Gewandtheit. Pfeilschnell schoss er auf seinen Gegner zu, der ebenfalls losstürmte. Einen Herzschlag bevor Tyrail ihn erreichte, katapultierte sich Faust frontal in den Sprung. Der Elf reagierte mit einer Halbdrehung, um dem schmetternden Hieb auszuweichen. Die Bewegung lenkte seine Klinge ab, sodass sie nur einen blutigen Kratzer auf Fausts Oberkörper hinterließ. Doch Faust, der Tyrails Ausweichmanöver vorausgeahnt hatte, änderte im Sprung die Hiebrichtung und die niederfahrende Klinge brach schmetternd das Schlüsselbein seines Gegners. Während Tyrail, betäubt vor Schmerz, in die Knie brach, stieß sein Gegner ihm mit einem weiteren Hieb die Klinge in die Brust, sodass sie nur knapp sein Herz verfehlte. Brüllend vor Schmach und Enttäuschung riss Tyrail sein Schwert hoch, doch er war so geschwächt, dass ein einziger Fußtritt ausreichte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Grob packte Faust den Besiegten bei der Schulter und setzte ihm die Klinge an die Kehle.
„Willst du immer noch, dass ich es zu Ende bringe?“, knurrte er.
Verächtlich hustete Tyrail ihm einen Schwall Blut vor die Füße. Dann verdrehten sich seine Pupillen nach oben und er sackte bewusstlos in sich zusammen. Für einige Atemzüge harrte Faust unschlüssig über dem Besiegten. Du kannst ihn nicht einfach verbluten lassen. Egal, wie lange Tyrail seine Nemesis-Nummer noch durchziehen wollte, er war einmal so etwas wie sein Kampfgefährte gewesen. Hastig riss er Tyrails Hosenbein in Streifen, um die blutende Brustwunde abzubinden.
„Faust.“
Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum.
Das kann nicht sein.
Tyrails Klingengeist war in eine schemenhafte Projektion seines sterblichen Körpers geschlüpft. Die hohe Stirn, die ernsten schwarzen Augen… Faust spürte einen eisigen Schmerz in der Brust. Und dann sank er, der ewige Rebell, der in seinem ganzen Leben vor niemandem freiwillig das Haupt gebeugt hatte, in Demut auf die Knie.
„Thallastam“, flüsterte er erstickt.
„Ja, Faust, ich bin sein manukeryth.“
Langsam glitt der Geist näher und ein kummervoller Blick streifte den Bewusstlosen im Gras. „Nach meinem Tod bat ich die Götter, mich zurückzuschicken. Ich hatte bei dir versagt… Meine Seele fand keine Ruhe in dem Wissen, dass auch mein zweiter Schüler der Dunkelheit anheimfallen würde. Doch ich konnte ihn nicht retten. Seine Seele war zu sehr vom Hass zerfressen.“
Faust vermochte sich nicht zu rühren. Erst als eine kühle, substanzlose Berührung seine Schläfe streifte, sah er auf. Der Geist des alten Elfen hatte sich zu ihm ins Gras gekniet, sodass er gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich damals geirrt“, gestand Thallastam leise. „In dir schwelt der Weltenzorn deines Vaters. Aber ich habe die Wandlungsfähigkeit der Menschen unterschätzt.“
Faust schluckte heftig, doch der Kloß in seiner Kehle wollte nicht weichen.
„Könnt Ihr mir vergeben?“
„Nicht ich muss dir vergeben. Sondern die Lebenden.“
„Ihr wollt, dass ich mich dem Orden stelle?“
„Die Frage ist, ob du bereit bist dich ihrem Urteil zu unterwerfen. Die Rolle des bußfertigen Sünders stand dir nie besonders gut. Du wolltest immer als Held hierher zurückkehren…“
„Als Held?“, widersprach Faust erstaunt. „Nein, ich…“
Dann biss er sich auf die Lippen und senkte den Blick. Das Schicksal hatte sie hier zusammengeführt – dreiundzwanzig Jahre, nachdem er Thallastam auf eben dieser Lichtung getötet hatte. Irgendetwas musste das zu bedeuten haben. Vielleicht war das die zweite Chance, auf die er gehofft hatte. Und anders als er gehofft hatte, lag sie womöglich nicht in seiner Hand…
Grimwardt
Kurz darauf im Gasthaus 'Zu den Neun Schwertern'.
Grimwardt packte seine Schwester, die gehetzt aufgesprungen war, als Faust auf der Türschwelle erschienen war, am Arm und schüttelte stumm den Kopf. Das musste irgendwann kommen, sagte seine Geste. Doch nur widerwillig ließ sich Winter zurück auf den Platz drücken. Der Schwertkämpfer bedachte seine Freunde mit einem angriffslustigen Macht-euch-auf-was-gefasst-Zwinkern, ehe er sich ihren beiden Tischgefährten zuwandte: Die Freunde hatten Grimwardts zwergische Bekannte und ihren gnomischen Begleiter bei ihrer Ankunft im Gasthaus angetroffen.
„Ihr habt mich noch nie gesehen“, sprang Faust kopfüber ins kalte Wasser. „Aber vermutlich habt Ihr bereits von mir gehört. Ich bin Faust.“
Der Gnom sah plötzlich aus, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Das Bronzegesicht der Zwergin dagegen blieb unbewegt. Doch Grimwardt entging nicht der kurze Augenkontakt zwischen ihr und einer Rekrutin, die von einem anderen Tisch neugierig hinüber sah. Auf ein kurzes Nicken der Schwertmeisterin strahl sich das Mädchen unauffällig aus der Tür.
„Der Faust?!“, prustete der Gnom indessen.
„Nicht der mit dem Teufelspakt.“
„Teufelspakt? Das wird ja immer besser!“
„Hast du nicht zugehört?“, brummte Faust ungnädig. „Das war ich nicht!“
„Dann leugnest du wohl auch die anderen Dinge, die man dir zur Last legt, wie?“
„Falls du auf die Sache mit Thallastam anspielst - in dem Punkt ist an den Gerüchten wohl ausnahmsweise was Wahres dran.“
Der Gnom sprang auf.
„Tu nicht so empört“, knurrte Faust. „Mal ehrlich: In dem Laden hier ist doch keiner so lammfromm wie ihr gerne tut!“
Mit einem unterdrückten Stöhnen fuhr sich Grimwardt über die Stirn. Sein Freund bewies wieder einmal, dass er über das diplomatische Geschick eines orkischen Preisboxers verfügte. Die Rechnung folgte auch prompt auf den Fuß: Die Hand des Gnoms fuhr an sein Schwert.
„Pass auf, wen du hier beleidigst!“
Plötzlich waren alle Augen auf ihren Tisch gerichtet. Doch ehe sich die erhitzten Gemüter in einer handfesten Wirtshausprügelei entladen konnten, wurde es still und die Temperatur schien um einige Grade zu fallen.
„Faust!“, dröhnte Hades‘ Titanenstimme durch den Raum. Der Gnom kroch eilig zurück auf seinen Platz, um dem Todesrichter nicht im Weg zu stehen, als dieser wie der Schnitter persönlich heran rauschte.
Hades musterte den Zurückgekehrten von Kopf bis Fuß.
„Ihr habt Eure Erinnerung an Eure Ausbildung bei den Neun Schwertern wiedererlangt?“
Faust deutete ein Nicken an.
„In diesem Fall nehme ich Euch, Desmond ‚Faust‘ MacLancastor, im Namen der Neun Schwerter in Gewahrsam“, erklärte Hades förmlich. „Ihr steht im Verdacht, am siebzehnten Tag der Flammleite im Jahre 1372 TZ den Elfen Lydanias ‚Thallastam‘ Feawyn auf unehrenhafte Weise getötet zu haben. Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen.“
Mit zögernden Bewegungen löste Faust den Schwertgurt.
„Ich will ein Ordensgericht“, verlangte er.
„Das ist Euer Recht.“
Grimwardt glaubte Fausts Zähne knirschen zu hören, als er Zwiespalt mit blanker Klinge übergab. Die Chaosklinge durchlief eine wütende Farbtransformation, als Hades sie entgegennahm. Der Richter berührte die Waffe nur mit zwei Fingern und hielt sie weit von sich wie ein bissiges Tier, ehe er sie mit gerümpfter Nase seinem Schwertnovizen übergab, der ihm wie ein Hund auf den Fuß gefolgt war.
„Und Eure magischen Gegenstände“, verlangte er. „Einschließlich Eures Zauberbuchs.“
„Dann bin ich nackt!“, knurrte Faust, der abgesehen von den magischen Schulterplatten, Armschienen und Lederstiefeln nur ein rotes Tuch um die Hüfte trug.
„Ich bestehe darauf“, sagte Hades unerbittlich.
War Fausts öffentliche Demütigung von ihm beabsichtigt? Oder befolgte der Todespriester einfach nur das Protokoll? Manchmal meinte Grimwardt, wenn auch nur für kurz, unter Hades‘ Panzer der Rechtschaffenheit eine sardonische Mutwilligkeit aufblitzen zu sehen. Faust nahm es augenscheinlich gelassen, als er sich mit flegelhafter Gemächlichkeit vor den Augen der Wirtshausgäste entblößte. Selbst als Hades ihn mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aus dem Gasthaus manövrierte und wie eine Trophäe durch den Ort trieb, bewahrte er sich seine Unbekümmertheit. Erst als er sah, wohin die Reise ging, flackerte für einen Augenblick zorniger Widerstand in seinen Augen auf.
„Ist das wirklich nötig, Hades?“, murmelte er mit gepresster Stimme.
„Ja.“ Der Richter blieb niemals eine Antwort schuldig.
Stur sperrte er Faust in einen der beiden Käfige vor Omegas Haus. In dem anderen kauerte, mit borstig gesträubtem Nackenhaar, der Tiermensch, der Grimwardt schon bei seinem ersten Besuch in Schwerterteich Gänsehaut bereitet hatte. Hades sprach einen Teleportationsbann über den Käfig.
„Nachtmond wird Alarm schlagen, solltet Ihr versuchen zu fliehen“, erklärte er gleichmütig.
Winter, die die Szene mit knirschenden Zähnen beobachtet hatte, ballte entschlossen die Fäuste.
„Das reicht!“, zischte sie. „Wir müssen ihn da rausholen!“
„Nein.“ Grimwardt legte ihr beschwichtigend den Arm auf die Schulter. „Er tut das Richtige, Winter.“
Winter
Abends.
In der Einsamkeit seiner Zelle war Fausts Unbekümmertheit düsterer Resignation gewichen. Er wirkte blass und ungewohnt verletzlich in dem unförmigen Leinenhemd, das dem Schwiegersohn der Wirtsherrin gehörte. Der Anblick versetzte Winter einen Stich. Faust hatte immer eine gewisse Immunität gegen die Zeichen besessen, die sie und Grimwardt in böse Vorahnungen verstrickten. Doch nun hatte selbst ihn sein Glück verlassen.
„Faust!“
Heimlich kauerte sie sich in den Schatten des Käfigs.
„Ich komme gerade von Hades.“ Sie sprach in raschem Flüsterton, um Nachtmond nicht auf sich aufmerksam zu machen. „Schlechte Neuigkeiten: Er wird dich wegen Totschlags anklagen. Die Strafe lautet auf Henkerstod durch das Schwert. Laut seines lächerlichen Ordenskodex‘ ist das ehrenhafter als der Tod durch den Strang.“ Sie schnaubte düster. „Als ob das einen Unterschied machen würde!“
„Naja“, murmelte Faust. „Besser eine saubere Enthauptung als die Schmach vor dem ganzen Orden am Galgen zu zucken…“
„Oh.“ Winter hielt irritiert inne. „Du denkst genauso? Naja, wie auch immer, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, dich aus diesem Schlamassel rauszuholen. Hades hat uns gestattet der Verhandlung als Leumundszeugen beizuwohnen. Und ich habe den Verhandlungsraum gesehen, Faust! Er ist nicht einmal magisch gesichert! Wenn sie dich also verurteilen sollten…“
„Sie werden mich verurteilen“, fiel ihr Faust mit finsterer Miene ins Wort. „Ich habe alles gestanden.“
„Du hast was?!“ Winters Gesichtszüge erstarrten.
„Hades hat das Verhör geführt“, erklärte er ruhig. „Ich stand unter dem Einfluss seines Wahrheitszaubers, als ich meine Aussage machte.“
Seine Entschlossenheit erstickte Winters Tatendrang.
„Dann hat Grimwardt also recht“, murmelte sie beklommen. „Du.. willst das durchziehen, hm?“
„Wenn es das Schicksal so will…“
Winter stutzte und schüttelte jäh den Kopf.
„Nein!“ Mit einem Mal machte sein Fatalismus sie wütend. „Das bist nicht du, Faust! Außerdem ist es nicht das Schicksal, das dich verurteilen wird, sondern ein Pack unzurechnungsfähiger Irrer! Mal ehrlich! Was ist das für ein Orden, der einen halbnackten Wilden und einen tyrannischen Gefühlszombie zu Richtern macht?!“
„Schön gesagt.“ Ein fahles Grinsen huschte über sein Gesicht. „Nein, ehrlich, Winter, ich werde nicht schon wieder davonlaufen.“
„Gibt es denn irgendetwas, das ich tun kann?“
„Du könntest mir irgendwo ein sauberes Hemd und eine vernünftige Hose besorgen“, brummte er. „In diesem Sack hier stinke ich wie ‘ne Pellkartoffel.“
„Du stinkst wie er!“, drang ein finsteres Knurren aus Nachtmonds Käfig.
Erstaunt spähten die beiden in die Richtung, aus welcher der Einwand gekommen war, doch die nachtschwarze Höhle des Tiermenschen gab ihren Bewohner nicht preis.
„Ich wusste nicht, dass er sprechen kann!“, wisperte Winter verblüfft. Und das war nicht der einzige Punkt, in dem sie Nachtmond unterschätzt hatte. „Hat er etwa verstanden, was wir gesagt haben… Faust?“
Er war aufgestanden und näherte sich vorsichtig dem Nachbarkäfig.
„Wer ist ‚er‘?“
Ein leises Knurren begleitete jede seiner Bewegungen, das sich plötzlich in einem zischenden Fauchen entlud. Faust hielt inne und hockte sich kauernd zu Boden.
„Du sprichst von meinem Vater, oder? Von dem, der vor mir Faust genannt wurde.“
„Faust der Verräter!“
„Wen hat er verraten?“
Nachtmond antwortete mit einem kehligen Laut - halb Grunzen, halb boshaftes Lachen. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Enttäuscht gab Faust schließlich auf und kehrte zu Winter zurück.
Lange starrten die beiden schweigend in die Nacht.
„Ich kann dich nicht umstimmen, oder?“, murmelte Winter schließlich unglücklich.
Ein angedeutetes Kopfschütteln.
„Lass uns wenigstens ein Zeichen vereinbaren“, bat sie. „Falls du es dir während der Verhandlung anders überlegst.“
„Wenn ich schreie wie ein Mädchen“, brummte Faust düster.
Faust
Früh am nächsten Morgen.
Leise Stimmen weckten ihn aus einem unruhigen Schlaf. Als er sich fröstelnd aufrichtete, erspähte er im Zwielicht zwei Silhouetten: Omega, die in Nachtmonds geöffneter Käfigtür kniete und wie eine Schlangenbeschwörerin auf den vor ihr kauernden Tiermenschen einredete. Nachtmonds Kopf schnellte in die Höhe, als er Fausts Blick auf sich spürte, doch er beließ es bei einem ungnädigen Schnauben. Kurz darauf erhob er sich in jäher Unruhe und ein Schaudern durchzuckte seinen Körper, zerrte an seinen Gliedern und streckte sie in die Länge, während ihm Haare am ganzen Körper sprossen. Die Verwandlung war schrecklich mitanzusehen. Doch Nachtmond schien daran gewöhnt zu sein. Als es vorüber war, schüttelte der gewandelte Tiger nur kurz die Benommenheit ab und verschwand dann mit einem Satz im Gebüsch. Faust kniff die Augen zusammen - er war noch nicht lange genug wach, um der unwirklichen Szene zu trauen. Doch es wurde noch eigenartiger.
„Willst du ein Stück mit uns kommen?“ Die Ordensführerin trat an seinen Käfig und entriegelte die Tür, als sei nichts Besonderes dabei, einen Strafgefangenen auf einen Spaziergang im Morgengrauen einzuladen.
Argwöhnisch folgte Faust ihr in den Tempelgarten. Unwirklich stach das satte Rosa der Kirchbäume aus der frühmorgendlichen Welt in Grau. Sie schlenderten schweigend durch die dunsttrübe Morgenidylle und beobachteten den Tiger dabei, wie er seinen Jähzorn an einem Baumstamm ausließ. Nachdem er den Kirschbaum nacktgeschüttelt hatte, ließ er sich schnaubend am Ufer des magischen Teiches nieder, der Schwerterteich seinen Namen gab. Hierhin würden die neun Schwerter der Ordensmitglieder nach dem Tod ihrer Träger zurückkehren und erst wieder aus dem Wasser tauchen, wenn ein Nachfolger gefunden war…
„Wie war mein Vater?“, fragte Faust plötzlich unvermittelt.
„Ares war ein ehrgeiziger Mann“, erwiderte Omega ohne den Blick von dem Tiger zu wenden. „Er huldigte niemandem, respektierte die Starken und ignorierte die Schwachen…“
„Nachtmond nannte ihn einen Verräter… Was ist damals geschehen?“
Sie schwieg so lange, dass Faust glaubte, sie habe seine Frage bereits vergessen.
„Es war noch nicht lange her, dass ich den Orden in Faerûn neu begründet hatte, hundert Jahre nachdem das letzte Schwert in Shu-Lung umgekommen war. Thallastam, Hades, Nachtmond und dein Vater waren die ersten Schwerter der neuen Generation. Ihr letzter gemeinsamer Auftrag als Abenteurer führte sie in die Tiefen des achten Höllenkreises. Es ging um die Befreiung eines Sohns des damarischen Königs aus den Folterkammern Canias. Dort verriet dein Vater seine Freunde und überließ sie Mephistos Folterknechten. Er hatte einen Pakt mit einem Teufel an dessen Hof geschlossen, der ihn zum Halbteufel machte. Der Verrat an seinen Freunden war Teil des Preises, den er zahlte.“
Faust hob verwundert den Kopf.
„Wie konnten die anderen aus der Hölle entkommen?“
Eine Erinnerung berührte Omegas Gesicht und stahl den Glanz aus ihren Augen.
„Sie flohen“, sagte sie leise. „Eine offene Tür, ein unachtsamer Wachtposten, eine glückliche Verkettung von Umständen… Natürlich gibt es keine solchen Zufälle in den Folterkammern von Cania. Ich hatte dafür gesorgt, dass es so kam, doch das erfuhren sie nie.“
„Ich kann schweigen, wenn Ihr die Sache lieber für Euch behalten wollt“, beeilte sich Faust ihr zu versichern.
Ein schmerzliches Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken.
„Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist, Faust“, sagte sie und ihr Blick entglitt in die Nebel der Zukunft.
Winter
Am nächsten Tag in der Halle der Schwerter.
Laut klapperten Klingen und Rüstungen, als sich die neun Schwertmeister im Kreis um den Wappentisch versammelten. In zeremoniellem Einklang zogen sie ihre Schwerter und legten sie vor sich auf die Steinplatte, sodass die Spitzen zur Mitte des Schicksalsrads deuteten. Nur Fausts Klinge Zwiespalt fehlte. Wenigstens hatte Hades darauf verzichtet, ihm Handschellen oder Fußfesseln anzulegen. Nachdem Omega die rituellen Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen die Versammelten Platz: Die Ordensführerin kam als erste, dann folgten Elijas, Hades, Nachtmond, die Zwergin, Tyrail, Faust, eine Dunkelelfe, die Winter hier zum ersten Mal sah, und der Gnom aus dem Gasthaus. Als sich Hades erhob, um die Anklageschrift zu verlesen, senkte sich andächtiges Schweigen über das Ordensgericht.
Winter, die neben Grimwardt und Miu auf der Zeugenbank saß, schenkte den Worten des Richters kaum Beachtung. Heimlich hatte sie begonnen den Raum nach Schutzmagie abzusuchen. Ein schwacher Teleportationsbann, erst kürzlich gewirkt, lag über dem Steintisch – mit einem Gegenbann wäre er leicht aufzuheben. Viel schwieriger würde es werden, Faust gegen seinen Willen aus dem Raum zu teleportieren. Und das alles, bevor irgendwer eingreifen konnte. Winter kniff mutlos die Augen zusammen. Ohne Hilfe war sie aufgeschmissen! Von ihren Gefährten war keine Unterstützung zu erwarten. Grimwardt war von der Richtigkeit von Fausts Handeln überzeugt, selbst wenn es ihn umbrächte, und Miu… wer wusste schon, was Miu dachte? Vielleicht glaubte sie so fest daran, dass die Ahnengeister, zu denen sie betete, ihre schützende Hand über ihren Schützling hielten, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, dass diese Sache böse für ihn enden könnte.
„Während des Verhörs zeigte sich der Angeklagte reumütig“, sprach Hades zum Abschluss seiner Anklageverlesung „Zeitweise waren seine Schilderungen konfus und repetitiv, was auf emotionale Anteilnahme schließen lässt.“
Winter konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen.
Emotionale Anteilnahme, als ob du wüsstest, was das bedeutet!
„Möchten die Leumundszeugen dieser Darstellung etwas hinzufügen?“, wandte sich der Richter mit scharfem Unterton an den Störenfried.
Winter räusperte sich und senkte schuldbewusst den Blick.
„Wenn es mir gestattet ist, Euer Ehren“, sagte sie artig.
„Ich übergebe das Wort an Winter Fedaykin-Dantés.“
Sie erhob sich. „Verzeiht, aber wenn ich das richtig verstanden habe, fand …äh… das Delikt, dessen Faust bezichtigt wird, doch im Rahmen eines Duells statt, oder nicht?“
„Streng genommen handelte es sich um einen nicht näher definierten Zweikampf“, berichtigte Hades, „da dem Kampf keine formelle Duellforderung vorausgegangen war.“
„Zweikampf oder Duell – auf jeden Fall wussten beide, worauf sie sich einließen“, beharrte Winter. „Dass der Kampf tödlich enden konnte, nahmen sie in Kauf, als…“
„Hör mit dem Schöngerede auf, Winter!“, fiel ihr Faust ungeduldig ins Wort. Er hatte sich halb zu ihr umgedreht, doch seine Worte waren an alle gerichtet. „Ich tötete Thallastam, als er unbewaffnet am Boden kniete, um für meine Seele zu beten. Daran gibt es nichts schönzureden. Ich war jung – vielleicht viel zu jung, um mit dieser Macht umzugehen.“
Winter schloss ergeben die Augen. Faust, du verdammter Querkopf! Schön, wenn du hier den geläuterten Sünder mimen willst, geh – reite dich selbst ins Unglück! Ich habe alles versucht!
„Ich will überhaupt nichts bestreiten“, fuhr Faust fort. „Aber mich ärgert eure verdammte Heuchelei! Mal ehrlich, wer von euch hat denn keinen Dreck am Stecken! Tyrail, was ist zum Beispiel mit dir? Gegen die bösen Scherze, die du und deine Eldreth-Veluuthra-Freunde euch früher erlaubt habt, waren meine Vergehen ja wohl gar nichts!“
Der Elf stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Deine Ablenkungsmanöver waren schon immer für jeden Ork zu durchschauen! Du bist so erbärmlich, Faust!“
„Tyrail! Faust!“, rief Hades die beiden Erzfeinde zur Ruhe. „Tyrail, niemand hat Euch das Wort erteilt! Faust, Ihr seid es, der hier vor Gericht steht, nicht Tyrail. Bleibt gefälligst bei den Fakten, die den Fall betreffen!“
„Um den Fall geht es doch überhaupt nicht! Diese ganze Verhandlung ist eine Farce! Ihr habt Euer Urteil doch schon längst gefällt und nun formuliert Ihr die Anklage auf eine Weise, die den anderen gar keine andere Möglichkeit lässt als mich zu verurteilen!“
Eine steile Falte hatte sich in die Stirn des Richters gegraben.
Faust spannte die Kiefermuskeln, um sich aus der Rage zu winden, in die er sich geredet hatte. „Ich habe es getan, ja“, gestand er ruhiger. „Ich habe Thallastam getötet. Aber ich habe mich geändert. Die Frage ist also nicht, ob ich schuldig bin, sondern ob ihr mich für eine Tat zu Tode verurteilen wollt, die ich beging, als ich noch fast ein Kind war.“
Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Hades wieder das Wort.
„Gibt es noch weitere Zeugen, die zu diesem Fall aussagen wollen?“
„Was ist mit Thallastams Geist?“, fragte Faust.
Hades runzelte verständnislos die Stirn.
„Ich verstehe nicht, was die Frage bedeuten soll.“
Tyrail war in zorniger Erregung aufgesprungen, doch Faust ignorierte seinen stummen Einspruch. „Der Mann, den ich tötete, wandelt als Tyrails Klingengeist unter uns.“
„Ruhe!“ Hades hatte Mühe, den Tumult zu übertönen, der sich auf diese Enthüllung in der Halle erhob. Selbst dem eisernen Richter war die Verblüffung anzusehen, als er sich an den Elfen wandte. „Könnt Ihr das bestätigen, Tyrail?“
Tyrails Blicke durchbohrten Faust wie vergiftete Dolche.
„Ja“, knirschte er ohne die Augen von seinem Hassobjekt zu wenden.
„Ist es Euch möglich, ihn herzurufen?“
„Nein!“ Er spuckte dem Richter das Wort förmlich ins Gesicht. „Das kann ich nicht, selbst wenn ich wollte! Und es war niemals Thallastams Wunsch, dass Faust seine Identität vor dem versammelten Orden entlarvt!“
Hades musterte den aufgebrachten Elf mit stechenden Blicken.
„Ihr sprecht die Wahrheit“, erkannte er. „Es wird festgehalten: Das Opfer verweigert jegliche Aussage gegen oder zugunsten des Täters.“
Faust senkte betroffen den Blick.
„Kommen wir nun zur Abstimmung durch das Ordensgericht. Die Anklage bezichtigt das Ordensmitglied Faust der unehrenhaften Tötung im Affekt. Im Falle einer Verurteilung droht dem Angeklagten der Tod durch Enthauptung. Die Ordensmitglieder sind aufgefordert Ihr Urteil nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen. Der Angeklagte möge sich erheben.“
Nervös griff Winter nach Mius Hand. Das besänftigende Wesen der Ordensschwester durchströmte sie wie ein wohltuender Sirup und sie wünschte, Faust in diesem Moment etwas von dieser Ruhe abgeben zu können.
„Das Urteil des Ersten Schwertes!“, eröffnete Hades die Abstimmung.
„Ich enthalte mich dem Urteil“, erklärte Omega mit unbestechlicher Gleichmut.
„Das Urteil des Zweiten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Elijas hatte während der ganzen Verurteilung unkonzentriert und ein wenig kränklich gewirkt. Doch nun streifte er Faust mit einem mitfühlenden Blick.
„Das Urteil des Dritten Schwertes lautet auf schuldig“, gab Hades seine eigene Stimme ab. „Das Urteil des Vierten Schwertes!“
„Schuldig“, knurrte Nachtmond mit Inbrunst.
„Das Urteil des Fünften Schwertes!“
„Enthaltung“, sagte die Zwergin knapp.
„Das Urteil des Sechsten Schwertes!“
„Es war Mord“, erklärte Tyrail kalt. „Nicht Totschlag. Ich erkenne weder die Anklage noch dieses Gericht an.“
Faust lachte düster auf. „Du willst doch nur selbst derjenige sein, der mir das Schwert in die Brust rammt, Tyrail!“
„Das Gericht wertet diese Aussage als Enthaltung“, entschied Hades. „Das Urteil des Achten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Der Freispruch der dunkelelfischen Schwertmeisterin kam unerwartet. Offenbar war Fausts Ehrlichkeit nicht überall auf taube Ohren gestoßen.
„Das Urteil des Neunten Schwertes!“
Der Gnom hob erstaunt den Kopf, als er erkannte, welche Macht ihm plötzlich zuteilwurde. Es stand 2:2. Und dann breitete sich – mit schleichender Langsamkeit – ein gehässiges Lächeln auf seinen Lippen aus.
„Schuldig“, sprach er.
Faust
Wie betäubt harrte sein Blick auf den Tuschezeichnungen, welche die Pergamentwände bedeckten. Während Hades das Urteil über ihn sprach, wanderte das hereinfallende Licht ein Stück nach Westen und ließ die Ordenskrieger vergessener Zeiten in verzerrter Gestalt durch den Raum wandern. Wie grinsende Totengeister, die ihn zu sich riefen. Bist du nun zufrieden, Thallastam? Zu Tode verurteilt wegen eines belanglosen Wirtshausstreits mit einem Fremden! Am liebsten hätte er laut losgelacht, aber er wollte nicht als lachender Irrer an dieser Wand dort enden.
Das Singen einer Schwertscheide riss ihn aus seiner Starre.
Omega hatte sich erhoben. Himmelssplitter, das mächtigste der Ordensschwerter, lag blank in ihrer Rechten. Das kristallene Licht der Glasstahlklinge vertrieb die Schatten der Ahnengeister. Wollte sie das Urteil etwa sofort vollstrecken? Sollte sein Blut hier über dem Schicksalsrad der Neun Schwerter vergossen werden?
„Liebe Freunde - Schwerter des Ordens“, sprach Omega. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen riesig wie bei einem jungen Mädchen bei seinem ersten Kuss. Faust vermochte sich keinen Reim auf diese seltsame Erregtheit zu machen. „Ich erteile euch hiermit den einzigen Befehl, den ich Euch je geben werde: Unternehmt nichts, um meine Seele zu retten! Kommt mir nicht nach!“
Was zur Hölle…?
Mit feierlicher Würde trat sie einen Schritt zurück und verneigte sich mit dem Schwert auf der Brust. Die letzte Verbeugung. Ein Ritual der Samurai-Krieger von Wa, kurz bevor sie… in den Freitod gingen! In einer fließenden, harmonischen Bewegung packte Omega das Schwert mit beiden Händen und stieß sich die Klinge mit großer Präzision mitten ins Herz. Geistesgegenwärtig – erstaunlich geistesgegenwärtig – sprang Elijas vor, um sie aufzufangen: Sie war tot, ehe ihr Körper in den Armen des Avariel zu Boden sank.
Es war absurd. Völlig undenkbar.
Erst als Omegas Blut sich um den Fuß des Gnoms zu ihrer Rechten zu sammeln begann, schlich sich ihr Tod in das Bewusstsein der Versammelten: Der Gnom begann wie von Sinnen zu schreien und plötzlich war der Bann gebrochen. Einige sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und stürzten zu der Toten, während der Schock andere mit kalten Klauen an ihre Plätze fesselte.
Faust spürte, wie ihn all die Anspannung der letzten Stunden jäh aus ihrem Griff entließ. Ihm schwindelte und er spürte eine grässliche Schwäche in den Beinen. Dann schnellte plötzlich etwas auf ihn zu und er schlug krachend gegen die Lehne seines Sitzes. Nachtmond! Mit blanken Händen, die sich im Sprung in Tigerklauen verwandelten, setzte der Tiermensch quer über den Tisch und stieß ihm die Klauen in die Kehle. Panisch schnappte Faust nach Luft, doch es trat nur roter Schaum aus dem Loch in seinem Hals.
Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf in Mius Schoß. Winter deckte ihn mit dem Rücken und hielt den Tiermenschen, der sich wimmernd am Boden wand, mit einem Beherrschungszauber im Bann.
Was soll der Mist?, wollte Faust seinen Angreifer anherrschen, doch seine Wut verrauchte, als er den Schmerz in Nachtmonds Augen sah.
Er kann nicht zwischen Zorn und Schmerz unterscheiden.
Die Erkenntnis versetzte ihm einen eisigen Stich. Omega war Nachtmonds Miu gewesen, der schützende Geist, der ihn vor sich selbst bewahrt hatte. Sie hatte den ganzen Orden zu dem gemacht, was er war. Ohne sie waren die Neun Schwerter nur… ein Tollhaus zerrütteter Seelen. Betroffen betrachtete er den Scherbenhaufen, den die Ordensführerin hinterlassen hatte. Ihre Leiche war fort und er konnte Hades nirgendwo sehen. Vermutlich hatte der Todespriester sie fortgetragen, um ihren Körper für die Beisetzung zu konservieren. Die anderen saßen in stummer Entgeisterung um den Tisch oder lagen sich schluchzend in den Armen. Faust suchte mit den Augen nach dem einzigen, den Omegas Tod nicht kalt erwischt hatte: Elijas harrte, die Hände auf den Tisch gestützt, in sich gekehrt in all dem Chaos, wie jemand, der dabei war, einen schweren Entschluss zu fassen.
„Elijas!“, rief Faust. Der Avariel hob jäh den Kopf. „Was hat sie dir erzählt?“
Die erwartungsschwere Stille brachte den Elfen in Zugzwang.
„Setzt euch“, befahl er leise. Doch er wartete, bis Hades zurückgekehrt war, ehe er zu einer Erklärung ansetzte: „Vor dreißig Jahren gerieten Hades, Nachtmond und mein Vorgänger in Gefangenschaft auf Cania, dem achten Kreis der Hölle. Omega brach auf, um ihre Freunde zu befreien. Sie kämpfte sich durch sieben Höllenkreise und drang bis in den Palast des Erzteufels Mephistopheles vor. Ihn jedoch konnte sie nicht bezwingen, ohne seine Geiseln zum Tode zu verurteilen. Darum bot sie ihm ihre Seele an, im Tausch gegen das Leben ihrer drei Freunde. Er nahm an und setzte ihr eine Frist vor dreißig Jahren. Diese Frist läuft mit der letzten Stunde dieses Tages ab. Omega wählte den Freitod, um nicht durch Mephistos Hand sterben zu müssen.“
Das schockstarre Schweigen, das auf diese Enthüllung folgte, fühlte sich an, als hätte trotzdem etwas von Canias eisiger Kälte Einzug in die Halle der Neun Schwerter gehalten. Hades erhob sich und verließ mit steifer Würde den Raum, bemüht den angekratzten Eispanzer um seine Seele zu versiegeln. Fausts Gedanken rasten. Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist. Langsam begann er den Schicksalsknoten zu sehen, den Omega schon seit langem gekannt haben musste…
„Seit wann weißt du davon?“, wandte er sich an Elijas.
„Seit heute Morgen“, antwortete der Avariel. „Omega hat mir die Leitung des Ordens übertragen, solange kein neuer Träger für Himmelssplitter gefunden ist.“
Die Zwergin erhob sich.
„Wir müssen ihre Seele befreien“, sagte sie entschlossen. „Was können wir tun, um sie zu retten?“
„Nichts“, erwiderte Elijas betrübt. „Wir können gar nichts tun, ohne ihrem letzten Befehl zuwider zu handeln.“
„Aber…“
„Es war ihr Wunsch, dass der Orden der Neun Schwerter weiter besteht. Das ist alles, was wir tun können, um ihr Andenken zu ehren.“ Sein Blick glitt über die Anwesenden und blieb dann an Faust hängen. „Was mich zum Gegenstand dieser Versammlung bringt: Die Strafvollstreckung obliegt dem Ersten Schwert. Ich verschiebe darum das Enthauptungsurteil gegen Faust auf unbestimmte Zeit. Das Ordensgericht ist damit aufgelöst.“
Elijas bat die anderen Schwerter zu gehen. Als er mit Faust und seinen Gefährten alleine war, fiel die Maske des beherrschten Anführers von ihm ab und Faust erkannte, wie sehr ihm vor der Verantwortung graute, die Omega ihm aufgebürdet hatte. Er wusste, was jetzt kommen würde, und die Aussicht erfüllte ihn mit flammender Euphorie.
„Omegas Befehl war an die Neun Schwerter gerichtet“, begann Elijas zögernd. „Allerdings…“
„Allerdings bin ich kein Schwert mehr“, unterbrach ihn Faust ungestüm. „Wir werden es tun. Wir werden in die Hölle gehen!“ Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an seine Freunde. „Tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe und ihr habt echt einen gut bei mir, aber ich fürchte, ich kann nicht allein…“
„Halt‘ die Klappe“, sagte Winter resolut. „Natürlich kommen wir mit!“
„Faust…“ Elijas schien weitaus weniger glücklich mit dieser Lösung. „Ich kann das Urteil gegen dich nicht aufheben. Ich kann dir nicht einmal versprechen, dass du dadurch deine Integrität im Orden zurückgewinnst.“
„Darum geht es mir gar nicht.“
„Ach nein? Du würdest durch die Hölle gehen und danach trotzdem deinen Kopf hinhalten?!“
„Du weißt genau, dass Omega dieses Schlupfloch nicht ohne Grund offen gelassen hat“, sagte Faust mit glänzenden Augen. „Ich kenne die ganze Geschichte, Elijas. Sie selbst hat sie mir gestern Abend anvertraut. Was Hades und den anderen widerfahren ist, war die Schuld meines Vaters. Mit mir schließt sich der Kreis. Es ist mein Schicksal, wiedergutzumachen, was er… verbockt hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles andere wird sich schon finden. Außerdem kann es nicht Omegas Wunsch sein, dass Mephisto ihre Seele zum Abendessen futtert! Mit ihren letzten Worten wollte sie vermutlich nur diejenigen schützen, die so eine Höllenfahrt nicht überstehen würden. Nachtmond und Hades haben noch von ihrem letzten Urlaub da unten einen Knacks weg, Tyrail würde dem erstbesten Teufel seine Seele versprechen, der ihm hilft die Menschheit auszurotten, die anderen drei sind zu unerfahren…“
„… und du bist ein wenig zu versessen darauf, deinen Vater dort unten zu finden“, bemerkte Elijas. Er sagte es mit entwaffnender Ironie, doch Faust entging nicht die unterschwellige Warnung. „Ich will nur sagen: Sei vorsichtig, Faust. In Kara-Tur erschauern die Menschen, wenn sie seinen Namen hören.“
Faust runzelte die Stirn: „Was weißt du über meinen Vater?“
„Ares ist ein Schwarzer Phönix-Magier. In Shou-Lung lernte ich beim Oberhaupt des Jadephönix-Ordens – ein Zirkel von Schwertmagiern, deren Kampfstil sich am Feuertanz des karaturianischen Phönix orientiert. Ihre Philosophie gründet auf dem ewigen Kreislauf von Leben und Wiedergeburt. Abtrünnige Ordensmitglieder, die sich von diesen Idealen entfernt haben, werden schwarze Phönixe genannt. Diese Abtrünnigen haben einen Weg gefunden, Macht aus der Lebenskraft anderer zu schöpfen und so ihre regenerativen Fähigkeiten zu stärken… Schon bevor er sich der Hölle verschrieb, war dein Vater mächtig und gefährlich, Faust. Und nach allem, was man hört, ist er eine einnehmende Persönlichkeit.“
„Deshalb werde ich ihm nicht die Füße küssen, sobald ich ihn sehe“, knurrte Faust.
„Das wäre auch eine ziemlich verstörende Vorstellung“, bemerkte Grimwardt trocken.
Elijas bedachte die vier Gefährten mit einem ungläubigen Kopfschütteln.
„Ich weiß nicht, ob die Aussicht auf eine Höllenfahrt schon jemals auf solche Euphorie gestoßen ist“, sagte er. „Dabei ist nicht einmal gesagt, ob es überhaupt möglich ist, eine Seele aus der Hölle zu befreien. Sicher ist nur, dass Omegas Seele eine große Bedeutung für Mephistopheles hat. Er wird sie nicht ohne Weiteres freigeben…“
„Dann helfen wir eben ein wenig nach.“ Faust grinste tatendurstig. „Übrigens… äh… wäre Zwiespalt bei dieser Mission wirklich eine Hilfe. Teufelskehlen sind seine Spezialität.“
Elijas seufzte.
„Hades wird mir den Kopf abreißen, wenn ich dich aus der Gefangenschaft entlasse und dir auch noch dein Schwert zurückgebe“, murmelte er. „Aber wenn ich euch schon in die Hölle schicke, ist das wohl das Geringste, was ich tun kann.“
Prolog
Drake
Abtei des Schwertes, Mirtul 1395 TZ.
Entgeistert sog die Menge die Luft ein, als sich die Leiche aufrichtete. Die Lichtstrahlen, die durch die Abteifenster in den Saal fielen, bündelten sich im Gesicht des Auferstandenen und enthüllten den Feuerglanz des Himmels über Kriegersruh, der noch in seinen weit aufgerissenen Augen funkelte. Lange herrschte Totenstille. Dann fielen die ersten Gläubigen auf die Knie, um Tempus für sein Wunder zu danken. Tempus oder Grimwardt. Für die meisten gab es da kaum noch einen Unterschied.
Drake wandte sich verächtlich ab.
Ein religiöser Mummenschanz. Ein hübsch inszeniertes Theaterstück, nichts weiter war diese ganze Veranstaltung. Grimwardt verstand es wirklich sich in Szene zu setzen. Wo war der grummelige Abteileiter geblieben, der all den heiligen Pomp verabscheute? Jetzt verlierst du endgültig den Boden unter den Füßen, Grimwardt Fedaykin! Egal - was ging ihn das an? Er war wegen des Auftrags hier. Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Grimwardt von den Toten zurückkehren würde. Alles andere wäre auch zu einfach gewesen…
„Drake!“
Winter hatte ihn in einer der Alkoven entdeckt und bahnte sich einen Weg zu ihm durch. Sie hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen und unter den Glücksfältchen der Erleichterung las er schuldige Verunsicherung. Sie spürt es, dachte Drake. Irgendwann würde Grimwardts Licht ihre Finsternis entlarven. Und die wurde immer tiefer. Ihr Gesicht war blasser geworden seit ihrer letzten Begegnung und die Schatten größer – lebendiger. Die Veränderung war subtil – jemand, der jeden Tag mit ihr zu tun hatte, würde sie kaum bemerkt haben. Auch Drake hätte sie wohl nur für Übermüdung gehalten, wäre er nicht schon einmal Zeuge einer solchen Verwandlung gewesen. Damals, bei seinem Mentor. Die Ironie zu werden, was man bekämpft, hatte er es genannt.
Hm, interessant.
„Scheint ja noch mal gutgegangen zu sein“, bemerkte Drake mit einem Nicken in Richtung des Totenbetts.
„Ja.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jetzt haben wir wenigstens einen Grund zu feiern. Komm, es gibt reichlich zu essen.“
„Danke, ich verzichte.“
Winter zuckte - ein wenig pikiert wegen der rüden Ablehnung - mit den Schultern.
„Wie du meinst.“
Stirnrunzelnd sah er ihr nach, als sie wieder in der Menge verschwand. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht geblieben…
Um den Blicken der Anwesenden zu entgehen, zog er sich die Kapuze tiefer in die Stirn, ehe er in die Geisterwelt eintrat, wo sich alle Bewegungen verlangsamten, die Farben zerflossen und die Formen zeitverzerrt und verschwommen wirkten. Unsichtbar und gestaltlos glitt er durch das Mauerwerk, das hier die Konsistenz einer zähflüssigen Masse hatte, und schritt unbehelligt durch die Massen, die vor der Abtei warteten. Während die Realität um ihn herum an Geschwindigkeit verlor, bewegte er sich schneller, sodass er die Abtei schon nach wenigen Minuten meilenweit hinter sich gelassen hatte. Am Ufer eines Flusslaufs kehrte er auf die materielle Ebene zurück. Seine Gedanken suchten nach der telepathischen Verbindung, die sein Auftraggeber zwischen ihnen erstellt hatte. Er hasste diese Art der Kommunikation – aber zumindest war sie sicher.
Ich habe Neuigkeiten. Er wartete, bis er die fremde Präsenz in seinem Geist spürte, ehe er fortfuhr: Grimwardt Fedaykin ist als Heiliger von den Toten zurückgekehrt. Und seine Schwester ist im Begriff sich in einen Umbranten zu verwandeln.
Kapitel I: Omegas Opfer
Faust
Schwerterteich, zwei Tage später.
Sein Magen zog sich zusammen, als er die Lichtung wiedererkannte. Eine Erinnerung malte klebrige Blutspuren ins Gras, wo der abgetrennte Kopf seines Lehrmeisters über den Waldboden gerollt war. Faust schüttelte den Kopf: Tyrail und sein Sinn für Dramatik! Für den Elfen schien die ganze Welt aus einem einzigen, ewigen Kampf zu bestehen: Das Licht der Elfen gegen das Zwielicht der Menschen. Aber Faust war es leid, von der Vergangenheit beherrscht zu werden.
„Sicher, dass du allein mit ihm fertig wirst?“, brummte Grimwardt.
Faust schnaubte grimmig.
Er kannte Tyrails Kampfstil. Er war auf Duelle spezialisiert; war darauf trainiert, alles auszublenden bis auf den einen Gegner… Faust würde einen Weg finden müssen, seinen Fokus zu brechen, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte.
„Tyrail ist irgendwo in der Nähe“, sagte er. „Er wird erst rauskommen, wenn ihr weg seid. Das hier muss ich alleine machen.“
Nachdem Miu ihn noch einmal mit einem eindringlichen Blick gewarnt hatte, nicht mehr Blut zu vergießen als nötig, zogen sich seine Freunde ins Dickicht zurück.
„Du kannst rauskommen, Tyrail!“
Nichts. Es dauerte noch einige Minuten, ehe sich der Elf am Rande der Lichtung zeigte. Vermutlich war er den anderen gefolgt, um sicherzugehen, dass sie sich auch tatsächlich zurückzogen.
Stumm harrten die beiden Kontrahenten einander gegenüber.
„Wusstest du, dass ich es war, der ihn fand?“ Tyrails Eisaugen wanderten über die Lichtung. „Sein Blut war noch warm…“
Faust wusste, es würde nichts ändern, wenn er sich entschuldigte. Es würde Tyrail nicht von seiner Besessenheit heilen. Fast wünschte er, den Elfen ebenso hassen zu können wie er ihn. Das würde vieles einfacher machen. Aber so sehr sich Tyrail auch in anderen Dingen irrte – in dieser Sache war er im Recht.
„Was passiert, wenn ich gewinne?“, murmelte er.
„Dann solltest du mich töten“, sagte der Elf ohne zu zögern. „Ich werde niemals aufhören dich zu jagen.“
Faust seufzte resigniert. „Wie du meinst.“
Steif verneigten sich die beiden Kontrahenten voreinander, ehe sie die Schwerter zogen.
„Aber keine faulen Tricks!“
Faust hatte die Mahnung noch nicht ausgesprochen, da schlug der Elf bereits die Hacken zusammen. Typisch Tyrail! Kaum jemand legte so viel Wert auf Soldatenehre wie er, aber im Kampf war ihm jedes Mittel Recht, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Faust spürte, wie die magischen Stiefel des Elfen ein leichtes Vibrieren aussandten. Die Luftbewegung ließ den Schriftzug erstarren, den der alte Sarrukh in seinen Arm geritzt hatte, und die Lichtung um sie herum gefror in der Zeit. Es funktioniert, stellte Faust begeistert fest. Dank des neuen Zeittricks gelang es ihm, sich in Tyrails Zeitstarre „hineinzumogeln“. Faust nutzte die Verblüffung seines Gegners, um eilig die Schriftrolle zu zücken, die er am Morgen in Silbrigmond besorgt hatte, und die magische Formel vom Pergament abzulesen. Jäh katapultierte der Zauber die beiden Kontrahenten zurück in den Zeitstrom. Das Glühen ihrer Schwerter verlosch und das kleine Irrlicht, das stetig um Tyrails Klinge tanzte, verschwand von der Bildfläche.
„Ulinu en‘lianter!“, fluchte der Elf gepresst. „Eine antimagische Zone?! Du verdammter Bastard!“
Spöttisch breitete Faust die Arme aus.
„Lass uns wie früher kämpfen!“ sagte er grinsend. „Ganz ohne Magie!“
Tyrails Verunsicherung beflügelte ihn. Er hatte ein wenig nachgeforscht und seinen Schwachpunkt gefunden: Das kleine Irrlicht war ein Klingengeist, ein manukeryth, der Geist eines verstorbenen elfischen Helden, aus dessen Beistand Tyrail während des Kampfes Kraft und Willensstärke schöpfte. Durch die Unterdrückung des magischen Gewebes verlor der Klingengeist seinen Kontakt zur materiellen Ebene. Natürlich beschnitt dies auch seine eigene Kampfkraft, doch Faust hoffte, dass der Nachteil auf Tyrails Seite überwiegen würde.
Der Elf nutzte den einzigen Vorteil, der ihm noch blieb: seine Gewandtheit. Pfeilschnell schoss er auf seinen Gegner zu, der ebenfalls losstürmte. Einen Herzschlag bevor Tyrail ihn erreichte, katapultierte sich Faust frontal in den Sprung. Der Elf reagierte mit einer Halbdrehung, um dem schmetternden Hieb auszuweichen. Die Bewegung lenkte seine Klinge ab, sodass sie nur einen blutigen Kratzer auf Fausts Oberkörper hinterließ. Doch Faust, der Tyrails Ausweichmanöver vorausgeahnt hatte, änderte im Sprung die Hiebrichtung und die niederfahrende Klinge brach schmetternd das Schlüsselbein seines Gegners. Während Tyrail, betäubt vor Schmerz, in die Knie brach, stieß sein Gegner ihm mit einem weiteren Hieb die Klinge in die Brust, sodass sie nur knapp sein Herz verfehlte. Brüllend vor Schmach und Enttäuschung riss Tyrail sein Schwert hoch, doch er war so geschwächt, dass ein einziger Fußtritt ausreichte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Grob packte Faust den Besiegten bei der Schulter und setzte ihm die Klinge an die Kehle.
„Willst du immer noch, dass ich es zu Ende bringe?“, knurrte er.
Verächtlich hustete Tyrail ihm einen Schwall Blut vor die Füße. Dann verdrehten sich seine Pupillen nach oben und er sackte bewusstlos in sich zusammen. Für einige Atemzüge harrte Faust unschlüssig über dem Besiegten. Du kannst ihn nicht einfach verbluten lassen. Egal, wie lange Tyrail seine Nemesis-Nummer noch durchziehen wollte, er war einmal so etwas wie sein Kampfgefährte gewesen. Hastig riss er Tyrails Hosenbein in Streifen, um die blutende Brustwunde abzubinden.
„Faust.“
Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum.
Das kann nicht sein.
Tyrails Klingengeist war in eine schemenhafte Projektion seines sterblichen Körpers geschlüpft. Die hohe Stirn, die ernsten schwarzen Augen… Faust spürte einen eisigen Schmerz in der Brust. Und dann sank er, der ewige Rebell, der in seinem ganzen Leben vor niemandem freiwillig das Haupt gebeugt hatte, in Demut auf die Knie.
„Thallastam“, flüsterte er erstickt.
„Ja, Faust, ich bin sein manukeryth.“
Langsam glitt der Geist näher und ein kummervoller Blick streifte den Bewusstlosen im Gras. „Nach meinem Tod bat ich die Götter, mich zurückzuschicken. Ich hatte bei dir versagt… Meine Seele fand keine Ruhe in dem Wissen, dass auch mein zweiter Schüler der Dunkelheit anheimfallen würde. Doch ich konnte ihn nicht retten. Seine Seele war zu sehr vom Hass zerfressen.“
Faust vermochte sich nicht zu rühren. Erst als eine kühle, substanzlose Berührung seine Schläfe streifte, sah er auf. Der Geist des alten Elfen hatte sich zu ihm ins Gras gekniet, sodass er gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich damals geirrt“, gestand Thallastam leise. „In dir schwelt der Weltenzorn deines Vaters. Aber ich habe die Wandlungsfähigkeit der Menschen unterschätzt.“
Faust schluckte heftig, doch der Kloß in seiner Kehle wollte nicht weichen.
„Könnt Ihr mir vergeben?“
„Nicht ich muss dir vergeben. Sondern die Lebenden.“
„Ihr wollt, dass ich mich dem Orden stelle?“
„Die Frage ist, ob du bereit bist dich ihrem Urteil zu unterwerfen. Die Rolle des bußfertigen Sünders stand dir nie besonders gut. Du wolltest immer als Held hierher zurückkehren…“
„Als Held?“, widersprach Faust erstaunt. „Nein, ich…“
Dann biss er sich auf die Lippen und senkte den Blick. Das Schicksal hatte sie hier zusammengeführt – dreiundzwanzig Jahre, nachdem er Thallastam auf eben dieser Lichtung getötet hatte. Irgendetwas musste das zu bedeuten haben. Vielleicht war das die zweite Chance, auf die er gehofft hatte. Und anders als er gehofft hatte, lag sie womöglich nicht in seiner Hand…
Grimwardt
Kurz darauf im Gasthaus 'Zu den Neun Schwertern'.
Grimwardt packte seine Schwester, die gehetzt aufgesprungen war, als Faust auf der Türschwelle erschienen war, am Arm und schüttelte stumm den Kopf. Das musste irgendwann kommen, sagte seine Geste. Doch nur widerwillig ließ sich Winter zurück auf den Platz drücken. Der Schwertkämpfer bedachte seine Freunde mit einem angriffslustigen Macht-euch-auf-was-gefasst-Zwinkern, ehe er sich ihren beiden Tischgefährten zuwandte: Die Freunde hatten Grimwardts zwergische Bekannte und ihren gnomischen Begleiter bei ihrer Ankunft im Gasthaus angetroffen.
„Ihr habt mich noch nie gesehen“, sprang Faust kopfüber ins kalte Wasser. „Aber vermutlich habt Ihr bereits von mir gehört. Ich bin Faust.“
Der Gnom sah plötzlich aus, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Das Bronzegesicht der Zwergin dagegen blieb unbewegt. Doch Grimwardt entging nicht der kurze Augenkontakt zwischen ihr und einer Rekrutin, die von einem anderen Tisch neugierig hinüber sah. Auf ein kurzes Nicken der Schwertmeisterin strahl sich das Mädchen unauffällig aus der Tür.
„Der Faust?!“, prustete der Gnom indessen.
„Nicht der mit dem Teufelspakt.“
„Teufelspakt? Das wird ja immer besser!“
„Hast du nicht zugehört?“, brummte Faust ungnädig. „Das war ich nicht!“
„Dann leugnest du wohl auch die anderen Dinge, die man dir zur Last legt, wie?“
„Falls du auf die Sache mit Thallastam anspielst - in dem Punkt ist an den Gerüchten wohl ausnahmsweise was Wahres dran.“
Der Gnom sprang auf.
„Tu nicht so empört“, knurrte Faust. „Mal ehrlich: In dem Laden hier ist doch keiner so lammfromm wie ihr gerne tut!“
Mit einem unterdrückten Stöhnen fuhr sich Grimwardt über die Stirn. Sein Freund bewies wieder einmal, dass er über das diplomatische Geschick eines orkischen Preisboxers verfügte. Die Rechnung folgte auch prompt auf den Fuß: Die Hand des Gnoms fuhr an sein Schwert.
„Pass auf, wen du hier beleidigst!“
Plötzlich waren alle Augen auf ihren Tisch gerichtet. Doch ehe sich die erhitzten Gemüter in einer handfesten Wirtshausprügelei entladen konnten, wurde es still und die Temperatur schien um einige Grade zu fallen.
„Faust!“, dröhnte Hades‘ Titanenstimme durch den Raum. Der Gnom kroch eilig zurück auf seinen Platz, um dem Todesrichter nicht im Weg zu stehen, als dieser wie der Schnitter persönlich heran rauschte.
Hades musterte den Zurückgekehrten von Kopf bis Fuß.
„Ihr habt Eure Erinnerung an Eure Ausbildung bei den Neun Schwertern wiedererlangt?“
Faust deutete ein Nicken an.
„In diesem Fall nehme ich Euch, Desmond ‚Faust‘ MacLancastor, im Namen der Neun Schwerter in Gewahrsam“, erklärte Hades förmlich. „Ihr steht im Verdacht, am siebzehnten Tag der Flammleite im Jahre 1372 TZ den Elfen Lydanias ‚Thallastam‘ Feawyn auf unehrenhafte Weise getötet zu haben. Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen.“
Mit zögernden Bewegungen löste Faust den Schwertgurt.
„Ich will ein Ordensgericht“, verlangte er.
„Das ist Euer Recht.“
Grimwardt glaubte Fausts Zähne knirschen zu hören, als er Zwiespalt mit blanker Klinge übergab. Die Chaosklinge durchlief eine wütende Farbtransformation, als Hades sie entgegennahm. Der Richter berührte die Waffe nur mit zwei Fingern und hielt sie weit von sich wie ein bissiges Tier, ehe er sie mit gerümpfter Nase seinem Schwertnovizen übergab, der ihm wie ein Hund auf den Fuß gefolgt war.
„Und Eure magischen Gegenstände“, verlangte er. „Einschließlich Eures Zauberbuchs.“
„Dann bin ich nackt!“, knurrte Faust, der abgesehen von den magischen Schulterplatten, Armschienen und Lederstiefeln nur ein rotes Tuch um die Hüfte trug.
„Ich bestehe darauf“, sagte Hades unerbittlich.
War Fausts öffentliche Demütigung von ihm beabsichtigt? Oder befolgte der Todespriester einfach nur das Protokoll? Manchmal meinte Grimwardt, wenn auch nur für kurz, unter Hades‘ Panzer der Rechtschaffenheit eine sardonische Mutwilligkeit aufblitzen zu sehen. Faust nahm es augenscheinlich gelassen, als er sich mit flegelhafter Gemächlichkeit vor den Augen der Wirtshausgäste entblößte. Selbst als Hades ihn mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aus dem Gasthaus manövrierte und wie eine Trophäe durch den Ort trieb, bewahrte er sich seine Unbekümmertheit. Erst als er sah, wohin die Reise ging, flackerte für einen Augenblick zorniger Widerstand in seinen Augen auf.
„Ist das wirklich nötig, Hades?“, murmelte er mit gepresster Stimme.
„Ja.“ Der Richter blieb niemals eine Antwort schuldig.
Stur sperrte er Faust in einen der beiden Käfige vor Omegas Haus. In dem anderen kauerte, mit borstig gesträubtem Nackenhaar, der Tiermensch, der Grimwardt schon bei seinem ersten Besuch in Schwerterteich Gänsehaut bereitet hatte. Hades sprach einen Teleportationsbann über den Käfig.
„Nachtmond wird Alarm schlagen, solltet Ihr versuchen zu fliehen“, erklärte er gleichmütig.
Winter, die die Szene mit knirschenden Zähnen beobachtet hatte, ballte entschlossen die Fäuste.
„Das reicht!“, zischte sie. „Wir müssen ihn da rausholen!“
„Nein.“ Grimwardt legte ihr beschwichtigend den Arm auf die Schulter. „Er tut das Richtige, Winter.“
Winter
Abends.
In der Einsamkeit seiner Zelle war Fausts Unbekümmertheit düsterer Resignation gewichen. Er wirkte blass und ungewohnt verletzlich in dem unförmigen Leinenhemd, das dem Schwiegersohn der Wirtsherrin gehörte. Der Anblick versetzte Winter einen Stich. Faust hatte immer eine gewisse Immunität gegen die Zeichen besessen, die sie und Grimwardt in böse Vorahnungen verstrickten. Doch nun hatte selbst ihn sein Glück verlassen.
„Faust!“
Heimlich kauerte sie sich in den Schatten des Käfigs.
„Ich komme gerade von Hades.“ Sie sprach in raschem Flüsterton, um Nachtmond nicht auf sich aufmerksam zu machen. „Schlechte Neuigkeiten: Er wird dich wegen Totschlags anklagen. Die Strafe lautet auf Henkerstod durch das Schwert. Laut seines lächerlichen Ordenskodex‘ ist das ehrenhafter als der Tod durch den Strang.“ Sie schnaubte düster. „Als ob das einen Unterschied machen würde!“
„Naja“, murmelte Faust. „Besser eine saubere Enthauptung als die Schmach vor dem ganzen Orden am Galgen zu zucken…“
„Oh.“ Winter hielt irritiert inne. „Du denkst genauso? Naja, wie auch immer, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, dich aus diesem Schlamassel rauszuholen. Hades hat uns gestattet der Verhandlung als Leumundszeugen beizuwohnen. Und ich habe den Verhandlungsraum gesehen, Faust! Er ist nicht einmal magisch gesichert! Wenn sie dich also verurteilen sollten…“
„Sie werden mich verurteilen“, fiel ihr Faust mit finsterer Miene ins Wort. „Ich habe alles gestanden.“
„Du hast was?!“ Winters Gesichtszüge erstarrten.
„Hades hat das Verhör geführt“, erklärte er ruhig. „Ich stand unter dem Einfluss seines Wahrheitszaubers, als ich meine Aussage machte.“
Seine Entschlossenheit erstickte Winters Tatendrang.
„Dann hat Grimwardt also recht“, murmelte sie beklommen. „Du.. willst das durchziehen, hm?“
„Wenn es das Schicksal so will…“
Winter stutzte und schüttelte jäh den Kopf.
„Nein!“ Mit einem Mal machte sein Fatalismus sie wütend. „Das bist nicht du, Faust! Außerdem ist es nicht das Schicksal, das dich verurteilen wird, sondern ein Pack unzurechnungsfähiger Irrer! Mal ehrlich! Was ist das für ein Orden, der einen halbnackten Wilden und einen tyrannischen Gefühlszombie zu Richtern macht?!“
„Schön gesagt.“ Ein fahles Grinsen huschte über sein Gesicht. „Nein, ehrlich, Winter, ich werde nicht schon wieder davonlaufen.“
„Gibt es denn irgendetwas, das ich tun kann?“
„Du könntest mir irgendwo ein sauberes Hemd und eine vernünftige Hose besorgen“, brummte er. „In diesem Sack hier stinke ich wie ‘ne Pellkartoffel.“
„Du stinkst wie er!“, drang ein finsteres Knurren aus Nachtmonds Käfig.
Erstaunt spähten die beiden in die Richtung, aus welcher der Einwand gekommen war, doch die nachtschwarze Höhle des Tiermenschen gab ihren Bewohner nicht preis.
„Ich wusste nicht, dass er sprechen kann!“, wisperte Winter verblüfft. Und das war nicht der einzige Punkt, in dem sie Nachtmond unterschätzt hatte. „Hat er etwa verstanden, was wir gesagt haben… Faust?“
Er war aufgestanden und näherte sich vorsichtig dem Nachbarkäfig.
„Wer ist ‚er‘?“
Ein leises Knurren begleitete jede seiner Bewegungen, das sich plötzlich in einem zischenden Fauchen entlud. Faust hielt inne und hockte sich kauernd zu Boden.
„Du sprichst von meinem Vater, oder? Von dem, der vor mir Faust genannt wurde.“
„Faust der Verräter!“
„Wen hat er verraten?“
Nachtmond antwortete mit einem kehligen Laut - halb Grunzen, halb boshaftes Lachen. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Enttäuscht gab Faust schließlich auf und kehrte zu Winter zurück.
Lange starrten die beiden schweigend in die Nacht.
„Ich kann dich nicht umstimmen, oder?“, murmelte Winter schließlich unglücklich.
Ein angedeutetes Kopfschütteln.
„Lass uns wenigstens ein Zeichen vereinbaren“, bat sie. „Falls du es dir während der Verhandlung anders überlegst.“
„Wenn ich schreie wie ein Mädchen“, brummte Faust düster.
Faust
Früh am nächsten Morgen.
Leise Stimmen weckten ihn aus einem unruhigen Schlaf. Als er sich fröstelnd aufrichtete, erspähte er im Zwielicht zwei Silhouetten: Omega, die in Nachtmonds geöffneter Käfigtür kniete und wie eine Schlangenbeschwörerin auf den vor ihr kauernden Tiermenschen einredete. Nachtmonds Kopf schnellte in die Höhe, als er Fausts Blick auf sich spürte, doch er beließ es bei einem ungnädigen Schnauben. Kurz darauf erhob er sich in jäher Unruhe und ein Schaudern durchzuckte seinen Körper, zerrte an seinen Gliedern und streckte sie in die Länge, während ihm Haare am ganzen Körper sprossen. Die Verwandlung war schrecklich mitanzusehen. Doch Nachtmond schien daran gewöhnt zu sein. Als es vorüber war, schüttelte der gewandelte Tiger nur kurz die Benommenheit ab und verschwand dann mit einem Satz im Gebüsch. Faust kniff die Augen zusammen - er war noch nicht lange genug wach, um der unwirklichen Szene zu trauen. Doch es wurde noch eigenartiger.
„Willst du ein Stück mit uns kommen?“ Die Ordensführerin trat an seinen Käfig und entriegelte die Tür, als sei nichts Besonderes dabei, einen Strafgefangenen auf einen Spaziergang im Morgengrauen einzuladen.
Argwöhnisch folgte Faust ihr in den Tempelgarten. Unwirklich stach das satte Rosa der Kirchbäume aus der frühmorgendlichen Welt in Grau. Sie schlenderten schweigend durch die dunsttrübe Morgenidylle und beobachteten den Tiger dabei, wie er seinen Jähzorn an einem Baumstamm ausließ. Nachdem er den Kirschbaum nacktgeschüttelt hatte, ließ er sich schnaubend am Ufer des magischen Teiches nieder, der Schwerterteich seinen Namen gab. Hierhin würden die neun Schwerter der Ordensmitglieder nach dem Tod ihrer Träger zurückkehren und erst wieder aus dem Wasser tauchen, wenn ein Nachfolger gefunden war…
„Wie war mein Vater?“, fragte Faust plötzlich unvermittelt.
„Ares war ein ehrgeiziger Mann“, erwiderte Omega ohne den Blick von dem Tiger zu wenden. „Er huldigte niemandem, respektierte die Starken und ignorierte die Schwachen…“
„Nachtmond nannte ihn einen Verräter… Was ist damals geschehen?“
Sie schwieg so lange, dass Faust glaubte, sie habe seine Frage bereits vergessen.
„Es war noch nicht lange her, dass ich den Orden in Faerûn neu begründet hatte, hundert Jahre nachdem das letzte Schwert in Shu-Lung umgekommen war. Thallastam, Hades, Nachtmond und dein Vater waren die ersten Schwerter der neuen Generation. Ihr letzter gemeinsamer Auftrag als Abenteurer führte sie in die Tiefen des achten Höllenkreises. Es ging um die Befreiung eines Sohns des damarischen Königs aus den Folterkammern Canias. Dort verriet dein Vater seine Freunde und überließ sie Mephistos Folterknechten. Er hatte einen Pakt mit einem Teufel an dessen Hof geschlossen, der ihn zum Halbteufel machte. Der Verrat an seinen Freunden war Teil des Preises, den er zahlte.“
Faust hob verwundert den Kopf.
„Wie konnten die anderen aus der Hölle entkommen?“
Eine Erinnerung berührte Omegas Gesicht und stahl den Glanz aus ihren Augen.
„Sie flohen“, sagte sie leise. „Eine offene Tür, ein unachtsamer Wachtposten, eine glückliche Verkettung von Umständen… Natürlich gibt es keine solchen Zufälle in den Folterkammern von Cania. Ich hatte dafür gesorgt, dass es so kam, doch das erfuhren sie nie.“
„Ich kann schweigen, wenn Ihr die Sache lieber für Euch behalten wollt“, beeilte sich Faust ihr zu versichern.
Ein schmerzliches Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken.
„Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist, Faust“, sagte sie und ihr Blick entglitt in die Nebel der Zukunft.
Winter
Am nächsten Tag in der Halle der Schwerter.
Laut klapperten Klingen und Rüstungen, als sich die neun Schwertmeister im Kreis um den Wappentisch versammelten. In zeremoniellem Einklang zogen sie ihre Schwerter und legten sie vor sich auf die Steinplatte, sodass die Spitzen zur Mitte des Schicksalsrads deuteten. Nur Fausts Klinge Zwiespalt fehlte. Wenigstens hatte Hades darauf verzichtet, ihm Handschellen oder Fußfesseln anzulegen. Nachdem Omega die rituellen Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen die Versammelten Platz: Die Ordensführerin kam als erste, dann folgten Elijas, Hades, Nachtmond, die Zwergin, Tyrail, Faust, eine Dunkelelfe, die Winter hier zum ersten Mal sah, und der Gnom aus dem Gasthaus. Als sich Hades erhob, um die Anklageschrift zu verlesen, senkte sich andächtiges Schweigen über das Ordensgericht.
Winter, die neben Grimwardt und Miu auf der Zeugenbank saß, schenkte den Worten des Richters kaum Beachtung. Heimlich hatte sie begonnen den Raum nach Schutzmagie abzusuchen. Ein schwacher Teleportationsbann, erst kürzlich gewirkt, lag über dem Steintisch – mit einem Gegenbann wäre er leicht aufzuheben. Viel schwieriger würde es werden, Faust gegen seinen Willen aus dem Raum zu teleportieren. Und das alles, bevor irgendwer eingreifen konnte. Winter kniff mutlos die Augen zusammen. Ohne Hilfe war sie aufgeschmissen! Von ihren Gefährten war keine Unterstützung zu erwarten. Grimwardt war von der Richtigkeit von Fausts Handeln überzeugt, selbst wenn es ihn umbrächte, und Miu… wer wusste schon, was Miu dachte? Vielleicht glaubte sie so fest daran, dass die Ahnengeister, zu denen sie betete, ihre schützende Hand über ihren Schützling hielten, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, dass diese Sache böse für ihn enden könnte.
„Während des Verhörs zeigte sich der Angeklagte reumütig“, sprach Hades zum Abschluss seiner Anklageverlesung „Zeitweise waren seine Schilderungen konfus und repetitiv, was auf emotionale Anteilnahme schließen lässt.“
Winter konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen.
Emotionale Anteilnahme, als ob du wüsstest, was das bedeutet!
„Möchten die Leumundszeugen dieser Darstellung etwas hinzufügen?“, wandte sich der Richter mit scharfem Unterton an den Störenfried.
Winter räusperte sich und senkte schuldbewusst den Blick.
„Wenn es mir gestattet ist, Euer Ehren“, sagte sie artig.
„Ich übergebe das Wort an Winter Fedaykin-Dantés.“
Sie erhob sich. „Verzeiht, aber wenn ich das richtig verstanden habe, fand …äh… das Delikt, dessen Faust bezichtigt wird, doch im Rahmen eines Duells statt, oder nicht?“
„Streng genommen handelte es sich um einen nicht näher definierten Zweikampf“, berichtigte Hades, „da dem Kampf keine formelle Duellforderung vorausgegangen war.“
„Zweikampf oder Duell – auf jeden Fall wussten beide, worauf sie sich einließen“, beharrte Winter. „Dass der Kampf tödlich enden konnte, nahmen sie in Kauf, als…“
„Hör mit dem Schöngerede auf, Winter!“, fiel ihr Faust ungeduldig ins Wort. Er hatte sich halb zu ihr umgedreht, doch seine Worte waren an alle gerichtet. „Ich tötete Thallastam, als er unbewaffnet am Boden kniete, um für meine Seele zu beten. Daran gibt es nichts schönzureden. Ich war jung – vielleicht viel zu jung, um mit dieser Macht umzugehen.“
Winter schloss ergeben die Augen. Faust, du verdammter Querkopf! Schön, wenn du hier den geläuterten Sünder mimen willst, geh – reite dich selbst ins Unglück! Ich habe alles versucht!
„Ich will überhaupt nichts bestreiten“, fuhr Faust fort. „Aber mich ärgert eure verdammte Heuchelei! Mal ehrlich, wer von euch hat denn keinen Dreck am Stecken! Tyrail, was ist zum Beispiel mit dir? Gegen die bösen Scherze, die du und deine Eldreth-Veluuthra-Freunde euch früher erlaubt habt, waren meine Vergehen ja wohl gar nichts!“
Der Elf stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Deine Ablenkungsmanöver waren schon immer für jeden Ork zu durchschauen! Du bist so erbärmlich, Faust!“
„Tyrail! Faust!“, rief Hades die beiden Erzfeinde zur Ruhe. „Tyrail, niemand hat Euch das Wort erteilt! Faust, Ihr seid es, der hier vor Gericht steht, nicht Tyrail. Bleibt gefälligst bei den Fakten, die den Fall betreffen!“
„Um den Fall geht es doch überhaupt nicht! Diese ganze Verhandlung ist eine Farce! Ihr habt Euer Urteil doch schon längst gefällt und nun formuliert Ihr die Anklage auf eine Weise, die den anderen gar keine andere Möglichkeit lässt als mich zu verurteilen!“
Eine steile Falte hatte sich in die Stirn des Richters gegraben.
Faust spannte die Kiefermuskeln, um sich aus der Rage zu winden, in die er sich geredet hatte. „Ich habe es getan, ja“, gestand er ruhiger. „Ich habe Thallastam getötet. Aber ich habe mich geändert. Die Frage ist also nicht, ob ich schuldig bin, sondern ob ihr mich für eine Tat zu Tode verurteilen wollt, die ich beging, als ich noch fast ein Kind war.“
Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Hades wieder das Wort.
„Gibt es noch weitere Zeugen, die zu diesem Fall aussagen wollen?“
„Was ist mit Thallastams Geist?“, fragte Faust.
Hades runzelte verständnislos die Stirn.
„Ich verstehe nicht, was die Frage bedeuten soll.“
Tyrail war in zorniger Erregung aufgesprungen, doch Faust ignorierte seinen stummen Einspruch. „Der Mann, den ich tötete, wandelt als Tyrails Klingengeist unter uns.“
„Ruhe!“ Hades hatte Mühe, den Tumult zu übertönen, der sich auf diese Enthüllung in der Halle erhob. Selbst dem eisernen Richter war die Verblüffung anzusehen, als er sich an den Elfen wandte. „Könnt Ihr das bestätigen, Tyrail?“
Tyrails Blicke durchbohrten Faust wie vergiftete Dolche.
„Ja“, knirschte er ohne die Augen von seinem Hassobjekt zu wenden.
„Ist es Euch möglich, ihn herzurufen?“
„Nein!“ Er spuckte dem Richter das Wort förmlich ins Gesicht. „Das kann ich nicht, selbst wenn ich wollte! Und es war niemals Thallastams Wunsch, dass Faust seine Identität vor dem versammelten Orden entlarvt!“
Hades musterte den aufgebrachten Elf mit stechenden Blicken.
„Ihr sprecht die Wahrheit“, erkannte er. „Es wird festgehalten: Das Opfer verweigert jegliche Aussage gegen oder zugunsten des Täters.“
Faust senkte betroffen den Blick.
„Kommen wir nun zur Abstimmung durch das Ordensgericht. Die Anklage bezichtigt das Ordensmitglied Faust der unehrenhaften Tötung im Affekt. Im Falle einer Verurteilung droht dem Angeklagten der Tod durch Enthauptung. Die Ordensmitglieder sind aufgefordert Ihr Urteil nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen. Der Angeklagte möge sich erheben.“
Nervös griff Winter nach Mius Hand. Das besänftigende Wesen der Ordensschwester durchströmte sie wie ein wohltuender Sirup und sie wünschte, Faust in diesem Moment etwas von dieser Ruhe abgeben zu können.
„Das Urteil des Ersten Schwertes!“, eröffnete Hades die Abstimmung.
„Ich enthalte mich dem Urteil“, erklärte Omega mit unbestechlicher Gleichmut.
„Das Urteil des Zweiten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Elijas hatte während der ganzen Verurteilung unkonzentriert und ein wenig kränklich gewirkt. Doch nun streifte er Faust mit einem mitfühlenden Blick.
„Das Urteil des Dritten Schwertes lautet auf schuldig“, gab Hades seine eigene Stimme ab. „Das Urteil des Vierten Schwertes!“
„Schuldig“, knurrte Nachtmond mit Inbrunst.
„Das Urteil des Fünften Schwertes!“
„Enthaltung“, sagte die Zwergin knapp.
„Das Urteil des Sechsten Schwertes!“
„Es war Mord“, erklärte Tyrail kalt. „Nicht Totschlag. Ich erkenne weder die Anklage noch dieses Gericht an.“
Faust lachte düster auf. „Du willst doch nur selbst derjenige sein, der mir das Schwert in die Brust rammt, Tyrail!“
„Das Gericht wertet diese Aussage als Enthaltung“, entschied Hades. „Das Urteil des Achten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Der Freispruch der dunkelelfischen Schwertmeisterin kam unerwartet. Offenbar war Fausts Ehrlichkeit nicht überall auf taube Ohren gestoßen.
„Das Urteil des Neunten Schwertes!“
Der Gnom hob erstaunt den Kopf, als er erkannte, welche Macht ihm plötzlich zuteilwurde. Es stand 2:2. Und dann breitete sich – mit schleichender Langsamkeit – ein gehässiges Lächeln auf seinen Lippen aus.
„Schuldig“, sprach er.
Faust
Wie betäubt harrte sein Blick auf den Tuschezeichnungen, welche die Pergamentwände bedeckten. Während Hades das Urteil über ihn sprach, wanderte das hereinfallende Licht ein Stück nach Westen und ließ die Ordenskrieger vergessener Zeiten in verzerrter Gestalt durch den Raum wandern. Wie grinsende Totengeister, die ihn zu sich riefen. Bist du nun zufrieden, Thallastam? Zu Tode verurteilt wegen eines belanglosen Wirtshausstreits mit einem Fremden! Am liebsten hätte er laut losgelacht, aber er wollte nicht als lachender Irrer an dieser Wand dort enden.
Das Singen einer Schwertscheide riss ihn aus seiner Starre.
Omega hatte sich erhoben. Himmelssplitter, das mächtigste der Ordensschwerter, lag blank in ihrer Rechten. Das kristallene Licht der Glasstahlklinge vertrieb die Schatten der Ahnengeister. Wollte sie das Urteil etwa sofort vollstrecken? Sollte sein Blut hier über dem Schicksalsrad der Neun Schwerter vergossen werden?
„Liebe Freunde - Schwerter des Ordens“, sprach Omega. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen riesig wie bei einem jungen Mädchen bei seinem ersten Kuss. Faust vermochte sich keinen Reim auf diese seltsame Erregtheit zu machen. „Ich erteile euch hiermit den einzigen Befehl, den ich Euch je geben werde: Unternehmt nichts, um meine Seele zu retten! Kommt mir nicht nach!“
Was zur Hölle…?
Mit feierlicher Würde trat sie einen Schritt zurück und verneigte sich mit dem Schwert auf der Brust. Die letzte Verbeugung. Ein Ritual der Samurai-Krieger von Wa, kurz bevor sie… in den Freitod gingen! In einer fließenden, harmonischen Bewegung packte Omega das Schwert mit beiden Händen und stieß sich die Klinge mit großer Präzision mitten ins Herz. Geistesgegenwärtig – erstaunlich geistesgegenwärtig – sprang Elijas vor, um sie aufzufangen: Sie war tot, ehe ihr Körper in den Armen des Avariel zu Boden sank.
Es war absurd. Völlig undenkbar.
Erst als Omegas Blut sich um den Fuß des Gnoms zu ihrer Rechten zu sammeln begann, schlich sich ihr Tod in das Bewusstsein der Versammelten: Der Gnom begann wie von Sinnen zu schreien und plötzlich war der Bann gebrochen. Einige sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und stürzten zu der Toten, während der Schock andere mit kalten Klauen an ihre Plätze fesselte.
Faust spürte, wie ihn all die Anspannung der letzten Stunden jäh aus ihrem Griff entließ. Ihm schwindelte und er spürte eine grässliche Schwäche in den Beinen. Dann schnellte plötzlich etwas auf ihn zu und er schlug krachend gegen die Lehne seines Sitzes. Nachtmond! Mit blanken Händen, die sich im Sprung in Tigerklauen verwandelten, setzte der Tiermensch quer über den Tisch und stieß ihm die Klauen in die Kehle. Panisch schnappte Faust nach Luft, doch es trat nur roter Schaum aus dem Loch in seinem Hals.
Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf in Mius Schoß. Winter deckte ihn mit dem Rücken und hielt den Tiermenschen, der sich wimmernd am Boden wand, mit einem Beherrschungszauber im Bann.
Was soll der Mist?, wollte Faust seinen Angreifer anherrschen, doch seine Wut verrauchte, als er den Schmerz in Nachtmonds Augen sah.
Er kann nicht zwischen Zorn und Schmerz unterscheiden.
Die Erkenntnis versetzte ihm einen eisigen Stich. Omega war Nachtmonds Miu gewesen, der schützende Geist, der ihn vor sich selbst bewahrt hatte. Sie hatte den ganzen Orden zu dem gemacht, was er war. Ohne sie waren die Neun Schwerter nur… ein Tollhaus zerrütteter Seelen. Betroffen betrachtete er den Scherbenhaufen, den die Ordensführerin hinterlassen hatte. Ihre Leiche war fort und er konnte Hades nirgendwo sehen. Vermutlich hatte der Todespriester sie fortgetragen, um ihren Körper für die Beisetzung zu konservieren. Die anderen saßen in stummer Entgeisterung um den Tisch oder lagen sich schluchzend in den Armen. Faust suchte mit den Augen nach dem einzigen, den Omegas Tod nicht kalt erwischt hatte: Elijas harrte, die Hände auf den Tisch gestützt, in sich gekehrt in all dem Chaos, wie jemand, der dabei war, einen schweren Entschluss zu fassen.
„Elijas!“, rief Faust. Der Avariel hob jäh den Kopf. „Was hat sie dir erzählt?“
Die erwartungsschwere Stille brachte den Elfen in Zugzwang.
„Setzt euch“, befahl er leise. Doch er wartete, bis Hades zurückgekehrt war, ehe er zu einer Erklärung ansetzte: „Vor dreißig Jahren gerieten Hades, Nachtmond und mein Vorgänger in Gefangenschaft auf Cania, dem achten Kreis der Hölle. Omega brach auf, um ihre Freunde zu befreien. Sie kämpfte sich durch sieben Höllenkreise und drang bis in den Palast des Erzteufels Mephistopheles vor. Ihn jedoch konnte sie nicht bezwingen, ohne seine Geiseln zum Tode zu verurteilen. Darum bot sie ihm ihre Seele an, im Tausch gegen das Leben ihrer drei Freunde. Er nahm an und setzte ihr eine Frist vor dreißig Jahren. Diese Frist läuft mit der letzten Stunde dieses Tages ab. Omega wählte den Freitod, um nicht durch Mephistos Hand sterben zu müssen.“
Das schockstarre Schweigen, das auf diese Enthüllung folgte, fühlte sich an, als hätte trotzdem etwas von Canias eisiger Kälte Einzug in die Halle der Neun Schwerter gehalten. Hades erhob sich und verließ mit steifer Würde den Raum, bemüht den angekratzten Eispanzer um seine Seele zu versiegeln. Fausts Gedanken rasten. Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist. Langsam begann er den Schicksalsknoten zu sehen, den Omega schon seit langem gekannt haben musste…
„Seit wann weißt du davon?“, wandte er sich an Elijas.
„Seit heute Morgen“, antwortete der Avariel. „Omega hat mir die Leitung des Ordens übertragen, solange kein neuer Träger für Himmelssplitter gefunden ist.“
Die Zwergin erhob sich.
„Wir müssen ihre Seele befreien“, sagte sie entschlossen. „Was können wir tun, um sie zu retten?“
„Nichts“, erwiderte Elijas betrübt. „Wir können gar nichts tun, ohne ihrem letzten Befehl zuwider zu handeln.“
„Aber…“
„Es war ihr Wunsch, dass der Orden der Neun Schwerter weiter besteht. Das ist alles, was wir tun können, um ihr Andenken zu ehren.“ Sein Blick glitt über die Anwesenden und blieb dann an Faust hängen. „Was mich zum Gegenstand dieser Versammlung bringt: Die Strafvollstreckung obliegt dem Ersten Schwert. Ich verschiebe darum das Enthauptungsurteil gegen Faust auf unbestimmte Zeit. Das Ordensgericht ist damit aufgelöst.“
Elijas bat die anderen Schwerter zu gehen. Als er mit Faust und seinen Gefährten alleine war, fiel die Maske des beherrschten Anführers von ihm ab und Faust erkannte, wie sehr ihm vor der Verantwortung graute, die Omega ihm aufgebürdet hatte. Er wusste, was jetzt kommen würde, und die Aussicht erfüllte ihn mit flammender Euphorie.
„Omegas Befehl war an die Neun Schwerter gerichtet“, begann Elijas zögernd. „Allerdings…“
„Allerdings bin ich kein Schwert mehr“, unterbrach ihn Faust ungestüm. „Wir werden es tun. Wir werden in die Hölle gehen!“ Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an seine Freunde. „Tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe und ihr habt echt einen gut bei mir, aber ich fürchte, ich kann nicht allein…“
„Halt‘ die Klappe“, sagte Winter resolut. „Natürlich kommen wir mit!“
„Faust…“ Elijas schien weitaus weniger glücklich mit dieser Lösung. „Ich kann das Urteil gegen dich nicht aufheben. Ich kann dir nicht einmal versprechen, dass du dadurch deine Integrität im Orden zurückgewinnst.“
„Darum geht es mir gar nicht.“
„Ach nein? Du würdest durch die Hölle gehen und danach trotzdem deinen Kopf hinhalten?!“
„Du weißt genau, dass Omega dieses Schlupfloch nicht ohne Grund offen gelassen hat“, sagte Faust mit glänzenden Augen. „Ich kenne die ganze Geschichte, Elijas. Sie selbst hat sie mir gestern Abend anvertraut. Was Hades und den anderen widerfahren ist, war die Schuld meines Vaters. Mit mir schließt sich der Kreis. Es ist mein Schicksal, wiedergutzumachen, was er… verbockt hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles andere wird sich schon finden. Außerdem kann es nicht Omegas Wunsch sein, dass Mephisto ihre Seele zum Abendessen futtert! Mit ihren letzten Worten wollte sie vermutlich nur diejenigen schützen, die so eine Höllenfahrt nicht überstehen würden. Nachtmond und Hades haben noch von ihrem letzten Urlaub da unten einen Knacks weg, Tyrail würde dem erstbesten Teufel seine Seele versprechen, der ihm hilft die Menschheit auszurotten, die anderen drei sind zu unerfahren…“
„… und du bist ein wenig zu versessen darauf, deinen Vater dort unten zu finden“, bemerkte Elijas. Er sagte es mit entwaffnender Ironie, doch Faust entging nicht die unterschwellige Warnung. „Ich will nur sagen: Sei vorsichtig, Faust. In Kara-Tur erschauern die Menschen, wenn sie seinen Namen hören.“
Faust runzelte die Stirn: „Was weißt du über meinen Vater?“
„Ares ist ein Schwarzer Phönix-Magier. In Shou-Lung lernte ich beim Oberhaupt des Jadephönix-Ordens – ein Zirkel von Schwertmagiern, deren Kampfstil sich am Feuertanz des karaturianischen Phönix orientiert. Ihre Philosophie gründet auf dem ewigen Kreislauf von Leben und Wiedergeburt. Abtrünnige Ordensmitglieder, die sich von diesen Idealen entfernt haben, werden schwarze Phönixe genannt. Diese Abtrünnigen haben einen Weg gefunden, Macht aus der Lebenskraft anderer zu schöpfen und so ihre regenerativen Fähigkeiten zu stärken… Schon bevor er sich der Hölle verschrieb, war dein Vater mächtig und gefährlich, Faust. Und nach allem, was man hört, ist er eine einnehmende Persönlichkeit.“
„Deshalb werde ich ihm nicht die Füße küssen, sobald ich ihn sehe“, knurrte Faust.
„Das wäre auch eine ziemlich verstörende Vorstellung“, bemerkte Grimwardt trocken.
Elijas bedachte die vier Gefährten mit einem ungläubigen Kopfschütteln.
„Ich weiß nicht, ob die Aussicht auf eine Höllenfahrt schon jemals auf solche Euphorie gestoßen ist“, sagte er. „Dabei ist nicht einmal gesagt, ob es überhaupt möglich ist, eine Seele aus der Hölle zu befreien. Sicher ist nur, dass Omegas Seele eine große Bedeutung für Mephistopheles hat. Er wird sie nicht ohne Weiteres freigeben…“
„Dann helfen wir eben ein wenig nach.“ Faust grinste tatendurstig. „Übrigens… äh… wäre Zwiespalt bei dieser Mission wirklich eine Hilfe. Teufelskehlen sind seine Spezialität.“
Elijas seufzte.
„Hades wird mir den Kopf abreißen, wenn ich dich aus der Gefangenschaft entlasse und dir auch noch dein Schwert zurückgebe“, murmelte er. „Aber wenn ich euch schon in die Hölle schicke, ist das wohl das Geringste, was ich tun kann.“