_Kapitel II: Die Portalstadt
Grimwardt
Schwerterteich, eine Woche später.
Die Vision hat ihn ins Schlachtental geführt. Einst war die Burgruine eine trutzige Festung, die Belarus errichtete, ein treuer Diener des Feindhammers. Ein heiliges Licht bricht durch die Wolken. Eldan spürt sein Herz schneller schlagen und beschleunigt seine Schritte. Das Himmelszeichen führt ihn zu einem zerbrochenen Altar. Also ist es wahr: Hier wird er die Abtei errichten! So will es Tempus! Eldan geht zum Gebet auf die Knie, um seinem Herrn für die Offenbarung zu danken. Dabei fällt sein Blick auf einen vorstehenden Block am Sockel des Altars. Er untersucht den Stein genauer und entdeckt einen Mechanismus, der ein Fach unter dem Altar öffnet. In einer Vertiefung findet er eine silberne Streitaxt. Eldan stockt der Atem, als er erkennt, was er da in Händen hält.
„Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften.“ Feierlich hält er die Waffe ins Licht, um die magischen Runen auf den Zwillingsblättern zum Leuchten zu bringen. Das soll fortan sein Name sein: Eldan Ambrose, Kriegspriester des Herrn der Schlachten.
Zehn Jahre später…
Verzweifelt holt Eldan zu einem Schildstoß aus, der den Dämon gegen die Mauer schleudert. Benommen bleibt der Glabrezu neben der Leiche des zweiten Dämons liegen, die bereits im Begriff ist sich in Schwefelsäure aufzulösen. Der Kriegspriester ignoriert den Schmerz der klaffenden Wunde, die eine der riesenhaften Klauen in seine Armbeuge gerissen hat. Er ignoriert auch das höhnische Lachen des Drowmagiers, der die beiden Ausgeburten des Abgrunds beschworen hat. Er muss das Portal schließen, ehe der Magier noch weitere Geschöpfe herbeirufen kann, sonst ist die Abtei verloren! Begleitet von einem Schwall Blut bröckeln die magischen Worte über seine Lippen. Er hält nicht inne, selbst als er den drohenden Schatten des Dämons über sich spürt, der zum Todesstoß ausholt.
Einige Jahre später…
Der Himmel spiegelt das Rot der Brände. Hier in der Hölle schwelt die Glut ohne Unterlass – tobt der Blutkrieg ohne Innehalten. Der Glabrezu Lechon wütet wie ein Berserker unter seinen Erzfeinden. Die Legion der Bartteufel, die der Teufelsgeneral gegen ihn in die Schlacht geführt hat, hat keine Chance gegen den wilden Sturm seiner Tana‘rii-Truppe. Der Kampf ist schon fast entschieden, als plötzlich ein weiterer Gegner auf dem Schlachtfeld auftaucht: ein Dämon, gehüllt in ein Körpergewand aus blutigen Hautfetzen, mit zwei Köpfen, einem Schlangen- und einem Wolfskopf. Zwei Äxte schwingend fegt er durch die Reihen der Teufel. Köpfe rollen mit jedem Schlag. Beim Lichte! Der Unbekannte stiehlt ihm den Ruhm! Lechons Empörung weicht im nächsten Moment widerwilliger Ehrfurcht: Die Aura der Macht, mit der sich der andere Dämon umgibt, zwingt ihn in die Knie.
„Wo hast du das her?“ Der Wolfskopf deutet auf die menschengroße Streitaxt, die neben den Skalpen getöteter Gegner an Lechons Gürtel baumelt.
„Gehörte einem Diener des Schlachtengotts“, bröckelt es knirschend über Lechons Lippen.
Der Schlangenkopf schnellt vor und reißt die Trophäe an sich. Als der magische Blick der Wolfsaugen die Waffe streift, leuchten die Runen auf, die dem Dämon bisher ihre Magie verweigert haben. Sie glühen blutrot, um den Dämon zu warnen, und verlöschen dann. Das Wolfsmaul stößt ein zorniges Brüllen aus, während die Schlange zynisch zischt.
„Eine Herausforderung des Eisengotts!“, sprechen beide Köpfe im Chor. „Nur zu, wir sind bereit!“
Der Traum spukte noch immer in düsteren Farben durch seinen Geist, als Grimwardt den Schankraum der Neun-Schwerter-Schenke betrat. Winter und Faust saßen bereits beim Frühstück. Grimwardt entging nicht, dass Winter bei seiner Ankunft ein Pergament unter dem Tisch verschwinden ließ. Er ahnte seit langem, dass die beiden ein Geheimnis hegten. Es gefiel ihm nicht, aber solange er nichts sah, was ihn ernsthaft beunruhigte, würde er es schlicht ignorieren.
„Wir sollten hier bald verschwinden“, begrüßte ihn Faust. „Hades, der alte Spielverderber, wälzt gerade Gesetzestexte, um einen Weg zu finden, mich wieder einzubuchten.“
„Ich habe alles, was ich für das Ritual brauche. Wenn es nach mir geht, segeln wir heute Abend über den Styx!“
Faust schien Grimwardts Tatendurst zu erstaunen. Der Priester hatte in den letzten Tagen wenig zu ihren Nachforschungen beigetragen und sich lieber um die Angelegenheiten der Abtei gekümmert. Sein Gefährte deutete das offenbar als fehlenden Eifer für ihr Vorhaben. Ganz unrecht hatte er nicht. Tatsächlich war der Priester zerrissen zwischen seiner Loyalität den Gefährten gegenüber und seinen Pflichten als Abteivorsteher. Gewiss, er war der Abtei schon oft für längere Zeit ferngeblieben. Grimwardt der Priestergeneral hatte sich das erlauben können, doch für Grimwardt den Auserwählten waren die Prioritäten neu gewichtet. Eine Höllenfahrt mochte allen Berechnungen nach Monate dauern – und er wollte nicht noch einmal zurückkehren und sein Lebenswerk in Dunkelheit vorfinden! Grimwardt war Tempus aus diesem Grund mehr als dankbar für seine Vision. Sie war mehr als die Aussicht auf eine heilige Vermächtniswaffe – sie war ein göttlicher Wegweiser.
Nachdem er den Freunden von seinem Traum erzählt hatte, fassten die Gefährten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zusammen. Alle teufelgebundenen Seelen tauchten nach dem Tod im Styx wieder auf, dem Schicksalsstrom, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Toten ihrem Bestimmungsort zuzuführen. In Omegas Fall war das der Seelensee des achten Höllenkreises, aus dessen Seelenmasse die Teufel von Cania ihre Macht schöpften. Der Styx gehorchte weder dem Willen von Göttern noch Teufeln, doch er passte sich stets der Ebene an, durch die er floss. In der Stadt der Seelen erschien er als silberner Strom, der den Toten den Weg ins Jenseits erleichterte. Doch in den Neun Höllen war er als blutige, zähflüssige Masse gefürchtet, die den Seelen ihre sterblichen Erinnerungen entzog. Waren erst alle Erinnerungen erloschen, so wäre es keiner Macht des Kosmos mehr möglich, Omegas Seele zurückzuholen. Doch die Ordensführerin war weit über tausend Jahre alt, es würde den Styx also einige Kraft kosten sie zu brechen. Das machte sie nur umso wertvoller für Mephisto.
Trotzdem blieb das Problem, dass die Jagd nach einer Seele im Seelensee der Suche nach der berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen glich. Ohne die Hilfe des Erzteufels, dem die Seele rechtmäßig zustand, würde es ihnen niemals gelingen sie zu befreien. Doch ehe sie anfangen konnten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Mephistopheles dazu bringen sollten, ihnen eine seiner wertvollsten Seelen zu überlassen, mussten sie erst einmal einen Weg in sein Reich Cania finden. Grimwardts göttliches Ritual würde sie nach Avernus bringen, den ersten der neun Höllenkreise, doch der Weg in die tieferen Schichten von Baator war ihnen versperrt. Die einzige Verbindung zwischen den Höllenkreisen war der Styx. Wie aber sollten sie sich durch sämtliche Kontroll- und Zollstationen auf ihrem Weg metzeln, ohne die Aufmerksamkeit der Neun Höllenfürsten zu erregen?
Thallastam, Hades, Ares und Nachtmond hatten ihrerzeit einen „Gesetzlosen“ bestochen, ihnen einen gefälschten Kultistenschein auszustellen. „Gesetzlose“ waren Teufel, die einst hohe Funktionen in der Hierarchie von Baator bekleidet hatten, aber bei ihren Herren in Ungnade gefallen und auf Avernus untergetaucht waren. Ihre Recherchen hatten ergeben, dass es an Mephistos Hof derzeit nur eine Baatezu gab, auf die das zutraf: Baalphegor, die verschmähte Kurtisane des Erzteufels. Sie zu finden, würde nicht leicht werden. Doch die verstoßene Geliebte schien ihnen noch die beste Chance, an Mephisto heranzukommen.
Nach dem Frühstück machten die Gefährten die letzten Besorgungen für die Reise. Dann trennten sie sich, um ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Am frühen Abend fanden sie sich wie verabredet wieder im Gasthaus Zu den Neun Schwertern ein. Nachdem Miu einen Bannzauber gewirkt hatte, der sie vor den ungastlichen Ebenenbedingungen in Baator schützen sollte, begann Grimwardt mit den Ritualvorbereitungen. Doch noch ehe er den Dimensionskreis gezeichnet hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Tyrail.
„Ich komme mit euch“, sagte der Elf ohne Umschweife.
„Vergiss es!“, knurrte Faust. „Außerdem würdest du dich Omegas letztem Befehl widersetzen.“
„Der ist ganz offenbar auf vielerlei Weise deutbar.“
„Nach dem Urteilsspruch bin ich kein Ordensmitglied mehr.“
„Wieso trägst du dann noch immer eines der Ordensschwerter?“
„Verdammt, Tyrail! Wir werden da unten auch ohne dich genug Probleme bekommen! Ich kann nicht ständig hinter mich schauen aus Furcht, dass mir jemand einen Dolch in den Rücken rammt!“
„Dieses Verhalten ist in deiner Familie ja wohl verbreiteter als in meiner“, erwiderte der Elf verächtlich. „Außerdem zeugt deine Missdeutung meiner Absichten wie üblich von deiner Ignoranz. Würde dein Tod mir genügen, hätte ich dich einfach verurteilen können wie diese anderen Narren. Ich werde dich solange herausfordern, bis mein Blutschwur erfüllt ist. Aber ich werde mich sicher nicht auf dein Niveau herablassen und mit einem hinterhältigen Dolchstoß Vorlieb nehmen!“
Faust schnaubte.
„Was liegt dir überhaupt an Omegas Rettung? Dir, der du nichts als Verachtung für den Orden übrig hast? Und was machst du hier, unter Menschen, Dunkelelfen, Zwergen und dem ganzen niederen Abschaum, anstatt zu deiner Herrenrasse zurückzukehren? Oder meiden die dich, weil du es auch nur wagst, mit Leuten wie mir zu sprechen?“, spottete er.
Tyrails Wangen röteten sich und er machte einen drohenden Schritt auf Faust zu. Der schien einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Doch ehe er die Beherrschung verlieren konnte, erstarrte der Elf wieder zum Eisklotz.
„Thallastam steht in Omegas Schuld, sowie ich in der seinen stehe“, zischte er gepresst.
„Das kommt von ihm?“ Faust stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. Doch Thallastam war sein wunder Punkt und so gab er schließlich nach.
„Also schön“, murmelte er widerwillig. „Auch wenn ich das mit Sicherheit bereuen werde…“
Winter
Avernus, Erster Höllenkreis, wenig später.
Faust hatte Avernus als das Schlachtfeld der Neun Höllen beschrieben. Das Gebirge, durch das sie wanderten, war im Laufe der Jahrtausende aus den Gebeinen der unzähligen Teufel und Dämonen entstanden, die im Blutkrieg gefallen waren. Skelettwälder überzogen die Leichenberge und Ströme aus Blut zerklüfteten in steil abfallenden Talschluchten die Landschaft. Der blutrote Himmel hing tief und erdrückend über den Bergspitzen, so als könne er jeden Augenblick zusammenstürzen. Alle paar Minuten regnete es Feuerbälle aus den pechschwarzen Wolken, doch dank Mius Schutzzauber konnten ihnen die flammenden Geschosse nichts anhaben. Im Westen kündete Schlachtenlärm von einem nahen Gefecht. Das war ihr Ziel: der einzige Hinweis auf Leben in dieser fiebrigen Totenwüste. Winter wagte nicht, sie ins Ungewisse zu teleportieren, darum kämpften sie sich durch Skelettlabyrinthe und Blutschluchten, während Faust ihnen einen Überblick über die Geschichte von Avernus gab. Auf der Suche nach seinem Vater hatte er schon lange vor Omegas Tod damit begonnen, die großen Bibliotheken Faerûns nach Informationen zu den Neun Höllen zu durchforsten, doch bis heute hatte Winter nicht gewusst, wie weit seine Obsession ging. Sein Fachwissen war beinahe ein wenig unheimlich.
„Seit Asmodeus‘ Fall, also seit Anbeginn der Zeitrechnung hier unten, tobte hier auf Avernus der Blutkrieg zwischen Hölle und Abgrund – zwischen Ordnung und Chaos“, referierte er gerade. „Lange sah es so aus, als sei der Krieg für keine Seite zu gewinnen – so lange, bis Asmodeus der Zufall zur Hilfe kam. Während der Zauberpest, als Mystras Tod ihre Heimatebene zerstörte, wurde einer der minderen Götter in die Tiefen der Hölle geschleudert. Asmodeus gelang es ihn zu töten und so kehrte der Herr der Neun Höllen als Gott in das Pantheon zurück, das ihn vor langer Zeit verstoßen hatte. Asmodeus nutzte seine göttliche Kraft für ein mächtiges Ritual, das den Abgrund, die Heimatebene der Dämonen, aus dem Universum verbannte. Dort endet die Macht der Götter, darum sind Dimensionsreisen aus dem Abgrund seit der Zauberpest nicht mehr möglich. Damit waren die abyssalen Truppen auf Baator von ihren Reserven abgeschnitten und der Blutkrieg wurde innerhalb weniger Monate zugunsten der Hölle entschieden. Asmodeus hofft, dass der Fall der Dämonen auf Faerûn und den inneren Ebenen auf lange Sicht zu einem Anstieg der Teufelskulte führt. Sprich: mehr Seelen und damit mehr Macht für Asmodeus. Aber die Verbannung der Dämonen hatte nicht nur Vorteile für die Hölle. Der Blutkrieg war das einzige, was die Erzteufel einte. Nun, da der gemeinsame Feind besiegt ist, haben die Neun Legionen nichts mehr weiter zu tun, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Auf diese Weise ist Avernus zu einer Art Schachbrett Baators geworden, auf dem die Erzteufel ihrer persönlichen Fehden austragen…“
Winters Gedanken glitten ab, als Faust sich in Prognosen zur machtpolitischen Entwicklung Baators verlor.
Seelen… immer ging es nur um Seelen! Ihre eigene Seelendiät hatte sie ganz gut in den Griff bekommen. Ein wöchentlicher Ausflug zum Henkersplatz reichte aus, um den lästigen Nebenwirkungen ihrer Schattenmagie vorzubeugen. Natürlich hatte sie zu Anfang etwas überreagiert - wer hätte das nicht! - doch ihre Gewissensbisse waren größtenteils unbegründet gewesen! Vermutlich tat sie den armen Verurteilten, deren Seelen ja ohnehin keine besonders rosige Zukunft zu erwarten hatten, sogar einen Gefallen. Das Problem war nur: Sie würden vermutlich monatelang hier in der Hölle festsitzen und wie sollte sie an diesem Ort ihren strengen Diätplan einhalten? Ob es wohl auffallen würde, wenn sie hin und wieder ein wenig Seelenmasse aus dem Styx stahl? Konnte man das überhaupt Diebstahl nennen? Wenn Fausts Vermutung stimmte und sie einen Teufelspakt eingegangen war, hatte sie dann nicht einen gewissen Anspruch auf die Dienstleistungen der Hölle?
Und da war noch dieser Vorfall heute Morgen in Rabenklippe: Elijas hatte sie zu sich gebeten und ihr mit stummer, ernster Miene eine Schriftrolle überreicht: ein Bannzauber, mit dem sich ein Suchtleiden unterdrücken ließ! Der Ex-Blutsüchtige hatte offenbar ihre Symptome bemerkt, ohne zu ahnen, von welcher Art ihr Leiden war. Trotzdem war Winter der Atem gestockt, als sie sich ertappt geglaubt hatte. Wenn sich die lästige Aufmerksamkeit des Avariel wenigstens ausgezahlt hätte! Zwar hatte Faust die Formel für den Notfall in sein Zauberbuch übertragen, doch konnte der Zauber nur Winters körperliche Abhängigkeit unterdrücken – der quälende Hunger und die Sehnsucht nach der Macht würden bleiben… Nein, sie musste einen anderen Weg finden...
Nachdem sie stundenlang über die Gebirgskämme der Friedhofslandschaft gewandert waren, ohne einer Teufelsseele zu begegnen, erblickten sie im Tal endlich das Schlachtfeld: Im Schatten einer Ruinenstadt prallten zwei teufliche Armeen aufeinander. Die Stadt, um die sie kämpften, wuchs nach Westen in den Berg hinein. Banner in Schildform, die eine stählerne Festung zeigten, hingen von den Zinnen des Ringwalls, auf dem mit drohend ausgebreiteten Hornschwingen die eindrucksvolle Gestalt eines Höllenschlundteufels thronte. Mit donnernder Stimme schleuderte der Baatezu-General Laute von solch gutturaler Scheußlichkeit, wie nur infernalische Flüche sie hervorbringen konnten, über die Köpfe der Kämpfenden hinweg. Adressiert waren sie an den gegnerischen Teufelsgeneral, der neben einer Standarte mit einem Fliegenkopf auf der Ostseite des Tals harrte, und die Begrüßung nicht minder herzlich erwiderte. Der Trupp, den er befehligte, bestand aus gut sechs Duzend bizarrer Insektenwesen, deren monotones Flügelbrummen die Luft erfüllte. Winter verstand nicht viel von Schlachten, doch selbst sie erkannte, dass hier etwas nicht stimmte: Der Ringwall war kaum mehr als ein Trümmerhaufen – was hielt die Angreifer also davon ab die Mauern zu stürmen oder – besser noch – einfach in die Stadt hinein zu fliegen? Und was konnte es in diesem Trümmerfeld geben, das es überhaupt lohnte, dafür zu kämpfen?
Faust erklärte, dass es sich bei den Angreifern um die Legion des Siebten Höllenkreises handeln musste, die dem Erzteufel Baalzebul unterstellt war: dem Herrn der Fliegen. Die Verteidiger identifizierte er als Untergebene Dispaters, Herrn des Zweiten Höllenkreises. Doch auch er hatte keine Erklärung für das eigenartige Verhalten der Teufel.
„Vielleicht kämpfen die bloß um des Kämpfens willen“, meinte er schulterzuckend.
„Blödsinn“, brummte Grimwardt. „Jede Schlacht dient einem Zweck. Irgendeinen Wert muss diese Ruine haben.“
Zwiespalt hatte begonnen in dunkelrotem Licht zu glühen.
„Also?“, fragte Faust, dem die Ungeduld des Schwertes in den Knochen saß. „Metzeln wir uns durch die Reihen?“
„Wir könnten es auch erst einmal mit einem Flugzauber versuchen“, bemerkte Grimwardt trocken.
„Oder einer Teleportation“, warf Winter ein. „So seltsam es in dieser Situation auch scheint, aber ich kann keine Dimensionsbarriere ausmachen.“
Faust war die Enttäuschung anzusehen. Er zückte seine Glücksmünze.
„Zahl, wenn’s denn sein muss.“
Die Münze bekräftigte Winters Vorschlag und Faust gab sich geschlagen. Ihr Zauber beförderte die Gruppe in die Ruinen eines Turms. Zu Winters Überraschung landeten sie nicht zwischen Geröll und Mauerresten, sondern in einem wohnlichen kleinen Turmzimmer. Nach einem Moment verwunderten Staunens durchschaute die Hexenmeisterin die Illusion: Es war ein äußerst mächtiger Zauber, der die Ruine für den Betrachter in ein schmuckes kleines Schlafgemach verwandelte. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte, dass die ganze Stadt in einen Trugschleier gehüllt war. Dort, wo von außen nichts als verbrannte Mauerreste zu erkennen gewesen waren, schlängelten sich nun enge Gassen durch einen beschaulichen kleinen Ort. Patrouillierende Baatezu-Wachen hatten die Gestalt von alten Waschweibern oder herumschlendernden Liebespaaren angenommen und statt Kampfeslärm klangen die schläfrigen Melodien eines als gnomischer Leierspieler maskierten Imps durch die Stadt.
Faust
Kurz darauf im „Garten der Lüste“
„Oh. Verdammt.“
Von dem Luftgeist, der sich in einer Dampfwolke aus dem Staub hatte machen wollen, war nichts als heiße Luft übrig geblieben, nachdem Zwiespalt mit ihm fertig war. Schulterzuckend wandte sich Faust an den zweiten Ifrit. Das hinterlistige Lächeln des scharlachroten Wüstengeists gefror zu einer Maske verblüfften Schreckens.
„Naja, vielleicht möchtest du uns ja sagen, was hier gespielt wird?“
Fausts farbenspeiende Chaosklinge zeigte dem Ifrit blutlechzend seine Alternativen auf. Der Wüstengeist leckte sich unsicher über die trockenen Lippen.
„Also?“, knurrte Faust und blinzelte, um das Flirren der falschen Kolibris aus seinem Geist zu vertreiben. Wie alles andere in dieser Stadt war auch diese Lustoase mitsamt tanzenden Feen und verheißungsvollen Nymphen eine Illusion. Und es gehörte nicht viel Kombinationsgeschick dazu, zu erraten, worauf die beiden Ifriti tatsächlich aus waren, wenn sie den Besuchern „für einen kleinen Gefallen“ das Blaue vom Himmel versprachen.
„Ihr seid keine Teufel; mit Seelen könnt ihr nichts anfangen. Also für wen arbeitet ihr? Wer hat euch gebunden?“
Dass der Ifrit noch immer zögerte, konnte nur bedeuten, dass er, wenn er plauderte, noch Schlimmeres zu befürchten hatte. Erst als Faust ihn spüren ließ, dass Folter keineswegs ein Vorrecht der Hölle war, knickte er ein.
„Jebelam!“, spie er ihm ins Gesicht. „Ihr Name ist Jebelam! Sie ist eine mächtige Falxugon, eine Seelenernterin! Die Illusionen und die Portale sind ihr Werk!“
„Die Portale?“
„Na, die…“ Eine kleine Zornwolke dampfte aus den Nasenlöchern des Luftgeists, als er erkannte, dass er sich verplappert hatte. „Jebelam hat Portale in andere Welten errichtet, um Sterbliche nach Dunkelgradt zu locken“, gab er grantig zu. „Sie sorgt dafür, dass ihnen in dieser Stadt jeder ihrer Wünsche erfüllt wird.“
„Um den Preis ihrer Seelen.“ Faust begriff. „Welchem der Neun Erzteufel dient diese Jebelam?“
„Ursprünglich diente sie Bel, dem Herrn von Avernus. Aber laut eines uralten Paktes gehen alle Seelen, die in Dunkelgradt gebunden werden, an den Herrscher der Stadt. Bel hat Dunkelgradt an Dispater verloren. Und nun lauert General Zinimar mit Balzebuls Legion vor den Stadttoren…“
Seelen. Also das war der Wert dieser Stadt. Kein Wunder, dass sich die Legionen vor den Stadttoren die Köpfe einschlugen. Und natürlich durften sie dabei die heile Welt der Portalstadt nicht zerstören: Ein Schlachtfeld innerhalb der Stadtmauern wäre vermutlich selbst für die Falxugon-Illusionistin schwer mit Kleinstadtidylle zu übertünchen.
„Und wo finden wir diese Jebelam?“
„Sie unterhält ein Gasthaus in der Stadtmitte: Zur Katze im Sack.“
„Überaus subtil.“
Kurz darauf machten sich die Gefährten auf den Weg.
Die Auskunft war dem Ifrit ein wenig zu rasch über die Lippen gekommen, fand Faust. Gut möglich, dass er telepathisch mit seiner Herrin in Verbindung stand. Besser, sie machten sich auf einen Hinterhalt gefasst. Die Vorsicht zahlte sich aus: Kaum hatten sie sich mit gezückten Waffen dem Gasthaus genähert – einem der wenigen intakten Gebäude der Stadt –, rollte von hinten ein lodernder Feuerball auf sie zu. Hastig sprang Faust zur Seite, sodass er nur einen heißen Zug auf den Wangen spürte. Auch die anderen ließ die feurige Begrüßung kalt. Als sich der Rauch gelegt hatte, erspähte Faust die Gestalt des Teufelsgenerals, der mit drohend ausgebreiteten Schwingen über ihnen schwebte. Er trug eine glänzende Rüstung aus geölten Metallringen. Faust, der Mühe hatte, sein teufelsblutlechzendes Schwert unter Kontrolle zu halten, überließ es Grimwardt und Winter, das Gasthaus zu stürmen. Zu lebendig war seine Erinnerung an seine letzte Begegnung mit einem Höllenschlundteufel, als dass er sich die Gelegenheit durch die Lappen gehen ließe, eine dieser Ausgeburten des Bösen in Schwefelsäure zu verwandeln…
„Habt Ihr nicht eine Stadt zu verteidigen?“, rief er herausfordernd.
„Was glaubst du, was ich hier tue, Sterblicher!“
Mit den Worten spie der General ihm einen schwarzen Feuerkegel entgegen. Fausts magische Rüstung widerstand dem Feuer, doch durch die Wucht des Odems wurde er unsanft zu Boden gerissen. Im nächsten Moment war der Gegner über ihm und Faust durchfuhr ein brennender Schmerz in der Halsgegend, begleitet von dem widerlichen Gestank des Teufelsatems. Doch bevor der Teufel einen Hornstoß hinterher schicken konnte, brach Tyrail, der von hinten anpreschte, ihm mit präziser Wucht das Schlüsselbein. Brüllend fuhr der Teufel herum und schlug nach dem Elf, der dem zornigen Hieb mit verächtlicher Beiläufigkeit auswich. Faust wusste aus Erfahrung, dass Tyrails Überheblichkeit Taktik war – als junger Kämpfer war er ihr selbst oft genug auf den Leim gegangen: Die Arroganz des Elfen steigerte den Gegner in eine blinde Wut auf Kosten der Präzision. Schlag um Schlag verfehlte ihn. Während der Elf die Aufmerksamkeit des Teufels auf sich fokussierte, nahm Faust Anlauf und sprang. Der Teufel bog den Oberkörper zur Seite und versuchte ihn über die Schwingen abgleiten zu lassen – doch zu spät. Knochen splitterten, als Zwiespalt durch das Rückgrat des Generals drang. Ächzend brach die massige Gestalt zusammen.
„Gute Arbeit!“, lachte Faust. „Fast wie früher!“
Tyrail erwiderte das Lob mit einem vernichtenden Blick, der Fausts gute Laune im Keim erstickte. Früher hatte der Elf sich hin und wieder von seiner Euphorie mitreißen lassen. Seinen Menschenhass hatte er in solchen Momenten für eine Weile vergessen können. Doch Thallastams Geist hatte recht: Der kameradschaftliche Teil ihres Konkurrenzkampfes war mit ihm gestorben.
Fausts Halswunde war nicht tief, aber das Jucken bereitete ihm Sorgen: Höllenschlundteufel waren bekannt für ihre Giftzähne und die Seuchen, die ihr fauliger Atem verbreitete. Wo blieb Miu nur? Sie war doch sonst stets zur Stelle, sobald einer der Gefährten verletzt wurde? Während Tyrail dafür sorgte, dass der verwundete Teufel seine Wunden nicht regenerieren konnte, suchte Faust im Gasthaus nach seinen Gefährten. Die Leiche eines in der Auflösung begriffenen Glabrezu versperrte den Eingang. Während er sich einen Weg durch den Haufen aus Fleisch und Schwefelblasen bahnte, beobachtete Faust im Dämmerlicht des Schankraums eine weitere der riesigen Gestalten im Kampf gegen Grimwardt – und Miu! Faust traute seinen Augen kaum, als er Zeuge wurde, wie die friedfertige Ordensschwester dem Ungeheuer einen Mönchstritt in die Magengrube verpasste, die den Teufel das Schwindeln lehrte.
„Miu! Ich wusste nicht mal, dass du das kannst! Das war...“ Das Lob blieb Faust im Hals stecken, als er Mius unerbittlichen Blick auffing. Ihr Gesicht wirkte hart und gespenstig in der düsteren Umgebung.
Während Grimwardt dem Teufel den Gnadenstoß verpasste und Miu sich Fausts Wunde annahm, trat Winter aus dem Nebenraum.
„Die Gastwirtin ist entkommen“, sagte sie außer Atem. „Sie war von einem magischen Schutzfeld umgeben. Grims Axt ist von dem Schutzfeld abgeglitten und ich kam nicht schnell genug an sie heran, um zu verhindern, dass sie sich fortteleportierte.“
„Immerhin haben wir den General“, meinte Faust.
Um sich vor weiteren Angriffen zu schützen, zogen sie sich mit dem Gefangenen in Winters magischen Palast zurück: Die Hexenmeisterin hatte Doriens außerdimensionales Prunkschloss magisch restauriert. In der Enge ihrer hoffnungslos überfüllten Welt aus samtdrapierten Möbeln, seidenen Trennwänden, ausladenden Deckenkronleuchtern und Rauchbecken, deren süßliche Düfte eine leicht benebelnde Atmosphäre schufen, wirkte die massige Gestalt des gefesselten Höllenschlundgenerals geradezu lächerlich.
„Ich sage kein Wort ohne einen Pakt!“, knurrte der Gefangene, noch ehe jemand das Wort an ihn gerichtet hatte.
Dieser Satz sollte das Motto für den Rest des Tages werden. Während dieser Zeit erkannte Faust, dass die Schrecken der Hölle nicht etwa Krieg und Folter hießen, sondern Bürokratie und Pedanterie! Die Hölle war Asmodeus‘ Werk, der sich von den Göttern betrogen glaubte. Viele Legenden rankten sich um den Fall des Erzengels aus dem Pantheon, doch die beliebteste von ihnen ging davon aus, dass die Götter ihn verstoßen hatten, weil er, verroht durch den Kampf gegen die Dämonen des Abgrunds, sterbliche Seelen durch Folter zu göttlichem Gehorsam hatte zwingen wollen. Asmodeus behauptete bis zum heutigen Tag, dass er stets im Auftrag der Götter gehandelt habe und dass sein Fall nichts als schändlicher Verrat an einem treuen Diener gewesen sei. Dieser Sage nach bestrafte die Hölle darum jeden Bruch eines schriftlich festgehaltenen Vertrags mit einer Strafe, die der Schwere des Verrats angemessen war. Faust wusste nicht, was an dieser Geschichte der Wahrheit entsprach, doch die Berichte von Höllenwanderern, die einen Höllenpakt gebrochen hatten, endeten niemals gut. Es schien also wenig ratsam, das eherne Gericht von Baator herauszufordern. Also blieb ihnen nur eine Wahl: Feilschen und wortklauben was das Zeug hielt, um sich nicht von einem Teufel übers Ohr hauen zu lassen!
Nach vier zermürbenden Stunden und einer Flut von zerrissenen und umgeschriebenen Verträgen einigten sie sich schließlich darauf, den Teufelsgeneral gehenzulassen, wenn er ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortete. Auf diese Weise gelang es ihnen immerhin die Suche nach dem doppelköpfigen Dämon aus Grimwardts Vision einzugrenzen: Es musste sich bei ihm um einen Molydeus handeln, eine äußerst seltene Tanar’ri-Art. Dem Teufelsgeneral waren nur zwei dieser mächtigen Kreaturen bekannt – beide, so mutmaßte er, mussten nach Ende des Blutkriegs wie alle Dämonen getötet oder versklavt worden sein. Da Grimwardt nicht glaubte, dass Tempus den Dämon in seiner Vision hätte auftauchen lassen, wenn er für seine Mission keine Rolle mehr spielte, kam nur Letzteres in Frage. Bei der Suche nach Baalphegor konnte der General ihnen nicht helfen – doch er verriet ihnen, dass die Faxugon-Illusionistin Jebelam in ihrer Position als Spionin und Seelenfängerin vielerlei Gerüchte aufschnappte.
„Das war’s, bindet mich los!“, befahl der General. „Ich habe eure Fragen beantwortet; mein Teil der Vereinbarung ist erfüllt.“
Unter Mius düsteren Blicken befreite Faust den Teufel von seinen Fesseln. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, dass sie ihren Mund zu einem schmalen Strich machten. Ihre Unerbittlichkeit irritierte ihn – wo war seine großherzige Miu geblieben, die, wenn sie die Wahl hätte, ihr Leben für das ihres Mörders gegeben hätte? Doch selbst die Ordensschwester schien kein Pardon mit diesen Kreaturen zu kennen.
„Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn gehenlassen oder nicht“, raunte Faust ihr zu, während sie den Teufelsgeneral mit Blicken verfolgten, als er aus dem Eingangsportal des Herrenhauses trat. „An seine Stelle tritt ja doch sofort der nächste.“
Plötzlich sang der schneidende Klang einer Schwertklinge durch die Stille und der Kopf des Teufelsgenerals drehte sich auf dem Rumpf um hundertachzig Grad, sodass seine schreckerstarrten Augen sie unverwandt anstierten. Dann rollte er ihnen blutleckend vor die Füße. Bevor sein überrumpelter Körper den Tod noch recht begriffen hatte, erschien in der Sichtlücke, die das abgetrennte Körperteil hinterlassen hatte – die blutige Klinge noch erhoben – der Teufelsgeneral der feindlichen Legion… umringt von einem Bataillon wütend surrenden Insektensoldaten.
„Oh“, sagte Faust. „Ganz so wörtlich meinte ich das nun auch nicht.“
Winter reagierte als erste und schlug eilig die Tür wieder zu. Schluckend drehte sie sich zu den anderen um.
„Ich schätze, wir haben ein Problem…“
Grimwardt
Am nächsten Morgen.
Da sie entschieden hatten, dass es der Geheimhaltung ihrer Mission nicht eben dienlich wäre, wenn sie gleich zum Auftakt ihrer Höllenfahrt ein ganzes Teufelsregiment niedermetzelten, hatten sich die Gefährten am Vorabend aus Avernus zurückgezogen.
Baalzebuls Legion musste während ihrer Paktverhandlungen mit Dispaters General die Stadt erobert haben. Vermutlich hatte die teuflische Gastwirtin den Eroberern verraten, dass sich eine Gruppe mächtiger Sterblicher in der Stadt aufhielt, und um Schutz gebeten. Gewiss war es der Illusionistin ein Leichtes gewesen, den unsichtbaren Eingang zu Winters Anwesen ausfindig zu machen. Doch ohne eine magische Einladung war es den Teufeln nicht möglich gewesen, das Versteck der Gefährten zu stürmen. Stattdessen hatten sie sich aufs Belagern verlegt und den ersten Gegner niedergestreckt, der aus der Tür getreten war.
Grimwardt hoffte nun, dass der General die übereilte Flucht der Gefährten als Rückzug deutete und nicht mit ihrer Rückkehr nach Dunkelgradt rechnete. Denn selbst wenn es ihnen gelänge, sein Regiment zu besiegen, so wäre die Gefahr doch zu groß, dass sein Herr – und über Umwegen die anderen Erzteufel – von dem Angriff erfuhren. Der Abenteurer Marco Volo nannte in seinen Reisetipps für die Höllenfahrt als eines der wichtigsten Gebote für das Überleben in Baator: Gehe Auseinandersetzungen aus dem Weg oder lass niemanden am Leben! Sonst stehst du morgen dem Chef deines Gegners gegenüber! Ob Volo nun tatsächlich schon einmal die Hölle bereist hatte oder seine Weisheiten nur aus anderen Werken zusammengeklaubt hatte – der Rat schien Grimwardt in der gegebenen Situation nur angebracht!
Nach einem reichhaltigen Heldenfrühstück wiederholte der Kriegspriester das Ritual, das sie am Vortag nach Avernus gebracht hatte. So kehrten die Gefährten frisch gerüstet zurück nach Baator – oder genauergesagt: geradewegs in die Katze im Sack.
Jäh schrak Jebelam von ihrer Arbeit auf: Wie eine lauernde Vettel hatte die Seelenernterin, als dralle Gastwirtin getarnt, hinter einem Gast geharrt, der in ein Kartenspiel mit einem Bartteufel vertieft war, den er vermutlich für einen wohlbetuchten Wirtshausgast hielt: ein Opfer, das in eine ihrer Portalfallen getappt sein musste. Grimwardt konnte sich denken, was sie dem jungen Mann ins Ohr flüsterte, während dieser Münze um Münze an den teuflischen Trickbetrüger verlor. Der Schweiß auf seiner Oberlippe und die gierig-feuchten, übernächtigten Augen sprachen Bände: Am nächsten Tag würde er sich vermutlich nicht einmal daran erinnern, seine Seele verkauft zu haben. Selbst die Gruppe schwerbewaffneter Abenteurer, die plötzlich in den Raum geplatzt kam, nahm er nur mit einem irritierten Stirnrunzeln zur Kenntnis. Zwei als Gäste getarnte Baatezu-Wachen dagegen sprangen allarmiert auf. Doch mitten in der Bewegung hielten sie inne; ein telepathischer Befehl schien ihnen Einhalt zu gebieten.
Begleitet mich aus der Stadt, hörte Grimwardt die Stimme der teuflischen Gastmutter in seinem Geist. Greift ihr an, so brauche ich nur mit dem Finger zu schnipsen und Zinimars Regiment rückt an.
„Spielt nur weiter, ihr beiden“, säuselte sie mit mütterlicher Fürsorge an die beiden Kartenspieler gewandt. „Meine Freunde wollten euch nicht erschrecken. Kommt nur mit und sagt mir, was euch bedrückt.“
Offenbar fürchtete sie die Seele des Kartenspielers zu verlieren, die ihr schon so gut wie sicher war, wenn sie es zum Kampf kommen ließ. Die Versuchung war groß, ihre Drohung in den Wind zu schlagen und Tempus‘ Zorn über diese Schacherbude zu bringen! Doch Grimwardts magischer Blick verriet ihm, dass Jebelam auch dieses Mal mit einem Eisenwacht-Zauber geschützt war. Sicher, mit einer Antimagsichen Zone kämen sie an sie heran, doch wenn sie es auf einen Kampf ankommen ließen, riskierten sie, dass sie ihnen auch dieses Mal durch die Lappen ging, bevor sie ihren Schutzwall durchbrechen konnten. Also gingen sie auf das Angebot ein und folgten der Seelenernterin vor die Stadt. Dabei entging ihnen nicht, dass sie die Zeit nutzte, um sich mit weiteren Zaubern zu schützen.
„Keine Seelenpakte“, stellte Grimwardt klar, als sie unter den düsteren Blicken der Torwachen vor den Stadtmauern ankamen. „Wir wissen, wer ihr seid, also versucht es erst gar nicht.“
Sekundenlang huschte ein boshafter Zug über die gutmütigen Pausbacken der Wirtsherrin. Doch sosehr schien sie mit ihrer Maske verwachsen, dass diese auch jetzt sogleich die Wogen glättete.
„Nun, dann wollen wir sehen, was wir sonst füreinander tun können“, schlug sie mit einem affektierten Lächeln vor. „Fünf Sterbliche in der Hölle… Was mögt ihr hier wohl zu finden hoffen, wenn ihr nicht mit der gängigen Währung zu zahlen bereit seid?“
„Das ist unsere Sache“, erklärte Grimwardt ruhig. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Tempus-Priester das Reden übernehmen sollte, da Faust alle Entscheidungen mit dem Schwert und Winter mit dem Herzen zu lösen pflegte – beides konnte sie hier in… nun ja… in Teufels Küche bringen.
Grimwardt war einen Augenblick lang versucht, Jebelam zu erpressen: ihr Rückzug aus der Stadt gegen gefälschte Papiere, die ihnen freies Geleit nach Cania garantierten! Als erfahrene Illusionistin sollte sie dazu in der Lage sein. Und sie diente – zumindest im Moment – Baalzebul, dem erklärten Erzfeind des Mephistopheles, der keinen Grund hätte, die Mission der Gefährten zu sabotieren, wenn er Wind davon bekäme. Andererseits mochte die Stadt jederzeit an einen der anderen Erzteufel fallen – und mit ihr Jebelams Loyalität. Nein, sie durften der Seelenfängerin nicht zu viel von ihren Plänen preisgeben.
„Die Portalstadt interessiert uns nicht“, behauptete er darum knapp. „Wir sind auf der Suche nach einer Gesetzlosen.“ Mochte die Falxugon sie für Kopfgeldjäger in teuflischem Auftrag halten. „Ihr Name ist Baalphegor und sie diente bis vor Kurzem am Hof von Cania. Dunkelgradt ist eine vielbesuchte Stadt. ‚Avernus‘ Gerüchteküche‘, nannte sie der General der Disischen Legion, wenn ich mich recht entsinne. Vielleicht habt ihr ja das ein oder andere aufgeschnappt, das uns dazu bewegen könnte, Dunkelgradt den Rücken zu kehren…“
„Wenn ich wüsste, wo sich diese Baalphegor befindet, dann wüssten es auch andere“, dozierte die Seelenernterin mit der gutmütigen Herablassung einer Lehrerin, die einem sturen Kind zum zigsten Mal das Einmaleins erklärt. „Dann wäre sie wohl längst nicht mehr am Leben. Aber es mag sein, dass ich im Besitz eines Gegenstandes bin, der mehr weiß als ich.“ Ein kleines, affektiertes Glucksen, als ob sie gerade den Witz des Tages gerissen hätte. „Wer die Regeln des Blutkriegs kennt, der weiß, worauf er achten muss, um zu erkennen, welchem Herrn ein Teufel dient. Höllenschlundteufel, die man hier auf Avernus trifft, sind für gewöhnlich hohe Offiziere in einer der Legionen. Da fällt es auf, wenn einer bei mir auftaucht, der es versäumt, Farbe zu bekennen. Dachte mir dass es nützlich werden könnte, etwas dazubehalten, das ihm gehört… eine Schwertscheide, als Pfand für Spielschulden. Das gute Stück war eigentlich nicht für ein paar sterbliche Vagabunden gedacht, die plündernd durch meine Stadt streunen, aber unter den Umständen…“ Abrupt verschwand das aufgesetzte Lächeln aus ihren kleinen Schweinsäuglein. „Das ist mein Preis“, sagte sie, plötzlich ganz die kühle Vertreterin: „Unterschreibt einen Pakt, der besagt, dass ihr Dunkelgradt niemals mehr betreten werdet, und ich überlasse euch das rostige alte Ding!“
„Eine Komponente.“ Grimwardt begriff. Sie könnten die Schwertscheide benutzen, um den legionslosen Teufel aufzuspüren. „Und ihr glaubt, dass dieser Unbekannte zu Baalphegors Eskorte gehört, hm?“
„Schlaues Bürschchen“, spottete Jebelam. „Garantieren kann ich natürlich für nichts.“
Vermutlich überstieg der Auffindungszauber ihre Fähigkeiten oder die Komponente war für Mephistos Meuchelmörder bestimmt gewesen, doch das behielt diese kleine Viper natürlich lieber für sich.
Grimwardt tauschte einen Blick mit seinen Gefährten. Bis auf Miu schienen alle einverstanden.
„Schön. Zeigt uns diesen Pakt.“
Jebelam schnipste mit dem Finger und in der Luft zu ihrer Linken erschien eine schwebende Schriftrolle, die sich nach und nach mit magischem Text zu füllen begann. Mit Argusaugen lasen sich die Gefährten das Kleingeschriebene durch, um nicht am Ende doch mit der falschen Währung zu zahlen. Erst nach etlichen Umformulierungen und Abwandlungen standen all ihre Namen unter dem Vertrag.
Als Jebelam fortteleportierte, um ihnen die Schwertscheide zu bringen, wandte sich Miu jäh zu ihren Freunden um. Ihre Augen waren starr vor grimmiger Enttäuschung, als sie die anderen mit einer wilden Schimpftirade aus Handzeichen überzog, die sie so schnell aneinanderreihte, dass selbst Faust, der als einziger ihre lautlose Sprache verstand, Mühe hatte, ihr zu folgen.
„Miu…“ Faust fing ihre fliegenden Gesten ab, um sie zum Schweigen zu bringen. „Miu, ich weiß, was du sagen willst, aber wir werden zurückkommen! Der Pakt besagt nur, dass wir die Stadt nicht betreten dürfen! Wir kommen zurück und Winter wird diese verdammte Mausefalle unter einer Lawine beschworener Eisenwände begraben! Das schwöre ich dir, Miu! Aber wir dürfen nicht gleich einen Krieg vom Stapel brechen, wenn wir Omegas Seele befreien wollen!“
Miu wirkte nicht überzeugt. Eine Träne rollte über ihr wutstarres Gesicht und sie deutete nachdrücklich in Richtung des Gasthauses der Seelenernterin. Diesmal verstand auch Grimwardt: Und was ist mit all den anderen Seelen?
„Das ist die Hölle, Miu“, sagte Faust düster. „Wir können froh sein, wenn wir eine Seele von hier retten!“
Grimwardt
Schwerterteich, eine Woche später.
Die Vision hat ihn ins Schlachtental geführt. Einst war die Burgruine eine trutzige Festung, die Belarus errichtete, ein treuer Diener des Feindhammers. Ein heiliges Licht bricht durch die Wolken. Eldan spürt sein Herz schneller schlagen und beschleunigt seine Schritte. Das Himmelszeichen führt ihn zu einem zerbrochenen Altar. Also ist es wahr: Hier wird er die Abtei errichten! So will es Tempus! Eldan geht zum Gebet auf die Knie, um seinem Herrn für die Offenbarung zu danken. Dabei fällt sein Blick auf einen vorstehenden Block am Sockel des Altars. Er untersucht den Stein genauer und entdeckt einen Mechanismus, der ein Fach unter dem Altar öffnet. In einer Vertiefung findet er eine silberne Streitaxt. Eldan stockt der Atem, als er erkennt, was er da in Händen hält.
„Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften.“ Feierlich hält er die Waffe ins Licht, um die magischen Runen auf den Zwillingsblättern zum Leuchten zu bringen. Das soll fortan sein Name sein: Eldan Ambrose, Kriegspriester des Herrn der Schlachten.
Zehn Jahre später…
Verzweifelt holt Eldan zu einem Schildstoß aus, der den Dämon gegen die Mauer schleudert. Benommen bleibt der Glabrezu neben der Leiche des zweiten Dämons liegen, die bereits im Begriff ist sich in Schwefelsäure aufzulösen. Der Kriegspriester ignoriert den Schmerz der klaffenden Wunde, die eine der riesenhaften Klauen in seine Armbeuge gerissen hat. Er ignoriert auch das höhnische Lachen des Drowmagiers, der die beiden Ausgeburten des Abgrunds beschworen hat. Er muss das Portal schließen, ehe der Magier noch weitere Geschöpfe herbeirufen kann, sonst ist die Abtei verloren! Begleitet von einem Schwall Blut bröckeln die magischen Worte über seine Lippen. Er hält nicht inne, selbst als er den drohenden Schatten des Dämons über sich spürt, der zum Todesstoß ausholt.
Einige Jahre später…
Der Himmel spiegelt das Rot der Brände. Hier in der Hölle schwelt die Glut ohne Unterlass – tobt der Blutkrieg ohne Innehalten. Der Glabrezu Lechon wütet wie ein Berserker unter seinen Erzfeinden. Die Legion der Bartteufel, die der Teufelsgeneral gegen ihn in die Schlacht geführt hat, hat keine Chance gegen den wilden Sturm seiner Tana‘rii-Truppe. Der Kampf ist schon fast entschieden, als plötzlich ein weiterer Gegner auf dem Schlachtfeld auftaucht: ein Dämon, gehüllt in ein Körpergewand aus blutigen Hautfetzen, mit zwei Köpfen, einem Schlangen- und einem Wolfskopf. Zwei Äxte schwingend fegt er durch die Reihen der Teufel. Köpfe rollen mit jedem Schlag. Beim Lichte! Der Unbekannte stiehlt ihm den Ruhm! Lechons Empörung weicht im nächsten Moment widerwilliger Ehrfurcht: Die Aura der Macht, mit der sich der andere Dämon umgibt, zwingt ihn in die Knie.
„Wo hast du das her?“ Der Wolfskopf deutet auf die menschengroße Streitaxt, die neben den Skalpen getöteter Gegner an Lechons Gürtel baumelt.
„Gehörte einem Diener des Schlachtengotts“, bröckelt es knirschend über Lechons Lippen.
Der Schlangenkopf schnellt vor und reißt die Trophäe an sich. Als der magische Blick der Wolfsaugen die Waffe streift, leuchten die Runen auf, die dem Dämon bisher ihre Magie verweigert haben. Sie glühen blutrot, um den Dämon zu warnen, und verlöschen dann. Das Wolfsmaul stößt ein zorniges Brüllen aus, während die Schlange zynisch zischt.
„Eine Herausforderung des Eisengotts!“, sprechen beide Köpfe im Chor. „Nur zu, wir sind bereit!“
Der Traum spukte noch immer in düsteren Farben durch seinen Geist, als Grimwardt den Schankraum der Neun-Schwerter-Schenke betrat. Winter und Faust saßen bereits beim Frühstück. Grimwardt entging nicht, dass Winter bei seiner Ankunft ein Pergament unter dem Tisch verschwinden ließ. Er ahnte seit langem, dass die beiden ein Geheimnis hegten. Es gefiel ihm nicht, aber solange er nichts sah, was ihn ernsthaft beunruhigte, würde er es schlicht ignorieren.
„Wir sollten hier bald verschwinden“, begrüßte ihn Faust. „Hades, der alte Spielverderber, wälzt gerade Gesetzestexte, um einen Weg zu finden, mich wieder einzubuchten.“
„Ich habe alles, was ich für das Ritual brauche. Wenn es nach mir geht, segeln wir heute Abend über den Styx!“
Faust schien Grimwardts Tatendurst zu erstaunen. Der Priester hatte in den letzten Tagen wenig zu ihren Nachforschungen beigetragen und sich lieber um die Angelegenheiten der Abtei gekümmert. Sein Gefährte deutete das offenbar als fehlenden Eifer für ihr Vorhaben. Ganz unrecht hatte er nicht. Tatsächlich war der Priester zerrissen zwischen seiner Loyalität den Gefährten gegenüber und seinen Pflichten als Abteivorsteher. Gewiss, er war der Abtei schon oft für längere Zeit ferngeblieben. Grimwardt der Priestergeneral hatte sich das erlauben können, doch für Grimwardt den Auserwählten waren die Prioritäten neu gewichtet. Eine Höllenfahrt mochte allen Berechnungen nach Monate dauern – und er wollte nicht noch einmal zurückkehren und sein Lebenswerk in Dunkelheit vorfinden! Grimwardt war Tempus aus diesem Grund mehr als dankbar für seine Vision. Sie war mehr als die Aussicht auf eine heilige Vermächtniswaffe – sie war ein göttlicher Wegweiser.
Nachdem er den Freunden von seinem Traum erzählt hatte, fassten die Gefährten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zusammen. Alle teufelgebundenen Seelen tauchten nach dem Tod im Styx wieder auf, dem Schicksalsstrom, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Toten ihrem Bestimmungsort zuzuführen. In Omegas Fall war das der Seelensee des achten Höllenkreises, aus dessen Seelenmasse die Teufel von Cania ihre Macht schöpften. Der Styx gehorchte weder dem Willen von Göttern noch Teufeln, doch er passte sich stets der Ebene an, durch die er floss. In der Stadt der Seelen erschien er als silberner Strom, der den Toten den Weg ins Jenseits erleichterte. Doch in den Neun Höllen war er als blutige, zähflüssige Masse gefürchtet, die den Seelen ihre sterblichen Erinnerungen entzog. Waren erst alle Erinnerungen erloschen, so wäre es keiner Macht des Kosmos mehr möglich, Omegas Seele zurückzuholen. Doch die Ordensführerin war weit über tausend Jahre alt, es würde den Styx also einige Kraft kosten sie zu brechen. Das machte sie nur umso wertvoller für Mephisto.
Trotzdem blieb das Problem, dass die Jagd nach einer Seele im Seelensee der Suche nach der berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen glich. Ohne die Hilfe des Erzteufels, dem die Seele rechtmäßig zustand, würde es ihnen niemals gelingen sie zu befreien. Doch ehe sie anfangen konnten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Mephistopheles dazu bringen sollten, ihnen eine seiner wertvollsten Seelen zu überlassen, mussten sie erst einmal einen Weg in sein Reich Cania finden. Grimwardts göttliches Ritual würde sie nach Avernus bringen, den ersten der neun Höllenkreise, doch der Weg in die tieferen Schichten von Baator war ihnen versperrt. Die einzige Verbindung zwischen den Höllenkreisen war der Styx. Wie aber sollten sie sich durch sämtliche Kontroll- und Zollstationen auf ihrem Weg metzeln, ohne die Aufmerksamkeit der Neun Höllenfürsten zu erregen?
Thallastam, Hades, Ares und Nachtmond hatten ihrerzeit einen „Gesetzlosen“ bestochen, ihnen einen gefälschten Kultistenschein auszustellen. „Gesetzlose“ waren Teufel, die einst hohe Funktionen in der Hierarchie von Baator bekleidet hatten, aber bei ihren Herren in Ungnade gefallen und auf Avernus untergetaucht waren. Ihre Recherchen hatten ergeben, dass es an Mephistos Hof derzeit nur eine Baatezu gab, auf die das zutraf: Baalphegor, die verschmähte Kurtisane des Erzteufels. Sie zu finden, würde nicht leicht werden. Doch die verstoßene Geliebte schien ihnen noch die beste Chance, an Mephisto heranzukommen.
Nach dem Frühstück machten die Gefährten die letzten Besorgungen für die Reise. Dann trennten sie sich, um ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Am frühen Abend fanden sie sich wie verabredet wieder im Gasthaus Zu den Neun Schwertern ein. Nachdem Miu einen Bannzauber gewirkt hatte, der sie vor den ungastlichen Ebenenbedingungen in Baator schützen sollte, begann Grimwardt mit den Ritualvorbereitungen. Doch noch ehe er den Dimensionskreis gezeichnet hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Tyrail.
„Ich komme mit euch“, sagte der Elf ohne Umschweife.
„Vergiss es!“, knurrte Faust. „Außerdem würdest du dich Omegas letztem Befehl widersetzen.“
„Der ist ganz offenbar auf vielerlei Weise deutbar.“
„Nach dem Urteilsspruch bin ich kein Ordensmitglied mehr.“
„Wieso trägst du dann noch immer eines der Ordensschwerter?“
„Verdammt, Tyrail! Wir werden da unten auch ohne dich genug Probleme bekommen! Ich kann nicht ständig hinter mich schauen aus Furcht, dass mir jemand einen Dolch in den Rücken rammt!“
„Dieses Verhalten ist in deiner Familie ja wohl verbreiteter als in meiner“, erwiderte der Elf verächtlich. „Außerdem zeugt deine Missdeutung meiner Absichten wie üblich von deiner Ignoranz. Würde dein Tod mir genügen, hätte ich dich einfach verurteilen können wie diese anderen Narren. Ich werde dich solange herausfordern, bis mein Blutschwur erfüllt ist. Aber ich werde mich sicher nicht auf dein Niveau herablassen und mit einem hinterhältigen Dolchstoß Vorlieb nehmen!“
Faust schnaubte.
„Was liegt dir überhaupt an Omegas Rettung? Dir, der du nichts als Verachtung für den Orden übrig hast? Und was machst du hier, unter Menschen, Dunkelelfen, Zwergen und dem ganzen niederen Abschaum, anstatt zu deiner Herrenrasse zurückzukehren? Oder meiden die dich, weil du es auch nur wagst, mit Leuten wie mir zu sprechen?“, spottete er.
Tyrails Wangen röteten sich und er machte einen drohenden Schritt auf Faust zu. Der schien einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Doch ehe er die Beherrschung verlieren konnte, erstarrte der Elf wieder zum Eisklotz.
„Thallastam steht in Omegas Schuld, sowie ich in der seinen stehe“, zischte er gepresst.
„Das kommt von ihm?“ Faust stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. Doch Thallastam war sein wunder Punkt und so gab er schließlich nach.
„Also schön“, murmelte er widerwillig. „Auch wenn ich das mit Sicherheit bereuen werde…“
Winter
Avernus, Erster Höllenkreis, wenig später.
Faust hatte Avernus als das Schlachtfeld der Neun Höllen beschrieben. Das Gebirge, durch das sie wanderten, war im Laufe der Jahrtausende aus den Gebeinen der unzähligen Teufel und Dämonen entstanden, die im Blutkrieg gefallen waren. Skelettwälder überzogen die Leichenberge und Ströme aus Blut zerklüfteten in steil abfallenden Talschluchten die Landschaft. Der blutrote Himmel hing tief und erdrückend über den Bergspitzen, so als könne er jeden Augenblick zusammenstürzen. Alle paar Minuten regnete es Feuerbälle aus den pechschwarzen Wolken, doch dank Mius Schutzzauber konnten ihnen die flammenden Geschosse nichts anhaben. Im Westen kündete Schlachtenlärm von einem nahen Gefecht. Das war ihr Ziel: der einzige Hinweis auf Leben in dieser fiebrigen Totenwüste. Winter wagte nicht, sie ins Ungewisse zu teleportieren, darum kämpften sie sich durch Skelettlabyrinthe und Blutschluchten, während Faust ihnen einen Überblick über die Geschichte von Avernus gab. Auf der Suche nach seinem Vater hatte er schon lange vor Omegas Tod damit begonnen, die großen Bibliotheken Faerûns nach Informationen zu den Neun Höllen zu durchforsten, doch bis heute hatte Winter nicht gewusst, wie weit seine Obsession ging. Sein Fachwissen war beinahe ein wenig unheimlich.
„Seit Asmodeus‘ Fall, also seit Anbeginn der Zeitrechnung hier unten, tobte hier auf Avernus der Blutkrieg zwischen Hölle und Abgrund – zwischen Ordnung und Chaos“, referierte er gerade. „Lange sah es so aus, als sei der Krieg für keine Seite zu gewinnen – so lange, bis Asmodeus der Zufall zur Hilfe kam. Während der Zauberpest, als Mystras Tod ihre Heimatebene zerstörte, wurde einer der minderen Götter in die Tiefen der Hölle geschleudert. Asmodeus gelang es ihn zu töten und so kehrte der Herr der Neun Höllen als Gott in das Pantheon zurück, das ihn vor langer Zeit verstoßen hatte. Asmodeus nutzte seine göttliche Kraft für ein mächtiges Ritual, das den Abgrund, die Heimatebene der Dämonen, aus dem Universum verbannte. Dort endet die Macht der Götter, darum sind Dimensionsreisen aus dem Abgrund seit der Zauberpest nicht mehr möglich. Damit waren die abyssalen Truppen auf Baator von ihren Reserven abgeschnitten und der Blutkrieg wurde innerhalb weniger Monate zugunsten der Hölle entschieden. Asmodeus hofft, dass der Fall der Dämonen auf Faerûn und den inneren Ebenen auf lange Sicht zu einem Anstieg der Teufelskulte führt. Sprich: mehr Seelen und damit mehr Macht für Asmodeus. Aber die Verbannung der Dämonen hatte nicht nur Vorteile für die Hölle. Der Blutkrieg war das einzige, was die Erzteufel einte. Nun, da der gemeinsame Feind besiegt ist, haben die Neun Legionen nichts mehr weiter zu tun, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Auf diese Weise ist Avernus zu einer Art Schachbrett Baators geworden, auf dem die Erzteufel ihrer persönlichen Fehden austragen…“
Winters Gedanken glitten ab, als Faust sich in Prognosen zur machtpolitischen Entwicklung Baators verlor.
Seelen… immer ging es nur um Seelen! Ihre eigene Seelendiät hatte sie ganz gut in den Griff bekommen. Ein wöchentlicher Ausflug zum Henkersplatz reichte aus, um den lästigen Nebenwirkungen ihrer Schattenmagie vorzubeugen. Natürlich hatte sie zu Anfang etwas überreagiert - wer hätte das nicht! - doch ihre Gewissensbisse waren größtenteils unbegründet gewesen! Vermutlich tat sie den armen Verurteilten, deren Seelen ja ohnehin keine besonders rosige Zukunft zu erwarten hatten, sogar einen Gefallen. Das Problem war nur: Sie würden vermutlich monatelang hier in der Hölle festsitzen und wie sollte sie an diesem Ort ihren strengen Diätplan einhalten? Ob es wohl auffallen würde, wenn sie hin und wieder ein wenig Seelenmasse aus dem Styx stahl? Konnte man das überhaupt Diebstahl nennen? Wenn Fausts Vermutung stimmte und sie einen Teufelspakt eingegangen war, hatte sie dann nicht einen gewissen Anspruch auf die Dienstleistungen der Hölle?
Und da war noch dieser Vorfall heute Morgen in Rabenklippe: Elijas hatte sie zu sich gebeten und ihr mit stummer, ernster Miene eine Schriftrolle überreicht: ein Bannzauber, mit dem sich ein Suchtleiden unterdrücken ließ! Der Ex-Blutsüchtige hatte offenbar ihre Symptome bemerkt, ohne zu ahnen, von welcher Art ihr Leiden war. Trotzdem war Winter der Atem gestockt, als sie sich ertappt geglaubt hatte. Wenn sich die lästige Aufmerksamkeit des Avariel wenigstens ausgezahlt hätte! Zwar hatte Faust die Formel für den Notfall in sein Zauberbuch übertragen, doch konnte der Zauber nur Winters körperliche Abhängigkeit unterdrücken – der quälende Hunger und die Sehnsucht nach der Macht würden bleiben… Nein, sie musste einen anderen Weg finden...
Nachdem sie stundenlang über die Gebirgskämme der Friedhofslandschaft gewandert waren, ohne einer Teufelsseele zu begegnen, erblickten sie im Tal endlich das Schlachtfeld: Im Schatten einer Ruinenstadt prallten zwei teufliche Armeen aufeinander. Die Stadt, um die sie kämpften, wuchs nach Westen in den Berg hinein. Banner in Schildform, die eine stählerne Festung zeigten, hingen von den Zinnen des Ringwalls, auf dem mit drohend ausgebreiteten Hornschwingen die eindrucksvolle Gestalt eines Höllenschlundteufels thronte. Mit donnernder Stimme schleuderte der Baatezu-General Laute von solch gutturaler Scheußlichkeit, wie nur infernalische Flüche sie hervorbringen konnten, über die Köpfe der Kämpfenden hinweg. Adressiert waren sie an den gegnerischen Teufelsgeneral, der neben einer Standarte mit einem Fliegenkopf auf der Ostseite des Tals harrte, und die Begrüßung nicht minder herzlich erwiderte. Der Trupp, den er befehligte, bestand aus gut sechs Duzend bizarrer Insektenwesen, deren monotones Flügelbrummen die Luft erfüllte. Winter verstand nicht viel von Schlachten, doch selbst sie erkannte, dass hier etwas nicht stimmte: Der Ringwall war kaum mehr als ein Trümmerhaufen – was hielt die Angreifer also davon ab die Mauern zu stürmen oder – besser noch – einfach in die Stadt hinein zu fliegen? Und was konnte es in diesem Trümmerfeld geben, das es überhaupt lohnte, dafür zu kämpfen?
Faust erklärte, dass es sich bei den Angreifern um die Legion des Siebten Höllenkreises handeln musste, die dem Erzteufel Baalzebul unterstellt war: dem Herrn der Fliegen. Die Verteidiger identifizierte er als Untergebene Dispaters, Herrn des Zweiten Höllenkreises. Doch auch er hatte keine Erklärung für das eigenartige Verhalten der Teufel.
„Vielleicht kämpfen die bloß um des Kämpfens willen“, meinte er schulterzuckend.
„Blödsinn“, brummte Grimwardt. „Jede Schlacht dient einem Zweck. Irgendeinen Wert muss diese Ruine haben.“
Zwiespalt hatte begonnen in dunkelrotem Licht zu glühen.
„Also?“, fragte Faust, dem die Ungeduld des Schwertes in den Knochen saß. „Metzeln wir uns durch die Reihen?“
„Wir könnten es auch erst einmal mit einem Flugzauber versuchen“, bemerkte Grimwardt trocken.
„Oder einer Teleportation“, warf Winter ein. „So seltsam es in dieser Situation auch scheint, aber ich kann keine Dimensionsbarriere ausmachen.“
Faust war die Enttäuschung anzusehen. Er zückte seine Glücksmünze.
„Zahl, wenn’s denn sein muss.“
Die Münze bekräftigte Winters Vorschlag und Faust gab sich geschlagen. Ihr Zauber beförderte die Gruppe in die Ruinen eines Turms. Zu Winters Überraschung landeten sie nicht zwischen Geröll und Mauerresten, sondern in einem wohnlichen kleinen Turmzimmer. Nach einem Moment verwunderten Staunens durchschaute die Hexenmeisterin die Illusion: Es war ein äußerst mächtiger Zauber, der die Ruine für den Betrachter in ein schmuckes kleines Schlafgemach verwandelte. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte, dass die ganze Stadt in einen Trugschleier gehüllt war. Dort, wo von außen nichts als verbrannte Mauerreste zu erkennen gewesen waren, schlängelten sich nun enge Gassen durch einen beschaulichen kleinen Ort. Patrouillierende Baatezu-Wachen hatten die Gestalt von alten Waschweibern oder herumschlendernden Liebespaaren angenommen und statt Kampfeslärm klangen die schläfrigen Melodien eines als gnomischer Leierspieler maskierten Imps durch die Stadt.
Faust
Kurz darauf im „Garten der Lüste“
„Oh. Verdammt.“
Von dem Luftgeist, der sich in einer Dampfwolke aus dem Staub hatte machen wollen, war nichts als heiße Luft übrig geblieben, nachdem Zwiespalt mit ihm fertig war. Schulterzuckend wandte sich Faust an den zweiten Ifrit. Das hinterlistige Lächeln des scharlachroten Wüstengeists gefror zu einer Maske verblüfften Schreckens.
„Naja, vielleicht möchtest du uns ja sagen, was hier gespielt wird?“
Fausts farbenspeiende Chaosklinge zeigte dem Ifrit blutlechzend seine Alternativen auf. Der Wüstengeist leckte sich unsicher über die trockenen Lippen.
„Also?“, knurrte Faust und blinzelte, um das Flirren der falschen Kolibris aus seinem Geist zu vertreiben. Wie alles andere in dieser Stadt war auch diese Lustoase mitsamt tanzenden Feen und verheißungsvollen Nymphen eine Illusion. Und es gehörte nicht viel Kombinationsgeschick dazu, zu erraten, worauf die beiden Ifriti tatsächlich aus waren, wenn sie den Besuchern „für einen kleinen Gefallen“ das Blaue vom Himmel versprachen.
„Ihr seid keine Teufel; mit Seelen könnt ihr nichts anfangen. Also für wen arbeitet ihr? Wer hat euch gebunden?“
Dass der Ifrit noch immer zögerte, konnte nur bedeuten, dass er, wenn er plauderte, noch Schlimmeres zu befürchten hatte. Erst als Faust ihn spüren ließ, dass Folter keineswegs ein Vorrecht der Hölle war, knickte er ein.
„Jebelam!“, spie er ihm ins Gesicht. „Ihr Name ist Jebelam! Sie ist eine mächtige Falxugon, eine Seelenernterin! Die Illusionen und die Portale sind ihr Werk!“
„Die Portale?“
„Na, die…“ Eine kleine Zornwolke dampfte aus den Nasenlöchern des Luftgeists, als er erkannte, dass er sich verplappert hatte. „Jebelam hat Portale in andere Welten errichtet, um Sterbliche nach Dunkelgradt zu locken“, gab er grantig zu. „Sie sorgt dafür, dass ihnen in dieser Stadt jeder ihrer Wünsche erfüllt wird.“
„Um den Preis ihrer Seelen.“ Faust begriff. „Welchem der Neun Erzteufel dient diese Jebelam?“
„Ursprünglich diente sie Bel, dem Herrn von Avernus. Aber laut eines uralten Paktes gehen alle Seelen, die in Dunkelgradt gebunden werden, an den Herrscher der Stadt. Bel hat Dunkelgradt an Dispater verloren. Und nun lauert General Zinimar mit Balzebuls Legion vor den Stadttoren…“
Seelen. Also das war der Wert dieser Stadt. Kein Wunder, dass sich die Legionen vor den Stadttoren die Köpfe einschlugen. Und natürlich durften sie dabei die heile Welt der Portalstadt nicht zerstören: Ein Schlachtfeld innerhalb der Stadtmauern wäre vermutlich selbst für die Falxugon-Illusionistin schwer mit Kleinstadtidylle zu übertünchen.
„Und wo finden wir diese Jebelam?“
„Sie unterhält ein Gasthaus in der Stadtmitte: Zur Katze im Sack.“
„Überaus subtil.“
Kurz darauf machten sich die Gefährten auf den Weg.
Die Auskunft war dem Ifrit ein wenig zu rasch über die Lippen gekommen, fand Faust. Gut möglich, dass er telepathisch mit seiner Herrin in Verbindung stand. Besser, sie machten sich auf einen Hinterhalt gefasst. Die Vorsicht zahlte sich aus: Kaum hatten sie sich mit gezückten Waffen dem Gasthaus genähert – einem der wenigen intakten Gebäude der Stadt –, rollte von hinten ein lodernder Feuerball auf sie zu. Hastig sprang Faust zur Seite, sodass er nur einen heißen Zug auf den Wangen spürte. Auch die anderen ließ die feurige Begrüßung kalt. Als sich der Rauch gelegt hatte, erspähte Faust die Gestalt des Teufelsgenerals, der mit drohend ausgebreiteten Schwingen über ihnen schwebte. Er trug eine glänzende Rüstung aus geölten Metallringen. Faust, der Mühe hatte, sein teufelsblutlechzendes Schwert unter Kontrolle zu halten, überließ es Grimwardt und Winter, das Gasthaus zu stürmen. Zu lebendig war seine Erinnerung an seine letzte Begegnung mit einem Höllenschlundteufel, als dass er sich die Gelegenheit durch die Lappen gehen ließe, eine dieser Ausgeburten des Bösen in Schwefelsäure zu verwandeln…
„Habt Ihr nicht eine Stadt zu verteidigen?“, rief er herausfordernd.
„Was glaubst du, was ich hier tue, Sterblicher!“
Mit den Worten spie der General ihm einen schwarzen Feuerkegel entgegen. Fausts magische Rüstung widerstand dem Feuer, doch durch die Wucht des Odems wurde er unsanft zu Boden gerissen. Im nächsten Moment war der Gegner über ihm und Faust durchfuhr ein brennender Schmerz in der Halsgegend, begleitet von dem widerlichen Gestank des Teufelsatems. Doch bevor der Teufel einen Hornstoß hinterher schicken konnte, brach Tyrail, der von hinten anpreschte, ihm mit präziser Wucht das Schlüsselbein. Brüllend fuhr der Teufel herum und schlug nach dem Elf, der dem zornigen Hieb mit verächtlicher Beiläufigkeit auswich. Faust wusste aus Erfahrung, dass Tyrails Überheblichkeit Taktik war – als junger Kämpfer war er ihr selbst oft genug auf den Leim gegangen: Die Arroganz des Elfen steigerte den Gegner in eine blinde Wut auf Kosten der Präzision. Schlag um Schlag verfehlte ihn. Während der Elf die Aufmerksamkeit des Teufels auf sich fokussierte, nahm Faust Anlauf und sprang. Der Teufel bog den Oberkörper zur Seite und versuchte ihn über die Schwingen abgleiten zu lassen – doch zu spät. Knochen splitterten, als Zwiespalt durch das Rückgrat des Generals drang. Ächzend brach die massige Gestalt zusammen.
„Gute Arbeit!“, lachte Faust. „Fast wie früher!“
Tyrail erwiderte das Lob mit einem vernichtenden Blick, der Fausts gute Laune im Keim erstickte. Früher hatte der Elf sich hin und wieder von seiner Euphorie mitreißen lassen. Seinen Menschenhass hatte er in solchen Momenten für eine Weile vergessen können. Doch Thallastams Geist hatte recht: Der kameradschaftliche Teil ihres Konkurrenzkampfes war mit ihm gestorben.
Fausts Halswunde war nicht tief, aber das Jucken bereitete ihm Sorgen: Höllenschlundteufel waren bekannt für ihre Giftzähne und die Seuchen, die ihr fauliger Atem verbreitete. Wo blieb Miu nur? Sie war doch sonst stets zur Stelle, sobald einer der Gefährten verletzt wurde? Während Tyrail dafür sorgte, dass der verwundete Teufel seine Wunden nicht regenerieren konnte, suchte Faust im Gasthaus nach seinen Gefährten. Die Leiche eines in der Auflösung begriffenen Glabrezu versperrte den Eingang. Während er sich einen Weg durch den Haufen aus Fleisch und Schwefelblasen bahnte, beobachtete Faust im Dämmerlicht des Schankraums eine weitere der riesigen Gestalten im Kampf gegen Grimwardt – und Miu! Faust traute seinen Augen kaum, als er Zeuge wurde, wie die friedfertige Ordensschwester dem Ungeheuer einen Mönchstritt in die Magengrube verpasste, die den Teufel das Schwindeln lehrte.
„Miu! Ich wusste nicht mal, dass du das kannst! Das war...“ Das Lob blieb Faust im Hals stecken, als er Mius unerbittlichen Blick auffing. Ihr Gesicht wirkte hart und gespenstig in der düsteren Umgebung.
Während Grimwardt dem Teufel den Gnadenstoß verpasste und Miu sich Fausts Wunde annahm, trat Winter aus dem Nebenraum.
„Die Gastwirtin ist entkommen“, sagte sie außer Atem. „Sie war von einem magischen Schutzfeld umgeben. Grims Axt ist von dem Schutzfeld abgeglitten und ich kam nicht schnell genug an sie heran, um zu verhindern, dass sie sich fortteleportierte.“
„Immerhin haben wir den General“, meinte Faust.
Um sich vor weiteren Angriffen zu schützen, zogen sie sich mit dem Gefangenen in Winters magischen Palast zurück: Die Hexenmeisterin hatte Doriens außerdimensionales Prunkschloss magisch restauriert. In der Enge ihrer hoffnungslos überfüllten Welt aus samtdrapierten Möbeln, seidenen Trennwänden, ausladenden Deckenkronleuchtern und Rauchbecken, deren süßliche Düfte eine leicht benebelnde Atmosphäre schufen, wirkte die massige Gestalt des gefesselten Höllenschlundgenerals geradezu lächerlich.
„Ich sage kein Wort ohne einen Pakt!“, knurrte der Gefangene, noch ehe jemand das Wort an ihn gerichtet hatte.
Dieser Satz sollte das Motto für den Rest des Tages werden. Während dieser Zeit erkannte Faust, dass die Schrecken der Hölle nicht etwa Krieg und Folter hießen, sondern Bürokratie und Pedanterie! Die Hölle war Asmodeus‘ Werk, der sich von den Göttern betrogen glaubte. Viele Legenden rankten sich um den Fall des Erzengels aus dem Pantheon, doch die beliebteste von ihnen ging davon aus, dass die Götter ihn verstoßen hatten, weil er, verroht durch den Kampf gegen die Dämonen des Abgrunds, sterbliche Seelen durch Folter zu göttlichem Gehorsam hatte zwingen wollen. Asmodeus behauptete bis zum heutigen Tag, dass er stets im Auftrag der Götter gehandelt habe und dass sein Fall nichts als schändlicher Verrat an einem treuen Diener gewesen sei. Dieser Sage nach bestrafte die Hölle darum jeden Bruch eines schriftlich festgehaltenen Vertrags mit einer Strafe, die der Schwere des Verrats angemessen war. Faust wusste nicht, was an dieser Geschichte der Wahrheit entsprach, doch die Berichte von Höllenwanderern, die einen Höllenpakt gebrochen hatten, endeten niemals gut. Es schien also wenig ratsam, das eherne Gericht von Baator herauszufordern. Also blieb ihnen nur eine Wahl: Feilschen und wortklauben was das Zeug hielt, um sich nicht von einem Teufel übers Ohr hauen zu lassen!
Nach vier zermürbenden Stunden und einer Flut von zerrissenen und umgeschriebenen Verträgen einigten sie sich schließlich darauf, den Teufelsgeneral gehenzulassen, wenn er ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortete. Auf diese Weise gelang es ihnen immerhin die Suche nach dem doppelköpfigen Dämon aus Grimwardts Vision einzugrenzen: Es musste sich bei ihm um einen Molydeus handeln, eine äußerst seltene Tanar’ri-Art. Dem Teufelsgeneral waren nur zwei dieser mächtigen Kreaturen bekannt – beide, so mutmaßte er, mussten nach Ende des Blutkriegs wie alle Dämonen getötet oder versklavt worden sein. Da Grimwardt nicht glaubte, dass Tempus den Dämon in seiner Vision hätte auftauchen lassen, wenn er für seine Mission keine Rolle mehr spielte, kam nur Letzteres in Frage. Bei der Suche nach Baalphegor konnte der General ihnen nicht helfen – doch er verriet ihnen, dass die Faxugon-Illusionistin Jebelam in ihrer Position als Spionin und Seelenfängerin vielerlei Gerüchte aufschnappte.
„Das war’s, bindet mich los!“, befahl der General. „Ich habe eure Fragen beantwortet; mein Teil der Vereinbarung ist erfüllt.“
Unter Mius düsteren Blicken befreite Faust den Teufel von seinen Fesseln. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, dass sie ihren Mund zu einem schmalen Strich machten. Ihre Unerbittlichkeit irritierte ihn – wo war seine großherzige Miu geblieben, die, wenn sie die Wahl hätte, ihr Leben für das ihres Mörders gegeben hätte? Doch selbst die Ordensschwester schien kein Pardon mit diesen Kreaturen zu kennen.
„Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn gehenlassen oder nicht“, raunte Faust ihr zu, während sie den Teufelsgeneral mit Blicken verfolgten, als er aus dem Eingangsportal des Herrenhauses trat. „An seine Stelle tritt ja doch sofort der nächste.“
Plötzlich sang der schneidende Klang einer Schwertklinge durch die Stille und der Kopf des Teufelsgenerals drehte sich auf dem Rumpf um hundertachzig Grad, sodass seine schreckerstarrten Augen sie unverwandt anstierten. Dann rollte er ihnen blutleckend vor die Füße. Bevor sein überrumpelter Körper den Tod noch recht begriffen hatte, erschien in der Sichtlücke, die das abgetrennte Körperteil hinterlassen hatte – die blutige Klinge noch erhoben – der Teufelsgeneral der feindlichen Legion… umringt von einem Bataillon wütend surrenden Insektensoldaten.
„Oh“, sagte Faust. „Ganz so wörtlich meinte ich das nun auch nicht.“
Winter reagierte als erste und schlug eilig die Tür wieder zu. Schluckend drehte sie sich zu den anderen um.
„Ich schätze, wir haben ein Problem…“
Grimwardt
Am nächsten Morgen.
Da sie entschieden hatten, dass es der Geheimhaltung ihrer Mission nicht eben dienlich wäre, wenn sie gleich zum Auftakt ihrer Höllenfahrt ein ganzes Teufelsregiment niedermetzelten, hatten sich die Gefährten am Vorabend aus Avernus zurückgezogen.
Baalzebuls Legion musste während ihrer Paktverhandlungen mit Dispaters General die Stadt erobert haben. Vermutlich hatte die teuflische Gastwirtin den Eroberern verraten, dass sich eine Gruppe mächtiger Sterblicher in der Stadt aufhielt, und um Schutz gebeten. Gewiss war es der Illusionistin ein Leichtes gewesen, den unsichtbaren Eingang zu Winters Anwesen ausfindig zu machen. Doch ohne eine magische Einladung war es den Teufeln nicht möglich gewesen, das Versteck der Gefährten zu stürmen. Stattdessen hatten sie sich aufs Belagern verlegt und den ersten Gegner niedergestreckt, der aus der Tür getreten war.
Grimwardt hoffte nun, dass der General die übereilte Flucht der Gefährten als Rückzug deutete und nicht mit ihrer Rückkehr nach Dunkelgradt rechnete. Denn selbst wenn es ihnen gelänge, sein Regiment zu besiegen, so wäre die Gefahr doch zu groß, dass sein Herr – und über Umwegen die anderen Erzteufel – von dem Angriff erfuhren. Der Abenteurer Marco Volo nannte in seinen Reisetipps für die Höllenfahrt als eines der wichtigsten Gebote für das Überleben in Baator: Gehe Auseinandersetzungen aus dem Weg oder lass niemanden am Leben! Sonst stehst du morgen dem Chef deines Gegners gegenüber! Ob Volo nun tatsächlich schon einmal die Hölle bereist hatte oder seine Weisheiten nur aus anderen Werken zusammengeklaubt hatte – der Rat schien Grimwardt in der gegebenen Situation nur angebracht!
Nach einem reichhaltigen Heldenfrühstück wiederholte der Kriegspriester das Ritual, das sie am Vortag nach Avernus gebracht hatte. So kehrten die Gefährten frisch gerüstet zurück nach Baator – oder genauergesagt: geradewegs in die Katze im Sack.
Jäh schrak Jebelam von ihrer Arbeit auf: Wie eine lauernde Vettel hatte die Seelenernterin, als dralle Gastwirtin getarnt, hinter einem Gast geharrt, der in ein Kartenspiel mit einem Bartteufel vertieft war, den er vermutlich für einen wohlbetuchten Wirtshausgast hielt: ein Opfer, das in eine ihrer Portalfallen getappt sein musste. Grimwardt konnte sich denken, was sie dem jungen Mann ins Ohr flüsterte, während dieser Münze um Münze an den teuflischen Trickbetrüger verlor. Der Schweiß auf seiner Oberlippe und die gierig-feuchten, übernächtigten Augen sprachen Bände: Am nächsten Tag würde er sich vermutlich nicht einmal daran erinnern, seine Seele verkauft zu haben. Selbst die Gruppe schwerbewaffneter Abenteurer, die plötzlich in den Raum geplatzt kam, nahm er nur mit einem irritierten Stirnrunzeln zur Kenntnis. Zwei als Gäste getarnte Baatezu-Wachen dagegen sprangen allarmiert auf. Doch mitten in der Bewegung hielten sie inne; ein telepathischer Befehl schien ihnen Einhalt zu gebieten.
Begleitet mich aus der Stadt, hörte Grimwardt die Stimme der teuflischen Gastmutter in seinem Geist. Greift ihr an, so brauche ich nur mit dem Finger zu schnipsen und Zinimars Regiment rückt an.
„Spielt nur weiter, ihr beiden“, säuselte sie mit mütterlicher Fürsorge an die beiden Kartenspieler gewandt. „Meine Freunde wollten euch nicht erschrecken. Kommt nur mit und sagt mir, was euch bedrückt.“
Offenbar fürchtete sie die Seele des Kartenspielers zu verlieren, die ihr schon so gut wie sicher war, wenn sie es zum Kampf kommen ließ. Die Versuchung war groß, ihre Drohung in den Wind zu schlagen und Tempus‘ Zorn über diese Schacherbude zu bringen! Doch Grimwardts magischer Blick verriet ihm, dass Jebelam auch dieses Mal mit einem Eisenwacht-Zauber geschützt war. Sicher, mit einer Antimagsichen Zone kämen sie an sie heran, doch wenn sie es auf einen Kampf ankommen ließen, riskierten sie, dass sie ihnen auch dieses Mal durch die Lappen ging, bevor sie ihren Schutzwall durchbrechen konnten. Also gingen sie auf das Angebot ein und folgten der Seelenernterin vor die Stadt. Dabei entging ihnen nicht, dass sie die Zeit nutzte, um sich mit weiteren Zaubern zu schützen.
„Keine Seelenpakte“, stellte Grimwardt klar, als sie unter den düsteren Blicken der Torwachen vor den Stadtmauern ankamen. „Wir wissen, wer ihr seid, also versucht es erst gar nicht.“
Sekundenlang huschte ein boshafter Zug über die gutmütigen Pausbacken der Wirtsherrin. Doch sosehr schien sie mit ihrer Maske verwachsen, dass diese auch jetzt sogleich die Wogen glättete.
„Nun, dann wollen wir sehen, was wir sonst füreinander tun können“, schlug sie mit einem affektierten Lächeln vor. „Fünf Sterbliche in der Hölle… Was mögt ihr hier wohl zu finden hoffen, wenn ihr nicht mit der gängigen Währung zu zahlen bereit seid?“
„Das ist unsere Sache“, erklärte Grimwardt ruhig. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Tempus-Priester das Reden übernehmen sollte, da Faust alle Entscheidungen mit dem Schwert und Winter mit dem Herzen zu lösen pflegte – beides konnte sie hier in… nun ja… in Teufels Küche bringen.
Grimwardt war einen Augenblick lang versucht, Jebelam zu erpressen: ihr Rückzug aus der Stadt gegen gefälschte Papiere, die ihnen freies Geleit nach Cania garantierten! Als erfahrene Illusionistin sollte sie dazu in der Lage sein. Und sie diente – zumindest im Moment – Baalzebul, dem erklärten Erzfeind des Mephistopheles, der keinen Grund hätte, die Mission der Gefährten zu sabotieren, wenn er Wind davon bekäme. Andererseits mochte die Stadt jederzeit an einen der anderen Erzteufel fallen – und mit ihr Jebelams Loyalität. Nein, sie durften der Seelenfängerin nicht zu viel von ihren Plänen preisgeben.
„Die Portalstadt interessiert uns nicht“, behauptete er darum knapp. „Wir sind auf der Suche nach einer Gesetzlosen.“ Mochte die Falxugon sie für Kopfgeldjäger in teuflischem Auftrag halten. „Ihr Name ist Baalphegor und sie diente bis vor Kurzem am Hof von Cania. Dunkelgradt ist eine vielbesuchte Stadt. ‚Avernus‘ Gerüchteküche‘, nannte sie der General der Disischen Legion, wenn ich mich recht entsinne. Vielleicht habt ihr ja das ein oder andere aufgeschnappt, das uns dazu bewegen könnte, Dunkelgradt den Rücken zu kehren…“
„Wenn ich wüsste, wo sich diese Baalphegor befindet, dann wüssten es auch andere“, dozierte die Seelenernterin mit der gutmütigen Herablassung einer Lehrerin, die einem sturen Kind zum zigsten Mal das Einmaleins erklärt. „Dann wäre sie wohl längst nicht mehr am Leben. Aber es mag sein, dass ich im Besitz eines Gegenstandes bin, der mehr weiß als ich.“ Ein kleines, affektiertes Glucksen, als ob sie gerade den Witz des Tages gerissen hätte. „Wer die Regeln des Blutkriegs kennt, der weiß, worauf er achten muss, um zu erkennen, welchem Herrn ein Teufel dient. Höllenschlundteufel, die man hier auf Avernus trifft, sind für gewöhnlich hohe Offiziere in einer der Legionen. Da fällt es auf, wenn einer bei mir auftaucht, der es versäumt, Farbe zu bekennen. Dachte mir dass es nützlich werden könnte, etwas dazubehalten, das ihm gehört… eine Schwertscheide, als Pfand für Spielschulden. Das gute Stück war eigentlich nicht für ein paar sterbliche Vagabunden gedacht, die plündernd durch meine Stadt streunen, aber unter den Umständen…“ Abrupt verschwand das aufgesetzte Lächeln aus ihren kleinen Schweinsäuglein. „Das ist mein Preis“, sagte sie, plötzlich ganz die kühle Vertreterin: „Unterschreibt einen Pakt, der besagt, dass ihr Dunkelgradt niemals mehr betreten werdet, und ich überlasse euch das rostige alte Ding!“
„Eine Komponente.“ Grimwardt begriff. Sie könnten die Schwertscheide benutzen, um den legionslosen Teufel aufzuspüren. „Und ihr glaubt, dass dieser Unbekannte zu Baalphegors Eskorte gehört, hm?“
„Schlaues Bürschchen“, spottete Jebelam. „Garantieren kann ich natürlich für nichts.“
Vermutlich überstieg der Auffindungszauber ihre Fähigkeiten oder die Komponente war für Mephistos Meuchelmörder bestimmt gewesen, doch das behielt diese kleine Viper natürlich lieber für sich.
Grimwardt tauschte einen Blick mit seinen Gefährten. Bis auf Miu schienen alle einverstanden.
„Schön. Zeigt uns diesen Pakt.“
Jebelam schnipste mit dem Finger und in der Luft zu ihrer Linken erschien eine schwebende Schriftrolle, die sich nach und nach mit magischem Text zu füllen begann. Mit Argusaugen lasen sich die Gefährten das Kleingeschriebene durch, um nicht am Ende doch mit der falschen Währung zu zahlen. Erst nach etlichen Umformulierungen und Abwandlungen standen all ihre Namen unter dem Vertrag.
Als Jebelam fortteleportierte, um ihnen die Schwertscheide zu bringen, wandte sich Miu jäh zu ihren Freunden um. Ihre Augen waren starr vor grimmiger Enttäuschung, als sie die anderen mit einer wilden Schimpftirade aus Handzeichen überzog, die sie so schnell aneinanderreihte, dass selbst Faust, der als einziger ihre lautlose Sprache verstand, Mühe hatte, ihr zu folgen.
„Miu…“ Faust fing ihre fliegenden Gesten ab, um sie zum Schweigen zu bringen. „Miu, ich weiß, was du sagen willst, aber wir werden zurückkommen! Der Pakt besagt nur, dass wir die Stadt nicht betreten dürfen! Wir kommen zurück und Winter wird diese verdammte Mausefalle unter einer Lawine beschworener Eisenwände begraben! Das schwöre ich dir, Miu! Aber wir dürfen nicht gleich einen Krieg vom Stapel brechen, wenn wir Omegas Seele befreien wollen!“
Miu wirkte nicht überzeugt. Eine Träne rollte über ihr wutstarres Gesicht und sie deutete nachdrücklich in Richtung des Gasthauses der Seelenernterin. Diesmal verstand auch Grimwardt: Und was ist mit all den anderen Seelen?
„Das ist die Hölle, Miu“, sagte Faust düster. „Wir können froh sein, wenn wir eine Seele von hier retten!“