Kapitel VI: Himmelssplitter
Grimwardt
Schwerterteich, nachts.
Stundenlang quälte sich Grimwardt durch Gesetzestexte, die in drei verschiedenen Sprachen verfasst und teilweise so alt waren, dass die Seiten unter seinen Händen zu Staub zu zerfallen drohten. Als er endlich fand, wonach er suchte, hörte er vor dem Fenster der Ordensbibliothek bereits die ersten Vögel zwitschern.
Jetzt habe ich dich, Hades.
Mit grimmiger Befriedigung klemmte er sich den Folianten unter den Arm und lief über den Hof zur Halle der Schwerter. Die meisten Ordensmitglieder hatten sich längst zurückgezogen. Nur Hades und Elijas stritten noch immer um die Aushändigung von Omegas Schwert – sofern man Hades‘ staubtrockene Litaneien, gelegentlich unterbrochen von Elijas‘ frustrierten Einwänden, als Streit bezeichnen konnte. Winter hatte sich in einer Ecke des Raumes zusammengekauert und war eingeschlafen, während sich Faust gelangweilt im Münzenschnipsen übte.
Auf Drängen des Klingengeists hatte Hades Faust eine zweite Chance eingeräumt und die Ordensmitglieder über die Aufhebung des Todesurteils abstimmen lassen. Das Ergebnis war einstimmig gewesen: Faust war frei und als Ordensmitglied rehabilitiert. Das bedeutete allerdings auch, dass Hades als Teil seiner Pflicht betrachtete gemäß Omegas letztem Wunsch alles zu tun, ihn daran zu hindern in die Hölle zurückzukehren. Nicht, dass Faust einen feuchten Dreck auf Hades‘ Meinung gegeben hätte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie Hades längst niedergehauen und ihm den magischen Stein abgenommen, der Omegas Schwert aus dem Teich zu rufen vermochte.
Hades schluckte Staub, als Grimwardt den alten Folianten vor ihm auf den Tisch wuchtete, und Winter fuhr aufgeschreckt aus dem Schlaf.
„Lest!“, befahl Grimwardt schroff.
Nachdem der Richter den Absatz einer genauen Prüfung unterzogen hatte, hob er stirnrunzelnd den Kopf.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Der Paragraph besagt, dass der Anführer der Neun Schwerter gemäß den alten Kriegsgesetzen bestimmt wird“, klärte Grimwardt ihn auf. „Ihr hattet also überhaupt kein Recht, den Titel des Anführers für Euch zu beanspruchen, ohne Elijas vorher im Duell zu besiegen!“
„Das ist nicht korrekt“, erwiderte Hades. „Elijas ‚Thallastam‘ Avalior beanspruchte für sich nicht den Titel des Anführers, sondern handelte als Omegas Stellvertreter, weil er fälschlicher Weise glaubte, sie retten zu können. Er handelte dem Orden zuwider, als er sich über ein Gemeinschaftsurteil hinwegsetzte und Faust aus der Haft entließ, darum wurde er abgesetzt. Das Kriegsgesetz greift in diesem Fall nicht.“
„Aber Ihr erhebt den Führungsanspruch.“
„Gewiss. Omega ist tot und der Orden kann nicht länger ohne Führung bleiben.“
„Dann steht es also jedem Ordensmitglied frei Euch zum Duell zu fordern und die Führung des Ordens für sich zu beanspruchen?“
Hades‘ Mundwinkel zuckten. Die Wahrheit schmeckte ihm nicht, aber er hätte sich eher das Herz aus der Brust gerissen, als eine Lüge auszusprechen.
„Das ist korrekt.“
Alle Blicke richteten sich auf Elijas. Der Avariel schien dem Braten nicht zu trauen und bewegte unschlüssig die Flügel. Jedem in diesem Raum war bewusst, dass die Chancen des Kelemvor-Priesters gegen den elfischen Klingensänger schlecht standen. Schließlich erhob sich Elijas schweren Herzens und sprach eine formelle Duellforderung aus, die Hades mit einem sauren Nicken erwiderte.
„Zur Mittagsstunde auf dem Übungsplatz“, sagte er knapp. „Ich weise darauf hin, dass der Kampf auch gemäß den alten Kriegsgesetzen endet.“
Mit diesen Worten rauschte er davon.
„Was hat er gemeint?“, wandte sich Elijas alarmiert an Grimwardt.
Der Kriegspriester seufzte.
„Die alten Kriegsgesetze besagen, dass der Kampf erst beendet ist, wenn der Unterlege sich entweder ergibt oder fällt. Gnade wird dem Sieger als Schwäche ausgelegt.“
In seiner Abtei wurde die Regelung schon lange nicht mehr angewandt, weil Grimwardt fand, dass sie zu einer sinnlosen Verschwendung von Kriegspotential führte. Hades war ganz offenbar eingeschnappt, weil er ihn mit seinen eigenen Mitteln geschlagen hatte, und wild entschlossen sich eher umbringen zu lassen, als eine Niederlage hinzunehmen.
Elijas schien zu derselben Erkenntnis zu kommen.
„Dann fangt schon mal an auf ein Wunder zu hoffen“, murmelte er düster.
Faust
Rabenklippe, zwei Tage später.
Die Flügel eng an den Körper gepresst wie ein verschüchtertes Kind vor Vaters Porzellanschrank bahnte sich Elijas einen Weg durch das Labyrinth der Büsten und Kandelaber, die sich im Laufe der Jahre in der Empfangshalle des MacLancastor-Anwesens angesammelt hatten.
Wie ein Albatros, dachte Faust belustigt. Ungeschlagen in seinem Element, aber noch immer ziemlich ungelenk in der Welt der Menschen.
Und dabei hätte Elijas längst ein großer Mann sein können. Seit seinem Sieg gegen Hades vor zwei Tagen gab es in Rabenklippe kein Augenpaar, das sich nicht bewundernd nach dem Avariel umschaute. Elijas‘ Misstrauen gegenüber derlei Lorbeeren war verständlich, schließlich hatte er schon einmal erfahren, wie flüchtig sie waren. Und schließlich hätte die Geschichte auch ganz anders enden können, wenn Hades wie angekündigt auf den Ehrentod bestanden hätte. Denn sosehr das Volk von Rabenklippe auch vor dem Todespriester zitterte – er war einer der größten Helden, derer sich die selbstverliebte Stadt je hatte rühmen können, und den Tod eines Helden nahm hier niemand auf die leichte Schulter. Doch Hades schien erkannt zu haben, dass der Orden unter seiner eisernen Herrschaft über kurz oder lang zerbrechen musste: Nur Omega konnte das Gleichgewicht der Neun aufrecht erhalten – doch sie konnte er nicht retten ohne ihrem Letzten Befehl zuwider zu handeln. Als er Elijas den Stein der Neun übergeben hatte, der die Ordensschwerter an den Teich band, meinte Faust für einen kurzen Moment sogar Erleichterung in seinen gespenstigen Augen gelesen zu haben: Erleichterung diesem Dilemma entflohen zu sein.
Nachdem sie Himmelssplitter aus dem Teich geborgen hatten, war das Auffinden der Kugel Chaos ein Kinderspiel gewesen: Mithilfe magischer Untersuchungen an der Waffe hatten die Gefährten das Artefakt auf der Ebene Pandemonium aufgespürt. Dort hatten sie die Kugel aus dem Innern einer uralten Chaosbestie herausgeschnitten. So unspektakulär war dieser Teil der Geschichte verlaufen, dass Faust sich fragte, weshalb Omega nicht schon früher nach ihr gesucht hatte. Hätte er ein Artefakt besessen, das einen Gott entmachten konnte, er hätte den göttlichen Reichen schon längst einen Besuch abgestattet… Andererseits war das vermutlich einer der Gründe, weshalb Himmelssplitter Omega als Trägerin erwählt hatte und nicht ihn…
„Hm… Sag mir noch mal, weshalb wir hier sind…“
Unbehaglich folgte Elijas dem Hausmädchen in die persönlichen Gemächer der Hausherrin.
„Ich will dich meiner Mutter vorstellen“, gab Faust bereitwillig Auskunft und beobachtete grinsend, wie sich zaghafter Argwohn in den Zügen seines Begleiters abzeichnete. Doch der Avarielfürst war zu höflich danach zu fragen, wie er wohl zu dieser sonderbaren Ehre kam – und zu Fausts Glück kannte er ihn nicht gut genug, um bei diesem Grinsen nicht so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Sie fanden Lady Helena in Gesellschaft einer jungen Bekannten, die das Hausmädchen ihnen als Lady Dora vorstellte. Ein kleiner Fisch in Helenas Intrigennetz, wie Faust vermutete.
Besser hätte ich es nicht planen können…
„Mutter, Lady Dora.“ Faust konnte es sich nicht verkneifen, vertraulich den Arm um die Taille des überrumpelten Avariel zu legen: „Das ist mein Freund Elijas.“
Bedeutungsvolle Stille. Dann entfuhr Lady Dora ein quiekender Laut zwischen Kichern und Schluckauf, den sie eilig mit vorgehaltener Hand zu unterdrücken versuchte. Fausts Mutter dagegen hob nur vielsagend eine Augenbraue und nahm unbeeindruckt einen Schluck Tee.
„Lady Dora“, bat sie mit einem säuerlichen Lächeln, während ihr Blick auf Faust ruhte. „Mein Sohn scheint seit unserer letzten Begegnung durch die Hölle gegangen zu sein. Wenn Ihr uns wohl für heute entschuldigen würdet?“
Lady Dora konnte es gar nicht erwarten, den Salonklatsch des Monats zu überbringen und raffte eilig die Röcke. Fausts Mutter ersuchte auch Elijas sie allein zu lassen, der seine verbliebene Würde darauf richtete, keinen allzu überstürzten Abgang hinzulegen. Dann schloss sie geräuschvoll die Tür.
Faust prustete los.
„Ich weiß, es erheitert dich, mich vor aller Welt in Verlegenheit zu bringen“, kommentierte seine Mutter eisig sein kleines Theaterstück. „Ich hoffe nur, dass dein ‚Freund‘ ebenso eine diebische Freude an übler Nachrede hat wie du.“
Sie nahm ihm gegenüber in der Sitzecke des Lesesalons Platz und musterte ihn lange und kritisch wie das dubiose Kunstwerk eines exzentrischen Malers.
„Du bist aus der Hölle zurückgekehrt“, stellte sie schließlich nüchtern fest.
Er hatte sein Versprechen gehalten und seine Mutter über sein Vorhaben auf dem Laufenden gehalten. Sie hatte ihn nicht davon abgehalten, weil sie wusste, dass es vergebliche Mühen gewesen wären. Doch es wurmte ihn, dass sie es nicht einmal versucht hatte. Darum ließ er sie zappeln, während die unausgesprochene Frage wie ein zitterndes Schwert über ihnen hing. Nachdem sie eine Weile ihr Teeservice seziert hatte, hielt Helena es schließlich nicht länger aus.
„Hast du ihn getroffen?“
Faust nickte.
„Er ist ein Halbteufel“, eröffnete er ihr in unbedarftem Plauderton. „Ziemlich hohes Tier an Mephistos Hof. Hat seine Freunde verraten und seine Seele verkauft.“
Sie nahm einen tiefen Schluck ihres Tees. „Du hast also mit deinem Vater gesprochen…“
„So würde ich es nicht nennen.“ Er spürte, wie sein Sarkasmus in Bitterkeit umschlug. „Nicht dass ich nicht gerne ein wenig mit ihm geplaudert hätte, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht von ihm umbringen zu lassen, während er mit einem brennenden Schwert auf mich losging.“
Er wusste nicht genau, wofür er sie bestrafen wollte. Für all die Heldengeschichten? Für ihre unerschütterliche Liebe? Dafür, dass sie in ihm die Hoffnung geweckt hatte, dass irgendeine noble Intention hinter den Gräueltaten seines Vaters stand? Er konnte sehen, dass sie um Fassung rang und dieses Mal – dieses eine Mal – würde er den verdammten Eispanzer von Helena MacLancastor durchbrechen!
„Oh, ich habe übrigens meine Seele verkauft.“
Ein Schaudern streckte ihren Rücken wie bei einem Hexenschuss.
„Ist das wieder einer deiner geschmacklosen Scherze?“
„Nein, das ist mein voller Ernst. Naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?“
Seine Mutter war kreidebleich geworden. Wankend hielt sie die Lehne ihres Sessels umklammert. Faust wusste, es war Zeit, aufzuhören. Doch er war wie im Rausch gefangen. Irgendein Funke, irgendein sadistisches Vergnügen, trieb ihn vorwärts. „Ich habe noch fünfzehn Jahre - dann gehe ich über den Styx und Mephistopheles trinkt meine Seele.“
„Hör auf…“
„Er hat mich foltern lassen. Eine meiner Gefährtinnen ist noch immer da unten…“
„HÖR AUF!“ Sie war aufgesprungen und bebte am ganzen Körper. Niemals zuvor war sie ihm so verletzlich vorkommen. „Was willst du von mir, Desmond! Du tauchst hier auf mit deinen geschmacklosen Scherzen und deiner Unverfrorenheit und erzählst mir, dass dein Vater ein Monster ist und du deine Seele an den Teufel verschachert hast?! Was erwartest du von mir? RAUS! Raus aus meinem Haus! Geh mir aus den Augen!“
Ihr Zorn und ihr Schmerz rissen Faust aus seinem Wahn. Betroffen richtete er sich auf.
„Wann…?“ Er schluckte.
„Geh… Geh einfach.“
Sie würde nicht weinen. Nicht vor ihm. Diese letzte Blöße konnte sie sich nicht geben. Betäubt, wie ein Verurteilter, der schlafwandelnd ein Verbrechen begangen hatte, folgte er ihrem anklagenden Zeigefinger aus dem Raum…
Ziellos lief er durch die Straßen. Er glühte. Er hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, wenn er auch nur eines der Gefühle zuließ, die unter der Oberfläche brodelten.
Fünfzehn Jahre.
Erst der Flügelschlag erinnerte ihn daran, dass er nicht alleine hergekommen war. Elijas schien die empfindliche Spannung zu spüren und hielt Abstand.
Faust stieß ein raues Lachen aus.
„Wunder dich nicht, wenn morgen die ganze Stadt über dich tratscht. Aber ich schätze, das bist du nicht anders gewöhnt…“
Elijas überging den rüden Sarkasmus.
„Das lief nicht so ganz wie geplant, hm?“, bemerkte er vorsichtig, während er sich bemühte mit Fausts chaotischem Laufschritt mitzuhalten.
„Ich war nur ehrlich“, knurrte Faust grimmig. „Zu ehrlich, wie meistens….“
Der Avariel hielt erschrocken inne.
„Du hast ihr erzählt, dass du…?“
„… meine Seele verkauft habe, verdammt, ja!“
Elijas verbiss sich einen vorwurfsvollen Kommentar und schwieg.
„Glaubst du, sie ist es wert?“, fragte er schließlich unvermittelt. „Omega…“
Faust sah ihn scharf an.
„Sie ist die beste von uns, oder nicht?“
„Ja“, erwiderte der Avariel leise. „Und darum hatte sie vermutlich Recht. Niemand von uns hätte ihr folgen sollen… Es zerreißt den Orden.“
Tyrails Verbrechen. Hades‘ Machtspiele. Vermutlich hatte Elijas Recht. Wahrscheinlich wären die Neun Schwerter aber so oder so zum Scheitern verurteilt. Und ihm war das ehrlich gesagt herzlich egal. Er war nicht für den Orden durch die Hölle gegangen. Hatte nicht für den Orden seine Seele verkauft. Im Grunde, gestand er sich ein, ging es ihm nicht einmal um Omega. Er wollte Mephisto besiegen. Mehr als jeden seiner Feinde wollte er ihn tot sehen. Für das, was er aus seinem Vater gemacht hatte. Aus Tyrail. Was mit Miu geschah… Die Frage war nur, ob der Preis nicht schon zu hoch war.
Faust schob den Gedanken beiseite.
Nicht heute…
„Schon mal etwas von damarischen Trinkmarathons gehört?“, wandte er sich unvermittelt an Elijas.
„Damarische… was?“
Faust klopfte ihm nüchtern auf die Schulter.
„Du weißt dein Talent echt nicht einzusetzen, Mann.“
Kurz darauf schob er den sich sträubenden Elfen durch die Tür des „Hinkenden Raben“. Er mochte nicht wissen, wie die Zukunft aussah, aber er hatte eine ziemlich lebhafte Vorstellung davon, wie diese Nacht aussehen konnte. Und so wie er seinen Gemütszustand einschätzte, waren gespaltene Schädel dabei nicht auszuschließen. Da konnte es nicht schaden, jemanden an seiner Seite zu wissen, der noch nie etwas von damarischen Trinkmarathons gehört hatte…
Winter
Silbrigmond.
Xara Tantlor schien an diesem Abend guter Dinge zu sein. Summend trippelte die Magierin mit dem Fuß einen Takt, während sie die Tagesabrechnung machte.
Winter war schon an der Tür, als ihr einfiel, dass sie nirgendwo erwartet wurde. Grimwardt war gleich nach dem Kampf um Himmelssplitter in die Abtei zurückgekehrt. Die letzte Nachricht, die sie aus dem Schlachtental erreicht hatte, war, dass Lady Lucia ihren Bruder für die Pferdezucht zu begeistern versuchte. Faust war indessen von einem Besuch bei seiner Mutter noch nicht zurückgekehrt. Winter sehnte sich selten nach ihrem alten Leben in Hlondeth zurück. Eigentlich hatte sie sich noch nirgendwo wirklich heimisch gefühlt. Doch in Momenten wie diesen dachte sie, dass es schön sein musste an einen Ort zurückzukommen, an dem man gebraucht wurde.
Ein wenig ratlos sah sie sich in Xaras kleiner Magierstube um. Nachdem mit der Magie auch ihre besten Kunden zurückgekehrt waren, hatte die Zaubermeisterin ihr altes Handwerk wieder aufgenommen. Da allerdings ihre Teestube bei Silbrigmondern während der Zauberpest zu einiger Beliebtheit gelangt war, hatte sie den Laden nicht aufgeben wollen. So war ihr kleines Reich zu einem Gelehrtentreff geworden, wo es ständig nach frischer Tinte und fremden Gewürzen duftete. Winter mochte diesen Ort. Lange hatte sie Xara Tantlor als potentielle Gefahr betrachtet. Dabei hatte sich das durchtriebene Miststück, das sie einst an Drake verraten hatte, längst zur braven Bürgerin gemausert – wenn man einmal von ihren dubiosen Verbindungen zur Unterwelt der Silbermarken absah, denen sie die Schmuckstücke ihrer Sammlung verdankte.
Eigentlich sind wir nicht so verschieden…
Nur, dass Xara so klug gewesen war, auf den rechten Pfad zurückzukehren, ehe ihr Sohn zu Schaden kam…
Winter gab sich einen Ruck.
„Hat Eure Teestube schon geschlossen? Es ist sehr hübsch hier…“
Xara sah auf.
„Ach, Schätzchen, heute ist eigentlich mein freier Tag“, sagte sie bedauernd. „Aber wenn dein bester Kunde hereinspaziert und deinen halben Laden leerkauft, sagst du nicht nein.“ Sie lachte geschäftstüchtig, worauf Winter höflich lächelte. Höflich und armselig, wie es schien, denn Xaras Euphorie klang ein wenig gestellt, als sie anbot: „Ich wollte heute Abend noch kurz in der Tanzenden Ziege vorbeischauen, warum kommt Ihr nicht mit! Ich denke, nach diesem Geschäft kann ich es mir leisten, euch einen auszugeben!“
Na großartig, selbst die Mutter eines Tieflingbastards findet mich bemitleidenswert!
Trotzdem nahm Winter die Einladung an. Eine Stunde und drei Kelche Feuerdrachen später musste sie zugeben, dass sie sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert hatte. Xara plapperte munter und ungeniert drauflos, sodass Winter gar keine Zeit blieb in Schwermut zu verfallen. Bei so manch blumiger Schilderung ihrer Liebesabenteuer trieb es selbst der gestandenen Heiratsschwindlerin die Schamesröte ins Gesicht. Plötzlich fiel ihr auf, dass Xara ihren Redefluss unterbrochen hatte.
Die Magierin musterte sie neugierig.
„Darf ich Euch eine Frage stellen?“
„Fragen dürft Ihr.“
„Läuft da etwas zwischen Faust und Euch?“
„Nein…“, erwiderte Winter überrumpelt. „Ihr… äh… könnt gerne Euer Glück versuchen.“
Eilig vergrub sie ihren Blick im Wein.
Xara lachte freimütig. „Oh, deshalb frage ich nicht.“ Winter hoffte, dass ihr die Erleichterung nicht allzu offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand. „Versteht mich nicht falsch. Er ist schon ein Schnittchen, Euer Faust. Aber ich muss schließlich an meinen Sohn denken. Nein, ich suche im Moment eher etwas… Solideres.“
„Wie geht es Eurem Sohn?“, ergriff Winter die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
Xara seufzte tief und zuckte mit den Schultern.
„Er ist in diesem Alter, wo er sich seiner Mutter kaum noch anvertraut. Um ehrlich zu sein, ich mache mir Sorgen um ihn. Drake taucht immer wieder auf und der Junge scheint ganz vernarrt in ihn zu sein. Keine Ahnung, was die beiden so treiben, aber… naja, wir sprechen von Drake! Wenn ich das Thema anschneide, endet es immer im Streit. Am liebsten würde ich ihm den Kontakt ganz verbieten, doch ich fürchte, dass er sich mir dann völlig verschließen würde. Aber was erzähle ich! Ihr habt ja selbst eine Tochter.“
„Ja.“ Winter fuhr matt lächelnd mit dem Finger über den Rand ihres Kelchs. „Nur dass wir die Sturheitsphase übersprungen haben und gleich zu der Phase übergegangen sind, wo sie mich abgrundtief hasst!“
Xara stutzte und sah Winter erschrocken an. Dann nahm sie ihr energisch den Weinkelch aus der Hand.
„Schätzchen, entweder Ihr hattet schon viel zu viel von dem Zeug oder noch lange nicht genug. Noch einen davon!“ Sie drückte den Kelch samt Silbermünze einer herumwuselnden Schankmaid in die Hand. „Und was Eure Tochter angeht: Ich bin sicher, sie hasst Euch nicht. Aber die Fußstapfen, in die sie da tritt, sind verdammt groß!“
„Naja, im Moment eifert sie wohl eher den Fußstapfen ihres Onkels nach.“
Den Göttern sei Dank.
„Hm, Euer Bruder…“, sinnierte Xara. „Ein disziplinierter Mann, will mir scheinen.“
„Äußerst diszipliniert!“, bekräftigte Winter. „All die Jahre im Zölibat! Keine Ahnung, wie er das aushält!“
„Er lebt in Keuschheit?!“ Die Magierin sah aus, als könne sie auf diesen Schock selbst noch einen Feuerdrachen gebrauchen. „Für Tempus, diesen alten Sack?!“
„Vielleicht ist er auch einfach noch nicht in Versuchung geraten“, erwiderte Winter übermütig. Dann musste sie kichern. Es war schwer genug, sich Grim mit einer Frau vorzustellen. Aber eine Frau, die Tempus einen alten Sack schimpfte?! „Wenn er das nächste Mal einen neuen Waffenkristall will, schleppe ihn mit und lasse euch beide ein wenig allein, was meint Ihr?“
„Warum kommt Ihr nicht zum Grüngras-Fest in einem Monat?“, lud Xara sie ein.
„Auf jeden Fall“, versprach Winter. Dann fiel ihr ein, dass sie vorher noch einen Krieg gegen den Herrn der Neun Höllen gewinnen mussten. „Das heißt, wenn wir dann noch leben.“
Xara verschluckte sich fast an ihrem Wein.
„Also jetzt reicht es!“, hustete sie resolut. „Da hilft kein Feuerdrache mehr! Schließt die Augen!“ Winter war so überrumpelt, dass sie gehorchte. „Der nächste Kerl, der durch diese Gasthaustür tritt, ist Euer für die heutige Nacht! Glaubt mir, Ihr könnt es gebrauchen!“
Winter öffnete die Augen – im selben Moment, als ein junger Halbelf die Tanzende Ziege betrat.
„Tss“, schmollte die Magierin. „Wenn ich dieses Spiel spiele, kommt selten was Ansehnliches dabei rum!“
Amüsiert beobachtete Winter, wie der junge Mann sich mit einigen Freunden an einem Tisch in ihrer Nähe niederließ.
Hm, wieso eigentlich nicht?
Xara hatte Recht: Sie konnte wirklich ein wenig Ablenkung gebrauchen. Flüsternd beschwor sie einen Funken Magie, der sich in ihrer Hand zu einer Rose formte, die farblich ihrem Feuerhaar glich und blies sie in die Menge. Erstaunt sah der Auserkorene sich um, als das zarte Magiegebilde auf seinem Tisch landete, und ihre Blicke trafen sich. Winter lächelte siegessicher.
„Ich glaube“, murmelte Xara, die den Austausch mit der Neugier einer lauernden Füchsin verfolgt hatte. „wenn Ihr nicht meine beste Kundin wärt, könnte ich Euch auf den Tod nicht ausstehen!“
Winter fing an, sie richtig gern zu haben.
Faust
Schattenebene, zwei Tage später.
Wo Ares die Faust gegen das dunkle Gemäuer gestoßen hatte, war ein Rußfleck zurückgeblieben. Seit diesem spontanen Zornausbruch hatte er keine Regung mehr gezeigt. Stumm und düster harrte der Halbteufel mit halb geöffneten Schwingen am Fenster und starrte hinaus in die neblig-graue Finsterlandschaft. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, wie es um Fausts Seele stand. Der war ihm nachgegangen, als er wutentbrannt aus der Burghalle gestürmt war und lehnte nun mit verschränkten Armen im Türrahmen.
„Wundert mich, dass es dich so aufregt, dass Mephisto meine Seele zum Abendessen futtert“, bemerkte er.
„Es regt mich auf, dass Mephisto mich auf diese Art austrickst“, erwiderte sein Vater zischend.
„Ach so. Es geht hier um dich. Wie dumm von mir, was anderes anzunehmen!“, sagte Faust zynisch. „Na, dann schlag Mephisto doch ein Schnippchen und mach den Pakt ungültig, sobald du Herr von Cania bist. Würde ihn echt aus den Socken hauen, meinst du nicht?“
Abrupt wandte Ares sich um und sah ihn scharf an.
„Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass ich dir die Haut rette“, sagte er kalt. „Selbst wenn ich siegreich sein sollte, ein Seelenpakt ist ein Seelenpakt. Deine Seele wird unwiderruflich im Styx auftauchen, sobald du stirbst.“
„Aber du kannst mich danach wieder freilassen, so wie Omega.“
Ares lachte hart auf.
„Ein Höllenfürst entlässt keine Seele aus sentimentalen Regungen. Ganz abgesehen davon, dass dann nichts mehr von dir übrig sein wird. Hast du die Seelen im Fluss nicht gesehen? Du kannst dir die Schmerzen nicht einmal vorstellen, die sie erleiden. Omega wird nicht mehr dieselbe sein, selbst wenn ich ihre Seele gehen lasse. Und du hast nicht einmal einen Bruchteil ihrer Selbstbeherrschung. Ganz abgesehen von deiner geringen Lebensspanne. Wenn der Fluss all deine Erinnerungen auslöscht, ehe deine Seele den Seelensee erreicht, dann bist du nichts als ein schlotternder, sabbernder Irrer, sollte irgendwer so hirnrissig sein, dich zurückzubringen!“
Faust bemühte sich eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, um Ares nicht merken zu lassen, wie hart seine Worte ihn trafen. Ja, es stimmte, ein Teil von ihm hatte gehofft, dass sein Vater ihm aus dieser Patsche helfen würde.
Grübelnd betrachtete er die düstere Gestalt am Fenster. War er für Ares tatsächlich nichts weiter als eine Figur im Spiel um Cania? Wie gleichgültig konnte sein Sohn ihm sein, wenn er ihn angreifbar machte? Oder war das nur Teil der Maske, die er trug, um seine höllische Karriere voranzutreiben? So wie seine Rolle bei den Neun Schwertern nur eine Maske gewesen war…
„Komm“, riss Ares ihn aus seinen Grübeleien. „Wir haben einen Krieg zu gewinnen.“
Sie kehrten in die Halle zurück, wo Grimwardt und Winter über den Pakt gebeugt saßen, der ihre Bedingungen für die Aushändigung von Omegas Schwert spezifizierte. Ares unterzeichnete das Schriftstück kommentarlos. Trotzdem kostete es Faust Überwindung, die Waffe in seine Obhut zu geben. Zögernd zog er das Schwert aus der Scheide und fuhr mit den Fingerkuppen über die blutscharfe Glasstahlklinge, in deren Mitte die kostbare Kugel glänzte wie eine satte rote Perle. Nichts. Nicht einmal ein magisches Glimmen.
Möge Himmelssplitter mehr Vertrauen in dich haben als ich, dachte er bitter, während er die Klinge übergab.
Zuerst geschah nicht. Dann wurde die Klinge von einem kurzen, magischen Schaudern erfasst und die Chaoskugel erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. Ihr Schein und das Versprechen ihrer Macht strahlten noch in Ares‘ Augen nach, als die Magie längst erloschen war. Doch das Schwert hatte seine Entscheidung getroffen: Es würde Ares dienen, wenn er es im Gegenzug wieder mit Omega vereinte.
Nach der Übergabe klärte Ares sie kurz über die Lage in Baator auf. Vier der verbliebenen sieben Erzteufel hatte der Halbteufel für seinen Kriegszug gegen Mephistopheles gewinnen können. Baalzebul und Glasya, Asmodeus Tochter, die den Sechsten Höllenkreis regierte, waren die entschlossensten Gegner des neuen „Gottes“, denn beide rechneten sich unter Mephistos Herrschaft keine großen Überlebenschancen aus. Bel, Herr des Ersten Höllenkreises, führte zwar keine persönliche Fehde gegen Mephisto, war jedoch der Überzeugung, dass Baator unter einem Emporkömmling mit zweifelhafter göttlicher Legitimierung im Chaos versinken würde. Fierna schließlich, auch bekannt als das „Flittchen von Phlegtos“, hoffte sich durch die Allianz von der Bevormundung durch ihren Vater loszusagen, der Mephistos Lager unterstützte. Mephisto hatte sich öffentlich vor seinen Befürwortern zum Herrn der Neun Höllen ausrufen lassen und Asmodeus‘ Palast in Nessus bezogen. Seine Streitmacht war ein wenig kleiner als Ares‘, doch dafür befehligte er die Elitetruppe von Nessus. Die Legionen der vier Verbündeten sowie Ares‘ eigene kleine Privatarmee versammelten sich derzeit zur Heeresschau auf dem Siebten Höllenkreis. Da Mephisto Cania und Nessus abgeriegelt hatte, blieb ihnen nur der Weg über den Styx. Mephisto selbst würde sich vermutlich zunächst aus der Schlacht heraushalten, um so viel wie möglich von Asmodeus‘ göttlicher Macht aufzunehmen.
Schließlich war es Zeit aufzubrechen.
Begleitet von zwei Höllenschlund-Leibwächtern und einer Handvoll Abishai-Dienern führte Ares die Gefährten zu einem Portal im Keller der Schattenburg. Das magische Tor führte auf einen Hügel in der Nähe von Baalzebuls Palast. Unter ihnen bahnte sich schwerfällig der Styx seinen Weg durch das Sumpfland von Maladomini. Hunderte von Segeln leuchteten ihnen aus der tristen Blutmasse des Seelenstroms entgegen. Faust erkannte Baalzebuls Fliegen-Wappen und Glasyas Bronzepeitsche: die Flotte der „Asmodeiden“, wie die Allianz hier in Baator genannt wurde.
Im Namen des Erzbösen ziehen wir in den Krieg, dachte Faust betroffen. Ein Krieg um die Frage, wer das Vorrecht besitzt, die Seelen der Sterblichen zu malträtieren. Vielleicht war es die größte Stärke der Hölle, dass sie das Gute so fern erscheinen lassen konnte, dass die größten Gräueltaten zum „geringere Übel“ verblassten.
Plötzlich stieß Winter einen erstickten Schrei aus und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Sie war kreidebleich und ihr Finger zitterte, als sie auf etwas im Wasser deutete. Alarmiert folgte Faust der Geste – und entdeckte eine kleine Kriegsgaleone, deren Segel das Emblem einer schwarzen Feder, gekreuzt mit einem dunklen Schwert auf dunkelrotem Grund zierte. Faust runzelte die Stirn und sah Winter fragend an. Dann begriff er. Das Wappen aus Grimwardts Vision! Das Symbol, für das sie seit Jahren vergeblich die Bibliotheken der Reiche durchforstet hatten! Dort schaukelte es unbedarft auf den Wellen inmitten einer teuflischen Kriegsflotte.
„Wessen Wappen ist das?“, fragte Winter mit bebender Stimme.
„Eine schwarze Phönixfeder, gekreuzt mit einem Höllenfeuerschwert.“ Ares lächelte schief. „Was glaubt Ihr wohl?“