VIERTES BUCH
INSEL DER RÄTSEL
Prolog
Drake
Silbrigmond, Ches 1395 TZ.
„Was wollte die Engelsfrau von dir“, fragte Winter, als sie auf dem Weg zur Schimmernden Schriftrolle die Mondbrücke überquerten, „als sie im Geist mit dir sprach?“
Die Erinnerung warf einen düsteren Schatten.
„Wenn sie gewollt hätte, dass es alle erfahren, hätte sie es vermutlich laut gesagt“, erwiderte Drake einsilbig.
Zu seinem Erstaunen beließ es Winter dabei.
„Versprich mir, dass du uns in Ruhe lassen wirst“, sagte sie nach einer Pause.
Er hob spöttisch eine Augenbraue.
„Und welchen Wert hätte das Versprechen eines Entführers und Attentäters?“
„Lass die Spielchen, Drake... bitte.“
Bitte? Drake maß sie mit durchdringenden Blicken. Wo war Winters Kampfgeist geblieben? Hatte ihre Mutlosigkeit etwas mit dem Besuch bei ihren Schwiegereltern zu tun? Nachdem die Gefährten den ersten Schock überwunden und sich wohl oder übel damit abgefunden hatten, zwölf Jahre in der Zukunft gelandet zu sein, hatte Grimwardt darauf gedrängt, so schnell wie möglich zur Abtei zu reisen. Winter hatte ihren lächerlichen Such-Tanz aufgeführt, um ihre Tochter aufzuspüren, doch ohne Erfolg. Drake hatte sie schließlich überreden können, ihn zuerst in Silbrigmond abzusetzen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie einen kurzen Abstecher zu den Dantés’ gemacht, von dem sie mit bedrückter Miene zurückgekehrt war.
Plötzlich blieb Winter wie vom Donner gerührt stehen.
„Das ist ja wohl nicht ihr Ernst!“
Sie waren bei der Schimmernden Schriftrolle angelangt, doch anstelle des vertrauten Geruchs nach Fledermausdung, Binsenkraut und alchemistischen Substanzen quoll ihnen aus dem Eingang des kleinen Zauberladens eine Duftwolke aus Minze, Honig und Amber entgegen und ein Blick durch die geöffnete Eingangstür gab eine Reihe von Tischen und Stühlen preis, an denen fleißig Tee geschlürft und über Politik und Stadtgeschehen lamentiert wurde.
„Eine Teestube?“
Das Innere des Ladens hielt noch eine weitere Überraschung bereit: Anstelle von Xara Tantlor trafen sie hinter dem Ladentisch einen kleinen Jungen an, der in ein Buch vertieft schien. Als er sich der Ankunft der Gäste bewusst wurde, schreckte er ertappt auf und versuchte seinen rot-gezackten Teufelsschwanz hinter dem Rücken zu verbergen.
„Ja, bitte?“, fragte der Tieflingsjunge schüchtern.
Drake pfiff leise durch die Zähne. Was Xaras zwielichtige Liebschaften anging, rangierte er offenbar nicht so weit an der Spitze wie er angenommen hatte. Nun ja, immerhin klärte der verräterische Teufelsschwanz die Vaterfrage. Nach seiner letzten Begegnung mit Xara war er sich dessen nicht so sicher gewesen. Der Gedanke hätte ihm Genugtuung verschaffen sollen. Doch das Wissen, dass sein Verschwinden nicht einmal diese kleine Narbe hinterlassen hätte, hatte einen bitteren Beigeschmack…
Als Xara von ihren Besorgungen zurückkehrte, war sie nicht schlecht erstaunt, ihre einstmals besten Kunden völlig unberührt von den zwölf Jahren, die zwischen ihrer letzten Begegnung lagen, in einer der Sitznischen anzutreffen.
„Was ist hier passiert?“, fuhr Winter sie an. „Sagt bloß, Euer Laden ist Bankrott gegangen? Ich habe mehrere Anzahlungen geleistet, für die noch die Lieferungen ausstehen!“
Xara schien aus allen Wolken zu fallen.
„Alle Welt hielt Euch für tot!“, erklärte sie. „Die Barden haben Nachgesänge auf die Helden von Immerschwinge verfasst… Meinen Laden musste ich natürlich schließen. Ohne Magie macht ein Zauberladen nicht viel Sinn.“
„Was soll das heißen, ohne Magie?“, fragte Faust.
Xara schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.
„Ihr habt tatsächlich keine Ahnung, oder? Vor elfeinhalb Jahren wurde das magische Gewebe zerstört. Ganz Faerûn war magisches Ödland. Uns im Westen hat es noch vergleichsweise milde erwischt. Im Südosten gibt es Gegenden, die magisch völlig brach liegen oder noch immer von der Zauberpest verseucht sind.“
Zauberpest? War das die Erklärung dafür, dass sie in der falschen Zeit gelandet waren? Hatte sich das zerstörte Gewebe auch auf den Zeitstrom ausgewirkt? Elfeinhalb Jahre ohne Magie! Welch einen Rattenschwanz an politischen Umwälzungen das nach sich gezogen haben musste!
„Es waren harte Zeiten für Magier“, fuhr Xara fort. „Was hätte ich tun sollen? Ich musste meinen Sohn ernähren. Die Teestube läuft gut, aber bis hierhin war es ein harter Weg. Riven hat schließlich niemanden außer mir… und er hat es schwer genug.“
Verlegen und ein wenig verdrossen darüber, dass seine Mutter so ungeniert über seine Unzulänglichkeiten sprach, strich sich der Tieflingsjunge das Haar in die Stirn, um die kleinen Hörner zu verbergen, die dort sprossen. Drake entging auch nicht, dass sein verhaltenes Husten in verräterisch kontrollierten Abständen erfolgte – vermutlich nur eine Entschuldigung für den dicken Schal. Was er wohl verbarg? Striemen, Kratzer, Würgemale? Kinder konnten bemerkenswert grausam sein, wenn es darum ging, die Hackordnung auf dem Spielplatz festzulegen. Und Teufelsschwänze und Stirnhörner waren nicht gerade Statussymbole.
Genauso wenig wie rote Augen und leichenblasse Haut…
Aber dies war immerhin Silbrigmond – eine Stadt, die für ihre weltbürgerliche Toleranz bekannt war – anders als das dreckige Söldnerloch in den Herzlanden, in dem Drake aufgewachsen war. Und Riven war auch nicht der Bastard einer schwindsüchtigen Straßenhure.
Drake blinzelte den unliebsamen Erinnerungsfetzen hinfort.
„Ich nehme an, das bedeutet, wir können unsere Anzahlungen vergessen.“ Er erhob sich. „Dann sehe ich keinen Grund, der mich hier noch hält.“
Mit einer mokanten Verneigung verabschiedete er sich. Doch vor der Tür hielt er inne. Wohin sollte er gehen? Ob seine Verbindungen im Hafenviertel noch bestanden? Unwahrscheinlich - in seinem Geschäft waren Kontaktleute von geringer Haltbarkeit. Vermutlich würde er sich einen neuen Kundenkreis aufbauen müssen. Dasselbe galt für seine Geldanlagen. Fast war es, als hätte Feyleens perfider Plan Erfolg gehabt. Zwölf Jahre im Zeitstrom hatten ausgereicht, um alle Spuren seiner Existenz zu tilgen. Unsichtbarkeit war immer seine Verbündete gewesen, doch nun fühlte er sich mit einem Mal von ihr verraten und der Rückweg in sein altes Leben erschien ihm düster und trüb. Doch wohin sonst sollte er gehen? Es war das einzige Leben, das er kannte.
Nicht GANZ das einzige…
Dass das Abenteurerdasein seine Vorzüge hatte, war keine bahnbrechende Erkenntnis: Selbst durch vier geteilt, brachte die Plünderung eines Drachenhorts noch mehr ein als er in einem Monat verdienen konnte. Was ihn stets abgeschreckt hatte, war der Gedanke, dass sein Überleben von anderen abhängen könnte. In seiner Welt war Freundschaft eine Maske, die Leute hin und wieder aufsetzten, um andere für ihre Zwecke einzubinden, und Vertrauen eine Illusion, die zerbrach, sobald ihre Ambitionen sich änderten. Soweit die Theorie - doch sie erklärte nicht, weshalb die Fedaykin-Geschwister sich nicht an ihm gerächt hatten, als sie die Gelegenheit dazu hatten…
Sein Blick glitt zurück.
Faust saß breitbeinig auf seinem Schemel und versuchte dem Tieflingsjungen Mut zuzureden. Drake hielt ihn für einen ruhmsüchtigen Draufgänger – begabt, exzentrisch, polarisierend. Der Typ Mann, den Drake hasste, weil er alles mit Leichtigkeit meisterte – naja, alles bis auf den Krieg gegen die Nebel, die seinen Verstand hin und wieder umwölkten. Miu, Fausts ewiger Schatten, war vielleicht die einzige, die durch den Dunst zu blicken vermochte. Doch die Ordensschwester war eingeschnürt in ein Korsett aus Regeln und Vorschriften, an dem sie eines Tages ersticken musste…
Grimwardt stand ein Stück abseits, wie stets ein wenig skeptisch gegenüber allem, was sich nicht um Kriegstaktiken und Schlachtordnungen drehte. Er war der ruhende Mittelpunkt der Gruppe, unbeirrbar seiner einen, bedingungslosen Leidenschaft verpflichtet. Vielleicht ein wenig zu unbeirrbar, um zu erkennen, dass der Grat zwischen Glaubenseifer und Fanatismus, auf dem er wandelte, immer schmäler wurde.
Und Winter? Seit ihrer ersten Begegnung war Drake fasziniert von dem, was er hinter den zahlreichen Masken der Heiratsschwindlerin gesehen hatte: eine Frau, die mit naiver Hingabe liebte und mit skrupellosem Egoismus für diejenigen kämpfte, die sie liebte. Nun da Winters Fassade zu bröckeln begonnen hatte, kam immer mehr von diesem dunklen Kern zum Vorschein…
Nein, erkannte Drake. Er würde nicht mit ihnen gehen. Sie stehen am Abgrund, hatte der Engel gesagt. Die Frage war nur, wer von ihnen zuerst fiel. Er würde zurückkehren in seine Schattenwelt – und überleben. Mochte das Schicksal, das der Engel ihm prophezeit hatte, ihn einholen, wenn es soweit war…
Kapitel I: Der Auserwählte
Grimwardt
Abtei des Schwertes, wenig später.
Die Nachtpforte wurde geöffnet und ein kahlköpfiger Geweihter im Rang eines Schildpriesters, gefolgt von einem einfachen Soldaten, trat vor die Wehrmauer. Grimwardt erkannte den Soldaten als einen ehemaligen Rekruten. Doch der Priester war ihm fremd.
„Seid Ihr Euch sicher?“, hörte er den Priester leise fragen.
Der Soldat nickte mechanisch, während er Grimwardt mit offenem Mund anstarrte.
„Was soll der Unfug?“, brummte Grimwardt. „Weshalb verwehrt man mir den Einlass in meine eigene Abtei? Und warum ist das Tor verrammelt? Erwarten wir einen Angriff?“
„Verzeiht“, sprach der Kahlkopf, doch seine Augen blieben kalt und misstrauisch. „Ich wurde angewiesen, Eure Identität zu überprüfen, ehe man Euch Einlass gewährt.“
„Auf wessen Geheiß?“
„Auf Geheiß des Priestergenerals.“
ICH bin der Priestergeneral, du Orknase!
Grimwardts Zornader pochte ganz gewaltig hinter seiner Stirn, doch um dem Grund für dieses rätselhafte Treiben so schnell wie möglich auf die Schliche zu kommen, ließ er sich seinen Unmut nicht anmerken und wehrte sich auch nicht, als der Fremde ihn mit einem Aufklärungszauber belegte. Der Geweihte nickte ihm knapp zu und bedeutete ihm mitzukommen. Als Faust, Winter und Miu Anstalten machten ihnen durch die Pforte zu folgen, gebot er ihnen Einhalt.
„Der Priestergeneral wünscht mit Grimwardt Fedaykin allein zu sprechen.“
Faust verschränkte provokativ die Arme vor der Brust und traktierte Kahlkopf mit Blicken als versuche er zu ermessen, wie hart er wohl zuschlagen müsse, um ihn Dreck schlucken zu lassen ohne ihn gleich ins Jenseits zu prügeln. Grimwardts mäßigender Blick beendete das stumme Kräftemessen und Faust zuckte mit den Schultern.
„Wie du meinst.“
„Vergiss nicht, nach Scarlet zu fragen“, hörte Grimwardt Winters bange Bitte in seinem Rücken, während er auf das Hauptgebäude zuschritt. Unerhört! – So wie die beiden Wächter ihn flankierten, hätte man meinen können, er sei ein Gefangener in seiner eigenen Abtei. Seinem magisch geschulten Blick entgingen nicht die subtilen Veränderungen am magischen Schutzsystem der Abtei. Eine Teleportationsbannmauer, ein Schutzschild vor Ausspähung, ein magisches Warnsystem – alles Neuerungen, für die Grimwardt seit fast zehn Jahren sparte. Woher hatte die Abtei plötzlich das Geld dafür? Und weshalb begegnete er keinem einzigen vertrauten Gesicht? Grimwardt legte beleibe keinen Wert auf Willkommensfanfaren und Trommelwirbel, doch man hätte meinen sollen, dass die Ankunft eines verschollenen Abteileiters für ein wenig mehr Aufregung gesorgt hätte.
Wortlos führte Kahlkopf ihn in die große Gebetshalle.
Auf der Empore vor dem Schildaltar erwartete ihn Sir Silas von Arkhem, der Taliser Ritter, der sich beim Turnier zu Ehren des gefallenen Jareth Burlisk den Rang des Ersten Schwertbruders erkämpft hatte. Der goldbärtige Ritter trug die zeremonielle Rüstung, die dem Priestergeneral gebührte. Als Grimwardt eintrat, neigte er ehrerbietig den Kopf. Der Kriegspriester kam nicht umhin, die widersprüchliche Symbolik dieses Auftritts zu bemerken. Die demonstrative Zurschaustellung der Insignien des Priestergenerals schien zu sagen „Du hast deine Stellung verwirkt; ich gebe sie nicht wieder her“, doch Silas’ demütige Haltung, in der Grimwardt keinen Spott erkennen konnte, sprach eine andere Sprache. Fast hätte er so etwas wie Mitleid für seinen „Nachfolger“ verspürt, für den die Situation vermutlich nicht weniger unangenehm war als für ihn selbst – wäre da nicht die Gestalt im Schatten gewesen. Die Dunkelheit umgab sie wie ein Tarnzauber, sodass Grimwardt sich ihrer Gegenwart erst bewusst wurde, als sie sich bewegte, um an Sir Silas’ Seite zu treten: Sie war eine hagere Frau um die Fünfzig. Ihr Haar war so streng zurückgebunden, dass es ihr Gesicht zu straffen schien. Alles in diesem Gesicht – die stark geschminkten Augen, die lange Nase, die strengen Wangenfalten - warf riesige Schatten, die ihr Antlitz zu verschleiern schienen.
Eine Umbrantin, erkannte Grimwardt. Eine Schattenmagierin.
„Grimwardt Fedaykin.“ Ein verhaltenes Lächeln streifte Silas’ Gesicht, zu steif, um den Argwohn aus seinen Zügen zu stehlen. „Tempus wirkt Seine Wunder, wenn wir sie am wenigsten erwarten. Vor elf Jahren beweinten wir Euch wie einen Toten und trugen einen leeren Sarg zu Grabe. Und heute steht Ihr vor den Toren der Abtei und scheint Euch um keinen Deut verändert zu haben.“
„Anders als meine Abtei, Sir Silas“, entgegnete Grimwardt mit einer Ruhe, die bei jedem, der ihn kannte, die Alarmglocken läuten ließ. „Wollt Ihr mir nicht Eure neue Gefährtin vorstellen?“
Das Lächeln des Ritters erstarb. ‚Meine Abtei’ hatte Grimwardt gesagt und der Paladin hatte verstanden: Er gedachte nicht, auf seinen Anspruch auf den Rang des Priestergenerals zu verzichten.
„Das ist Lady Zia.“ Silas’ Blick flackerte unstet. „Sie hält die arkanen Verteidigungsanlagen der Abtei instand und steht uns im Kampf gegen die Horden des Nordens bei.“
„Die Horden des Nordens?“ Grimwardts Zornader bohrte sich tiefer in seine Stirn. Für wie einfältig hielt ihn dieser Schnösel? Die Orkbarbaren vom Grat der Welt waren keine Bedrohung, die ein ausgeklügeltes magisches Verteidigungssystem erforderlich machten. „Lassen wir doch die Masken fallen, Priestergeneral. Was hat Euch bewogen, einer Umbranten-Spionin die Tore der Abtei zu öffnen?“
Sir Silas sog betroffen die Luft ein, während Lady Zia keine Miene verzog. Stumm und lauernd wie ein Geier auf Beuteflug harrte sie im Schatten.
„Grimwardt Fedaykin.“ Die Stimme des Ritters zitterte vor unterdrückter Brüskierung. „Als ich vor zwölf Jahren in diese Abtei eintrat, leistete ich den Schwur, Tempus zu dienen und die Menschen der Talländer mit Seiner Hilfe vor Unglück zu bewahren. Diesem Schwur bin ich immer treu geblieben. Verzweifelte Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Aber mir zu unterstellen, die Abtei verraten zu haben, verletzt meine Ehre aufs Schärfste! Wo wart Ihr in all den Jahren, könnte ich Euch fragen? Woher nehmt Ihr das Recht meine Entscheidungen in Frage zu stellen?“
Grimwardt musterte ihn eindringlich.
Er hat Angst, erkannte er. Aber er sagt die Wahrheit.
Und trotzdem – irgendetwas stank hier gewaltig. Er musste dringend mit jemandem sprechen, dem er vertraute.
„Wo ist Borgo der Zwerg?“, fragte er barsch. „Ich will ihn sprechen.“
Lady Zia stieß ein missgünstiges Zischen aus, doch Sir Silas gab nach einem kurzen Zögern seine Einwilligung. Auf seinen Befehl führte der Schildpriester Grimwardt in den zweiten Stock. Vor der Tür zur Bibliothek hielt er an. Grimwardt wandte sich misstrauisch um.
„Was soll das?“
„Ihr wolltet Borgo, den Bibliothekar, sprechen.“
Den BIBLIOTHEKAR?! Tempus steh uns bei!
„Herr!“ Der Zwerg schien Grimwardt bereits erwartet zu haben. Eilig zerrte er seinen Kameraden und ehemaligen Dienstherrn in den Raum. Dann schob er rumpelnd ein Regal vor die Tür und begann mit Hilfe eines Zaubers die Wände nach verborgener Magie zu untersuchen.
„Sie beschattet uns, da bin ich mir sicher! Man kann in diesen Mauern keinen Schritt mehr tun, ohne von ihren ausspähenden Augen belauert zu werden!“
„Du sprichst von Lady Zia?“
„Von wem sonst?“, schnappte der Zwerg mit gewohnter Ruppigkeit.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Borgo, was ist hier eigentlich los?! Wann hat dich die Erkenntnis ereilt, dass Bücher noch zu etwas anderem taugen als zur Morgentoilette?“
„Seit die Welt nicht mehr die ist, die sie einmal war“, brummte der Zwerg.
Der Kleriker und Waffenmeister war schon in rüstigem Alter gewesen, als Grimwardt noch ein Knappe in der Ausbildung gewesen war, doch man hatte es ihm niemals angesehen. Doch nun hatte sich auch die letzte Strähne seines knielangen Bartes grau gefärbt und ohne Rüstung offenbarte sein Rücken den Ansatz eines Buckels.
Nachdem Grimwardt ihm kurz erläutert hatte, weshalb ihm jegliche Erinnerung an die letzten zwölf Jahre fehle, begann der Zwerg zu erzählen.
„Einige Tage nach Eurem Verschwinden wurde ganz Faerûn von der Zauberpest heimgesucht. Wir alle wurden zum Opfer einer göttlichen Intrige: Angestiftet von Shar tötete Cyric, der Gott des Verrats, die Göttin Mystra. Durch ihren Tod geriet das magische Gewebe außer Kontrolle und stürzte die Welt ins Chaos. Weit im Süden, in Halrua, nahm die magische Apokalypse ihren Anfang. Dort zogen magische, zyklonenartige Wettergebilde – genannt Zauberleuchten - über das Land und zerstörten alles auf ihrem Weg. Die Welt hat sich verändert, Grimwardt; einige Landstriche verschwanden völlig, während anderswo ganze Kontinente wie aus dem Nichts auftauchten. Die Magie spielte erst verrückt; dann verschwand sie völlig. Erst seit zwölf Monaten etwa erholt sich das Gewebe langsam. In den Jahren, als das Zauberleuchten wütete, kamen viele Magier durch ihre eigene Magie um, während andere dem Wahnsinn anheim fielen. Beinahe die gesamte magische Elite der Reiche wurde ausgelöscht. Auch die Sieben Schwestern erlagen dem zerstörten Gewebe und Elminster vom Schattental zog sich in seinen Turm zurück und empfängt seit einem Jahrzehnt keine Besucher mehr. Die einzigen, die von den Pestjahren profitierten, waren die Arkanisten von Netheril.“
„Demnach wurde das Schattengewebe also von der Zauberpest verschont?“
„Nicht direkt. Shar hatte natürlich darauf spekuliert, durch Mystras Tod die Herrschaft über alle sterbliche Magie an sich zu reißen. Doch sie hatte sich verkalkuliert. Es gelang ihr nicht, die Kontrolle über das Schattengewebe zu bewahren, als Mystras Gewebe zusammenbrach. Hochprinz Telamont Thantul muss von der göttlichen Intrige gewusst haben und entging der Vernichtung seiner Stadt wie bereits zu Karsus’ Zeiten: Er versetzte ganz Umbra auf die Schattenebene. Shar konnte die Schattenmagie bändigen, ehe es dem Rest des Pantheons gelang, ein neues Magiegewebe zu erschaffen. Darum erlangten die Arkanisten von Umbra schneller als alle anderen Völker ihre magischen Fähigkeiten zurück. Das war die Chance, auf die der Hochprinz und seine elf Söhne gewartet hatten. Sie besiegten ihre alten Feinde, die Phaerimm, die sich durch die Erschütterung des Schattengewebes aus ihrem Gefängnis unter der Anauroch befreit hatten. Dann bauten sie zwei weitere der gefallenen Städte ihrer Vorfahren wieder auf und riefen das Königreich von Netheril aus. Als nächstes begann Netherils Magokrat seine imperialistischen Ziele in die Tat umzusetzen. Die Zhentarim-Söldner der Anauroch hatten sich während der Phaerimmkriege mit diesen Kreaturen verbündet, darum mussten die Zhentarim als erstes dran glauben. Außerdem war den Umbranten wohl der Einfluss Fzoul Chembryls auf die Handelswege der Anauroch lästig. Wie auch immer – die Zhentilfeste fiel fast widerstandslos und das Schwarze Netzwerk wurde zerschlagen.“
„Die Zhentarim sind geschlagen? Bei Hammer und Helm!“
„Das könnt Ihr laut sagen. Es ist dem Eingreifen der Elfenkönigin von Myth Drannor zu verdanken, dass der Mondsee nicht völlig in die Hände der Umbranten fiel. Sie stationierte ihre Truppen in der Zhentilfeste, um die Bevölkerung vor der Willkür der netheresischen Eroberer zu schützen. Allein hätte sie natürlich keine Chance gegen Telamont Tanthul, doch der Elfenhof wird von den Silbermarken, Cormyr und der Allianz der Talländer unterstützt. Es existiert ein loser Verteidigungspakt, die Westallianz. Der Hochprinz ist ein vorsichtiger Mann, der die offene Konfrontation scheut. Er ließ die Elfen gewähren und setzte stattdessen auf Handelsimperialismus. Die netheresischen Handelskompanien fassten in Sembia Fuß und kontrollierten schon bald den gesamten Würzhandel des Sternregenmeers. Heute ist Sembia nur noch ein Vasallenstaat des Wüstenimperiums – Umbras Seehafen und Tanthuls Verbindung zur Außenwelt. Die Anauroch bleibt weiter gegen normale Magie abgeschottet. Thantul gewährt keinen Ausländern Zutritt zu seinen Städten – zu groß ist seine Furcht vor Spionage. Nach Sembia wird sich sein Augenmerk nun vermutlich auf die Talländer richten: Wir liegen schließlich genau zwischen der Anauroch und Sembia – sämtliche seiner Handelskarawanen müssen hier durch. Dass die Fürsten der Täler untereinander zerstritten sind und unsere Städte keine magischen Verteidigungsschilde haben, macht uns außerdem zum verwundbarsten Mitglied der Allianz.“
„Darum hat der Herr von Umbra also Lady Zia in die Abtei eingeschleust: um die militärische Verteidigung der Talländer zu kontrollieren, ohne die Bevölkerung gegen sich aufzubringen“, brummte Grimwardt düster. Was Borgo erzähle, ließ nichts Gutes hoffen. „Welcher Teufel hat Silas geritten, dass er der Schattenhexe die Tore zur Abtei öffnete?“
„Er hat das Schlottern bekommen, unser Sir Hasenherz“, schnaubte Borgo verächtlich. „Als Ihr verschwunden bliebt, übernahm er die Leitung der Abtei. Er machte seine Sache zunächst auch ganz gut und führte Euer Freundschaftsbündnis mit den Steinschilden von Sundabar und der Schule der Natur in Myth Drannor fort - das Projekt trug dazu bei, dass das Bündnis der Talländer mit dem Elfenhof erneuert wurde. Doch Silas’ Zuversicht schwand, je mehr Netherils Macht wuchs. Er glaubt, dass die Talländer nicht zu retten sind und dass wir als Tanthuls Marionette noch die größte Überlebenschance haben. Darum nahm er Lady Zias Arbeitsgesuch an, obwohl jeder Ork erkennen kann, welches Spiel sie treibt. Gewiss hat sie bereits Kunde von Eurer Rückkehr an ihre wirklichen Dienstherren gesandt. Wundert Euch also nicht, wenn demnächst ein netheresischer Assassine bei Euch anklopft. Ohne Elminster und die Sieben Schwestern seid Ihr und Eure Gefährten die mächtigsten Verteidiger der ‚Achse des Guten’. Dazu kommt, dass Telamont Tanthul gewiss nicht vergessen hat, was mit seinem jüngsten Sohn geschehen ist…“
„Hm“, brummte Grimwardt. Hadrhune Tanthul war ein gefährlicher Gegner gewesen, doch im Gegensatz zu Telamont war er ungeduldig gewesen in seinem imperialistischen Streben und seinem Eifer, dem mächtigen Vater zu imponieren. Das hatte ihn angreifbar gemacht. Hochprinz Telamont dagegen schien Grimwardt ein kluger Stratege zu sein. Sein erster Schachzug hatte sich nicht etwa gegen Myth Drannor oder Silbrigmond, seine eigentlichen Konkurrenten, gerichtet, sondern gegen die Zhentarim: Meuchler und Schwarzkünstler, die den Westen Jahrzehnte lang terrorisiert hatten. Und was tat er dann? Er gründete Handelskompanien statt seine Position auszunutzen und über seine Feinde herzufallen und sorgte dafür, dass die Anauroch für alle Welt ein Mysterium der Schatten blieb. Vielleicht war es seine gefährlichste Waffe, dass er so wenig dem Bild des herrschsüchtigen Tyrannen entsprach. Welcher Herrscher machte nicht lieber Geschäfte mit Handelspartnern als Geld und Leben in der Schlacht zu riskieren? Freiheit war ein verzichtbares Gut, wenn man kaum merkte, wie sie einem entglitt. Sir Silas war genau wie die Herrscher von Sembia auf die Maskerade des Hochprinzen hereingefallen. Und wer sagte, dass andere nicht folgen würden?
„Wie viele von Silas’ Männern wären ihm loyal, wenn es zur Konfrontation käme?“, fragte Grimwardt.
Der Zwerg schnalzte unschlüssig mit der Zunge.
„Auf mich könnt Ihr natürlich zählen. Auch Lady Lucia ist Silas’ neuem Kurs alles andere als zugetan, aber sie hat ihm bei seinem Amtsantritt die Treue geschworen, darum würde ich nicht auf sie zählen. Diejenigen Eurer Leute, die zu laut ihren Unmut über Lady Zias Anwesenheit kundgetan haben, hat die Hexe rausgeworfen. Aber so oder so würdet Ihr mit einem Kampf riskieren, die Taliser gegen Euch aufzubringen. Sir Silas ist nicht unbeliebt in der Gegend. Viele Adlige denken wie er, müsst Ihr wissen. Und für die Bauern bedeutet Krieg nur Tod und erhöhte Steuern: Die sind um jeden froh, der ihnen beides vom Hals hält.“
„Was rätst du mir also?“
„Ihr solltet Silas zum Duell herausfordern.“
Grimwardt nickte nachdenklich in seinen Bart hinein.
Tempus’ Kriegsgesetz besagte, dass die Ehre des Heerführers dem besten Kämpfer gebührte und die Abteihierarchie war nach demselben Prinzip strukturiert. Ein Duell würde klären, wer in den Augen Tempus’ die Abtei leiten sollte. Und Silas konnte eine Herausforderung nicht ablehnen, ohne sich zum Gespött der Abtei zu machen.
Grimwardt beschloss, sofort Nägel mit Köpfen zu machen. Keine fünf Minuten später harrte er wartend in seinem alten Arbeitszimmer und betrachtete verdrossen die Medaillensammlung, um die Sir Silas die Wand über seinem Arbeitstisch bereichert hatte. Die Nagellöcher würden nie wieder rausgehen. Kurz darauf trat der Turniermeister ein.
„Morgen bei Sonnenaufgang auf dem großen Turnierplatz“, sagte der Kriegspriester ohne Umschweife.
Sir Silas seufzte ergeben, schien aber nicht sonderlich erstaunt.
„Möge der Bessere von uns beiden siegen.“
Grimwardt brummte seine Zustimmung.
„Und nun lasst uns bei einem Becher Met über die Ereignisse der letzten Jahre plaudern.“
Winter
Schule der Natur, Myth Drannor, wenig später.
Der zwergische Austauschschüler aus Sundabar machte ein Gesicht, als halte ihn nur seine Zwergenehre davon ab, schreiend davonzulaufen. Es war Geschichtsstunde in Nimoroths Tempelschule. Unter dem farbenfrohen Gewölbe der blühenden Frühlingsbäume saßen elfische und menschliche Schüler beisammen und während die einen aufmerksam den Worten der Lehrerin lauschten, übten sich andere mit Hingabe im Spiel Zwick-den-Zwerg. Die Lehrerin, eine Halbelfe mit goldenen Locken und einem freundlichen Grübchenlächeln, beschränkte sich lediglich auf ein paar mahnende Worte, wenn ihre Schützlinge es allzu weit trieben. Während Faust und Miu aufmerksam ihrer Lektion über den Rückzug der Elfen aus Faerûn lauschten, harrte Winter ungeduldig der Heimkehr ihres alten Mitstreiters. „Fürst Nimoroth“, wie die Halbelfe ihn betitelt hatte, war inzwischen Mitglied des Elfenrates und gerade bei einer Versammlung.
Nachdem Grimwardt seinem Konkurrenten die Duellforderung überbracht hatte, waren auch seine Freunde eingelassen worden. Winter hatte von Borgo erfahren, dass Scarlet unter Silas’ fragwürdigem Regime bereits vor zwei Jahren durchgebrannt war. „Dieser elfische Taugenichts aus Myth Drannor muss sie dazu angestiftet haben“, hatte der Zwerg gebrummt. Und wenn sie sich den lockeren Lehrstil an Nimoroths Tempelschule anschaute, fiel es Winter nicht schwer zu erraten, wer damit gemeint war: Wenn Scarlet tatsächlich mit Nimoroths Sohn Laguna durchgebrannt war, dann wusste sein Vater vielleicht, wo die beiden steckten.
Endlich erblickte Winter zwischen den Bäumen das leuchtende Fell von Nimoroths Tigergefährten. Der hochtrabende Titel schien den Waldelfen um keinen Deut verändert zu haben. Nicht einmal von den religiösen Hennazeichnungen auf seinem Oberkörper hatte er abgesehen und sein hüftlanger Haarschopf erweckte wie meistens den Anschein, als hätte er schon sämtlichen Vögeln der Cormanthorischen Wälder als Nistplatz gedient. Mit einem heiteren Lächeln reichte der Druide der alten Gefährtin beide Hände zur Begrüßung.
„Ich wusste, dass ihr noch am Leben sein müsst, als ich vom Rückgang der seelenlosen Geburten hörte“, begrüßte er sie. „Du musst mir alles erzählen.“
„Das werde ich.“ Winters Sorgen erschienen ihr mit einem Mal leichter. Es musste an Nimoroths Gabe liegen, die Welt in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. „Aber zuerst muss ich wissen, wo meine Tochter ist.“
Nimoroth nickte – ernst, aber nicht beunruhigt.
„Scarlet ist bei Laguna, es geht ihnen gut. Aber ich kann hier nicht darüber sprechen.“
Winter fiel ein Stein vom Herzen. Nachdem er die Zauberin und ihre Begleiter in sein Haus in der Krone einer alten Eiche geführt und ihnen elfisches Gebäck angeboten hatte, fuhr Nimoroth fort.
„Die beiden haben sich den Sandfürsten angeschlossen, um die Expansionspläne der Hochfürsten zu vereiteln.“
„Sie haben was?“ Winters Erleichterung schlug schlagartig in Entsetzen um. In Grimwardts Vision waren die Hochfürsten von Umbra gegen eine „Sandfürstin“ in den Krieg gezogen. „Was soll das heißen? Und wer sind diese Sandfürsten überhaupt?“
„D’Tairig-Rebellen, die sich gegen die netheresische Fremdherrschaft auflehnen“, erklärte Nimoroth. „Ein paar idealistische Sympathisanten und ehemalige Zhent-Söldner haben sich ihnen in letzter Zeit angeschlossen. Ihre gelegentlichen Anschläge auf netheresische Handelskarawanen und Oasen-Stützpunkte sind zu unbedeutend, als dass Hochfürst Telamont sie wirklich ernst nehmen würde. Aber für die Westallianz sind sie wertvolle Informanten und im entscheidenden Moment könnten sie sich als wichtige Verbündete herausstellen. Myth Drannor unterstützt sie darum inoffiziell mit Waffenlieferungen und magischen Schutzgegenständen.“
Winter fiel aus allen Wolken.
„Nimoroth, wie kannst du zulassen, dass dein Sohn bei diesem Wahnsinn mitmacht?!“
Der Druide seufzte.
„Du hast schon Recht, die Rebellen nehmen bei ihren Anschlägen nicht selten den Tod von Unschuldigen in Kauf. Aber…“
„Nicht moralisch!“ Nimoroth war wirklich unverbesserlich. „Ich meine, wie kannst du zulassen, dass sich Laguna solchen Gefahren aussetzt? Wie alt ist er? Siebzehn?“
Der Waldelf runzelte leicht die Stirn.
„Laguna setzt sich für eine gute Sache ein, Winter, so wie ich es ihn gelehrt habe. Wieso sollte mich das mit etwas anderem als Stolz erfüllen? Sicher ist es gefährlich, was er tut. Aber diejenigen, die in dieser Welt überleben, sind jene, die sich an ihre Gefahren angepasst haben. Es wäre verantwortungslos von mir, wenn ich ihn darüber im Dunkeln ließe, denn ich werde nicht immer da sein, um ihn zu beschützen. Ich kann ihm nur helfen, die Welt in eine bessere zu verwandeln und das tue ich, indem ich im Elfenrat für die Unterstützung der Sandfürsten kämpfe.“
Winter erkannte, dass sie gegen Windmühlen anredete.
„Wie haltet Ihr den Kontakt zu den Sandfürsten?“, erkundigte sich Faust derweil. „Sind die D’Tairig nicht Nomaden?“
„Ich stehe in telepathischer Verbindung zu Laguna. Auf diese Weise können wir Treffen in der Wüste mit den Leuten von Sandfürst Zarif Abu Sayama arrangieren, wenn neue Lieferungen anstehen.“
Winter horchte auf.
„Kannst du ein solches Treffen auch für uns arrangieren? Ich habe Scarlet seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen.“
Nimoroth zögerte kurz, doch dann nickte er.
„Aber nur dieses eine Mal, Winter.“
Ein Mal muss reichen, um Scarlet da raus zu holen, dachte Winter lakonisch. Wenn nötig mit Gewalt.
„Jede Kontaktaufnahme birgt ihre Gefahren. Natürlich ist Zarifs Zelle gegen Ausspähung geschützt, aber wir können nicht sicher sein, dass die Hochfürsten nicht in der Lage sind, magische Kommunikationen innerhalb des Schattengewebe-Gebiets aufzudecken.“
„Vielleicht kann Grimwardts Abtei die Sandfürsten ja ebenfalls mit Waffenlieferungen unterstützen“, warf Faust ein. „Vermutlich wären die D’Tairig uns freundlicher gesonnen, wenn wir Geschenke mitbringen.“
„Dann ist die Abtei des Schwertes also wieder… ähm…“
„Von Ungeziefer befreit? Noch nicht, aber bald“, erklärte Faust zuversichtlich.
„Gut.“ Nimoroth nickte. „Ich gebe euch Bescheid, sobald Zeit und Treffpunkt feststehen. Richtet euch auf etwa einen Monat ein.“
Faust sah aus dem Fenster und rieb sich grübelnd das stoppelige Kinn.
„Genug Zeit, um etwas zu tun, das ich schon vor Langem hätte tun sollen….“
Faust
Am späten Nachmittag in Rabenklippe am Drachengriff.
„Ich wusste gar nicht, dass du noch Familie hier hast“, sagte Winter belustigt, während sie den alten Mann am Arm durch das Villenviertel von Rabenklippe führte. Miu war bei Nimoroth in Myth Drannor geblieben.
„Es gibt auch so einiges, was ich von dir nicht weiß, Mädchen“, tatterte Faust seiner Rolle gerecht. Bei jedem Schritt spürte er die Gischt in seinen Knochen und sein rasselnder Atem sagte ihm, dass seine Lungen es auch nicht mehr lange machen würden. Die Alterungsfunktion war mit Abstand die gruseligste der Fähigkeiten, die er seiner neuen Tätowierung bisher entlockt hatte, und sie warf brennende Fragen auf: Wenn er zu jedem Punkt seiner körperlichen Entwicklung vor- oder zurückspulen konnte, bedeutete dies, dass er nicht mehr altern würde, wenn er seinen Körper einfach jeden Abend um einen Tag in die Vergangenheit „teleportierte“? Wie dem auch sein, im Moment kamen ihm die schmächtigen Greisenbeine durchaus gelegen. Immerhin war es nicht auszuschließen, dass er hier einem der Neun Schwerter über den Weg lief, doch dass seine Häscher ihn als achtzigjährigen Tattergreises erkennen würden, war mehr als unwahrscheinlich.
Fausts Heimatstadt war auf einer gewölbten Klippe über dem Drachengriff erbaut, sodass es von fern aussah, als harre sie auf einem Rabenschnabel, von dem sie jeden Moment ins Meer abzurutschen drohte. So tollkühn wie ihre Lage waren auch Rabenklippes Bewohner. „Exzentrisch“, sagten die Romantiker, „am Rande des Wahnsinns“, behaupteten die Spötter. Vielleicht war das der Grund, weshalb es so viele ehemalige Abenteurer in die Stadt am Drachengriff zog. Keine andere Stadt an der See des Sternregens konnte mit so vielen verfeindeten Ritterorden, Diebesgilden und Glaubenszirkeln aufwarten wie Rabenklippe und nirgendwo glich ein nächtlicher Spaziergang so sehr einem Selbstmordversuch wie hier. Doch ungeachtet ihrer inneren Unruhen war Rabenklippe in ihrer langen Geschichte von allen politischen Umwälzungen verschont geblieben, denn nicht einmal der expansionswütigste Tyrann war so größenwahnsinnig, sich mit einer Stadt voller streitbarer Abenteurer anzulegen.
Die MacLancastors hatten ihren Familiensitz im Ostviertel der Stadt, in dem rund um die Uhr Wachen patrouillierten, die Rabenklippes Straßengesindel von den Stadtpalais’ fernhielten. Ein Dienstmädchen empfing Winter und Faust, der wieder seine normale Gestalt angenommen hatte. Fausts Name sagte ihr nichts, darum bat sie die beiden in die Empfangshalle und eilte davon, um die unerwarteten Gäste anzukündigen.
„Faust!“ Winter klatschte entzückt in die Hände, als sie all die Büsten und Gemälde erblickte. „Du hast vergessen zu erwähnen, dass deine Familie reich ist!“
„Mein Stiefvater ist reich“, erwiderte Faust achselzuckend. „Meine Mutter stammt aus eher ärmlichen Verhältnissen.“
Es war eigenartig wieder hier zu sein. Der Ort roch nach zerbrochenen Vasen und schallenden Ohrfeigen.
„Du solltest dir dein Erbe ausbezahlen lassen“, bemerkte die Heiratsschwindlerin mit beiläufigem Kalkül, während sie ihre Finger über einen silbernen Kandelaber gleiten ließ.
Faust warf ihr einen befremdeten Blick zu.
„Ich habe meine Mutter seit 22 Jahren nicht gesehen“, sagte er. „Soll ich sie etwa mit den Worten ‚Wo ist mein Geld?’ begrüßen? Außerdem bezweifle ich, dass mein Stiefvater das Wort ‚Erbe’ je in Zusammenhang mit meinem Namen verwendet hat. Neben mir und meiner Schwester hat er noch sechs leibliche Söhne, die in der Erbfolge vor mir kommen.“
Winter zuckte mit den Schultern.
„Dann nimm dir einfach, was dir zusteht“, schlug sie vor und ihre Gesten unterstrichen das Unausgesprochene.
„Mann“, sagte Faust fassungslos. „Da hab’ ja selbst ich ein größeres Ehrgefühl.“
Sie zog unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe.
„Sechs Brüder, sagst du? Sind die verheiratet?“
Faust blieb ihr die Antwort schuldig, denn in diesem Moment kehrte das Dienstmädchen zurück, um ihn zur Dame des Hauses zu geleiten.
Lady Helena MacLancastor erwartete ihn in der Bibliothek. In ihrer Jugend war sie eine Schönheit gewesen. Nicht so sehr, weil ihre Lippen weicher oder ihre Taille schlanker gewesen wären als die anderer junger Frauen, sondern wegen der unbeugsamen Würde, die sie ausstrahlte. Diese Würde hatte sie sich bewahrt und sie hielt sie auch im stattlichen Alter von sechzig Jahren noch kerzengerade in ihrem Lesesessel. Ihre Haltung strahlte eine gewisse zynische Nüchternheit aus, die durch ihre schlichte schwarze Trauerkleidung noch betont wurde.
„Desmond“, sagte sie so unbewegt als begrüße sie ihren Stallmeister und nicht einen zwei Jahrzehnte lang verschollenen Sohn. „Ich dachte schon, das Mädchen hätte sich verhört.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mutter“, erwiderte Faust ihren Sarkasmus. „Wie ich sehe, hast du einen Verlust zu beklagen.“
„Keine falschen Mitleidsbekundungen.“
„Nur eine Feststellung.“
Faust war tatsächlich nicht allzu betrübt über das Dahinscheiden seines Stiefvaters. Lord MacLancastor hatte ihn und seine Schwester nur adoptiert, weil Helena dieser Ehe sonst nie zugestimmt hätte, doch er hatte sie bei jeder Gelegenheit spüren lassen, dass sie den Namen MacLancastor in seinen Augen nicht verdient hatten. Seine Mutter hatte es für sie getan, wusste Faust – um ihnen die Schande zu ersparen, als Bastarde aufzuwachsen…. und wohl auch deshalb, weil sie nach dem Verschwinden seines Vaters befunden hatte, dass es sich mit gebrochenem Herzen reich besser leben ließ als arm. Und wie nicht anders zu erwarten hatte sie die Rolle der gelangweilten Aristokratin zur Perfektion gebracht.
„Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Lady Helena das Dienstmädchen mit zwei Teegedecken anrücken und für eine Weile war nur ein dezentes Schlürfen zu hören. Als Faust feststellte, dass er bereits angefangen hatte, die Titel der Buchrücken zu lesen, um das bedrückende Schweigen mit Worten zu füllen, erkannte er, dass es höchste Zeit war, irgendetwas zu sagen.
„Und? In letzter Zeit etwas von meiner Schwester gehört?“
Lady Helena vermochte selbst die unverfänglichste Frage in eine Spitze zu verwandeln: „Lass mich nachdenken. Ihr letzter Brief aus Narbental-Stadt erreichte mich vor etwa einem Jahr. ‚Geht es gut, Claire’. Offenbar bin ich ihr nicht einmal ein Pronomen wert. Aber ich sollte mich glücklich schätzen. Vier Worte pro Jahr sind besser als zweiundzwanzig Jahre stumme Ungewissheit, meinst du nicht?“
„Autsch.“ Alles klar. Sie würde es ihm nicht leicht machen. Und er kannte nur ein Mittel gegen süffisante Dünkelhaftigkeit – schonungslose Ehrlichkeit. „Ich hatte ja vor mich eher zu melden. Aber der Orden war mir auf den Fersen, weil ich einen von denen abgemurkst hatte. Dann kamen die Nebel und ich verlor mein Gedächtnis, dich eingeschlossen. Tja, und dann musste ich ein paar Mal die Welt retten und wegen der Zauberpest saß ich fast zwölf Jahre im Zeitstrom fest.“
Beherrscht führte seine Mutter ihren Tee zum Mund, um seinen Worten Zeit zu geben, ihren aufmüpfigen Nachklang zu entfalten, bis sie selbst in seinen Ohren wie das störrische Ausrede eines jugendlichen Ausreißers klangen.
Verdammt, sie kennt mich gut.
„Und? Hatte er es verdient?“, fragte sie schließlich. „Der Mann, den du ‚abgemurkst’ hast?“
„Nicht wirklich“, gab Faust zu. „Er… hat sich abfällig über Vater geäußert.“
Zum ersten Mal stahl sich der Anflug eines Lächelns in ihre Augen.
„Dann hatte er es vielleicht doch verdient.“
„Glaubst du das wirklich?“ Faust sah seiner Mutter fest in die Augen. „War Vater wirklich so ein Held?“
„Was hast du gehört, das dich daran zweifeln lässt?“
Er erzählte ihr von den Anschuldigungen, die Thallastam gegen seinen Vater vorgebracht hatte: dass er seine Freunde verraten und seine Seele an einen Teufel verkauft hatte.
Lady Helena schwieg lange und schien in eine Vergangenheit zu blicken, an die Faust sich nicht erinnern konnte. Als sie endlich sprach, war aller Spott aus ihrer Stimme verschwunden: „Er war sicher kein Lamm, dein Vater. Aber ist die Geschichte nicht voll von Männern, die schwere Entscheidungen getroffen haben, um… wie nennst du es… die Welt zu retten?“
Faust sah auf. Ihr unumstößlicher Glaube an den Mann, der sie verlassen hatte, gab ihm Hoffnung … Vielleicht hatte sein Vater einen guten Grund gehabt. Vielleicht war die Wahrheit noch nie erzählt worden…
Lady Helena erhob sich, bevor die Stimmung ins Sentimentale umschlagen konnte.
„Zeit fürs Abendessen“, kündigte sie an. „Vielleicht willst du mir ja nun endlich deine Begleiterin vorstellen, die du so unschicklich in der Empfangshalle hast warten lassen.“
Wenige Minuten später saßen sie zusammen mit Winter um den großen Tisch im Esssaal. Fausts Mutter schien eine diabolische Freude am Herumscheuchen von Dienstpersonal entwickelt zu haben – offenbar hatte sie vergessen, dass sie einst selbst zur Dienerschaft dieses Hauses gezählt hatte – und Winter kam aus dem schwärmerischen Beschreiben von Möbeln und Kunstgegenständen gar nicht mehr heraus. Der Umstand, dass die beiden Frauen sich offenkundig prächtig verstanden, verursachte leichtes Magengrummeln bei Faust. Und das grüne, schwabbelige und vermutlich sündhaft teure Ding, das in seiner Suppe schwamm, machte die Sache nicht besser.
„Denkst du nicht auch, Desmond?“
Faust fuhr zusammen.
„Hm? Ich war gerade zu beschäftigt mit dem grünen schwabbeligen Ding in meiner Suppe.“
„Naganiere“, erklärte Lady Helena unbeeindruckt. „Winter erzählte mir gerade, dass du kürzlich den Bund für Leben geschlossen hast. Es kam dir nicht zufällig in den Sinn, dass ich mich freuen würde, meine Schwiegertochter kennenzulernen?"
Er warf Winter einen bitterbösen Blick zu, den seine Gefährtin mit einem koketten Grinsen erwiderte.
„Ich bin nicht verheiratet“, knurrte er. „Wenn ich jedes Mal ein Gelübde abgelegt hätte, wenn eine Scheiß-Welle über meinem Kopf zusammengebrochen wäre, dann wäre ich schon in Ehefrauen ertrunken. Es war ein Versehen – ein missverstandenes Inselvolk-Ritual, weiter nichts.“
„Du hast also unfreiwillig geheiratet.“
Irgendwie brachte sie es fertig, alles als lächerlich hinzustellen, was er sagte.
„Was ist mit Euch?“, wandte sie sich an Winter. „Seid Ihr vergeben?“
Winter dachte fieberhaft nach. Offenbar wurde ihr gerade bewusst, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was mit dem Piratenkapitän geschehen war, den sie sich zuletzt geangelt hatte.
Schließlich entschied sie sich für: „Ich denke nicht. Mein letzter Ehemann kam vermutlich während der Zauberpest ums Leben.“
„Der letzte? Dann war er nicht der erste? Was ist mit den anderen passiert?“
Jetzt war es an Faust zu grinsen.
„Mein… äh… mein vorletzter Ehemann kam ebenfalls ums Leben.“
„Oh“, sagte Lady Helena amüsiert. „Hörst du das, Desmond. Wenn du das nächste Mal unfreiwillig heiratest, solltest du Acht geben, dass Winter nicht deine Braut ist.“
„Das werde ich, keine Sorge.“
„Dann lasst uns anstoßen.“ Sie erhob ihr Glas. „Auf tote und unerwünschte Ehegatten!“
Grimwardt
Abtei des Schwertes, am nächsten Morgen.
Keuchend hielt sich Sir Silas mit dem Eisenhandschuh an der Umzäumung des Übungsplatzes fest und Grimwardt konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie sich die Lippen des Verwundeten im stummen Gebet bewegten. Während Grimwardt zum nächsten Hieb ansetzte, sammelte der Ritter noch einmal all seine Kraft und stieß sich mit einem Kapfesruf von der Umzäumung ab. Er bewegte sich schnell und sein Schwerthieb war auf die ungeschützte Armhöhle des heranstürmenden Gegners gezielt. Doch in diesem Moment trafen sich die ersten Sonnenstrahlen im Eisenblatt der erhobenen Streitaxt des Kriegspriesters. Geblendet verfehlte Sir Silas seinen Gegner. Beinahe im selben Augenblick krachte Grimwardts Streitaxt gegen seinen Schwertarm und brach ihm den Unterarm. Seine Waffe fiel klirrend in den Staub. Im nächsten Moment ließ ein Kniehieb in die Magengrube den Ritter zusammenbrechen.
„Ich… erkenne Euren Sieg an“, winselte der Besiegte mit schmerzverzerrter Grimasse. „Tempus hat entschieden: Ihr seid… Priestergeneral der… Abtei.“
Grimwardt beugte sich mit einem zufriedenen Grummeln zu ihm herab und legte ihm die Hand auf den gebrochenen Arm, um den Bruch zu heilen. Dann half er dem Besiegten auf die Füße. Sein Blick glitt zu einem der Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes, doch Lady Zia, die den Kampf aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, war verschwunden.
Lass dich hier bloß nie wieder blicken, dachte der Priester düster.
Dann fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Wieso war es so still? Die Kunde vom Zweikampf zwischen dem alten und dem neuen Priestergeneral hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und niemand in der Abtei schien an diesem diesigen Frühlingsmorgen etwas Besseres zu tun zu haben als um den Übungsplatz herumzustehen und die Kämpfenden zu begaffen. So sehr sich Grimwardt auch über die lasche Arbeitsmoral ärgerte, die sich unter Sir Silas’ Leitung in den Abteialltag geschlichen hatte, so seltsam erschien es ihm doch, dass der lästige Applaus, der für gewöhnlich auf ein Duell folgte, ausblieb. Und das Licht! War das wirklich die aufgehende Morgensonne, die so hell erstrahlte, dass sie alle Umstehenden blendete?
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und einer nach dem anderen fiel auf die Knie. Sir Silas war der erste, der, den Blick auf etwas hinter Grimwardt gerichtet, einen heißeren Schrei ausstieß und dann zu Boden sank, und alle anderen taten es ihm gleich, bis Grimwardt der einzige war, der noch stand. Selbst Faust, der das Bein für gewöhnlich vor nichts und niemandem neigte, sank – wenn auch nicht ganz freiwillig, wie es Grimwardt schien – in eine tiefe Reverenz.
Der Priester wandte sich um: Die Gestalt bewegte sich schweren, metallenen Schrittes von Norden her auf die Abtei zu. Nichts in ihrem Weg, weder die Bäume noch die Wehrmauer, konnte ihren Trott bremsen – selbst der Wald und die Steine wichen voller Ehrfurcht vor ihr zurück. Sogar die Gesetze der Perspektive schienen für sie nicht zu gelten, denn sie wurde kleiner statt größer, je näher sie kam: Als sie am Waldrand auftauchte, überragte sie noch die Baumwipfel, doch als sie schließlich ihr Schild neben Grimwardt in den Boden rammte, befanden sie sich auf Augenhöhe. Der schwer gepanzerte Kämpe riss sich den Helm vom Kopf: Eine dichte, schwarze Mähne fiel auf seine Schultern hinab und umrahmte ein Gesicht, das so von Narben entstellt war, dass es der Kraterlandschaft von Kriegersruh glich. Und aus dieser Kraterlandschaft blickten zwei stahlblaue Augen geradewegs in Grimwardts Seele.
Sein Herzschlag setzte aus und er verlor den Boden unter den Füßen.
Er hat den Helm abgenommen! Er hat mich in sein Gesicht blicken lassen!
„Erhebe dich, Grimwardt Fedaykin.“
Seine Beine gehorchten, während er noch in einem Rausch aus Ehrfurcht und banger Erwartung gefangen war.
„Grimwardt Fedaykin“, sagte Tempus mit einer Stimme, die schon ganze Landstriche zerklüftet hatte. „Du bist der treuste und mächtigste meiner Diener, die derzeit auf Faerûn wandeln. Die Welt hat sich verändert in den Jahren, in denen du im Strom der Zeit gefangen warst. Die Zuversicht in die Götter schwindet seit Mytras Tod. Die Auserwählten der Götter, ob gut oder böse, haben diese Welt verlassen. Die Zeit ist gekommen für neue Helden, um die Geschichte Faeruns zu formen. Du wirst einer dieser Helden sein. Ich will dich zu meinem Auserwählten machen und einen Teil meiner Göttlichkeit auf dich übertragen. Doch mein Geschenk kann auch zum Fluch werden. Mein Ruhm wird deiner sein, doch sollte ich vernichtet werden, so wirst du mit mir fallen und das Schicksal der Sieben Schwestern teilen. Ich frage dich darum: Grimwardt Fedaykin, Priestergeneral der Abtei des Schwertes, bist du bereit mein Gesandter auf Erden sein, sodass deine Entscheidungen zu meinen werden, dein Ruhm zu meinem und deine Niederlagen zu meinen?“
Wenn ich in diesem Moment sterben würde, ich würde es nicht einmal merken, war der einzige Gedanke, zu dem Grimwardt fähig war.
Doch er sagte mit fester Stimme: „Ja, Herr, ich bin bereit. Und ich werde Euch nicht enttäuschen.“
„So sei es.“
Tempus legte ihm die Hand auf die Schulter und Grimwardt spürte, wie die Berührung sein ganzes Wesen erfüllte und etwas Göttliches von ihm Besitz ergriff, das ihn auf alle Zeit mit dem Gott verband. Er keuchte auf.
Als er die Augen öffnete, war Tempus verschwunden. Kein Lüftchen rührte sich und niemand regte sich. Starre, ehrfurchtsvolle Blicke waren auf Grimwardt gerichtet.
„Aber…“, durchbrach in diesem Moment Fausts irritierter Einspruch die Stille. „Ich bin der Auserwählte!“
Das löste die Anspannung. Irgendwer verpasste dem Querkopf einen Schlag in die Rippen und tosender Jubel brandete auf.
„Was kniet ihr hier alle im Staub?“, knurrte Grimwardt, als der Rummel sich ein wenig gelegt hatte. „Los, zurück an die Arbeit, aber plötzlich!“
INSEL DER RÄTSEL
Prolog
Drake
Silbrigmond, Ches 1395 TZ.
„Was wollte die Engelsfrau von dir“, fragte Winter, als sie auf dem Weg zur Schimmernden Schriftrolle die Mondbrücke überquerten, „als sie im Geist mit dir sprach?“
Die Erinnerung warf einen düsteren Schatten.
„Wenn sie gewollt hätte, dass es alle erfahren, hätte sie es vermutlich laut gesagt“, erwiderte Drake einsilbig.
Zu seinem Erstaunen beließ es Winter dabei.
„Versprich mir, dass du uns in Ruhe lassen wirst“, sagte sie nach einer Pause.
Er hob spöttisch eine Augenbraue.
„Und welchen Wert hätte das Versprechen eines Entführers und Attentäters?“
„Lass die Spielchen, Drake... bitte.“
Bitte? Drake maß sie mit durchdringenden Blicken. Wo war Winters Kampfgeist geblieben? Hatte ihre Mutlosigkeit etwas mit dem Besuch bei ihren Schwiegereltern zu tun? Nachdem die Gefährten den ersten Schock überwunden und sich wohl oder übel damit abgefunden hatten, zwölf Jahre in der Zukunft gelandet zu sein, hatte Grimwardt darauf gedrängt, so schnell wie möglich zur Abtei zu reisen. Winter hatte ihren lächerlichen Such-Tanz aufgeführt, um ihre Tochter aufzuspüren, doch ohne Erfolg. Drake hatte sie schließlich überreden können, ihn zuerst in Silbrigmond abzusetzen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie einen kurzen Abstecher zu den Dantés’ gemacht, von dem sie mit bedrückter Miene zurückgekehrt war.
Plötzlich blieb Winter wie vom Donner gerührt stehen.
„Das ist ja wohl nicht ihr Ernst!“
Sie waren bei der Schimmernden Schriftrolle angelangt, doch anstelle des vertrauten Geruchs nach Fledermausdung, Binsenkraut und alchemistischen Substanzen quoll ihnen aus dem Eingang des kleinen Zauberladens eine Duftwolke aus Minze, Honig und Amber entgegen und ein Blick durch die geöffnete Eingangstür gab eine Reihe von Tischen und Stühlen preis, an denen fleißig Tee geschlürft und über Politik und Stadtgeschehen lamentiert wurde.
„Eine Teestube?“
Das Innere des Ladens hielt noch eine weitere Überraschung bereit: Anstelle von Xara Tantlor trafen sie hinter dem Ladentisch einen kleinen Jungen an, der in ein Buch vertieft schien. Als er sich der Ankunft der Gäste bewusst wurde, schreckte er ertappt auf und versuchte seinen rot-gezackten Teufelsschwanz hinter dem Rücken zu verbergen.
„Ja, bitte?“, fragte der Tieflingsjunge schüchtern.
Drake pfiff leise durch die Zähne. Was Xaras zwielichtige Liebschaften anging, rangierte er offenbar nicht so weit an der Spitze wie er angenommen hatte. Nun ja, immerhin klärte der verräterische Teufelsschwanz die Vaterfrage. Nach seiner letzten Begegnung mit Xara war er sich dessen nicht so sicher gewesen. Der Gedanke hätte ihm Genugtuung verschaffen sollen. Doch das Wissen, dass sein Verschwinden nicht einmal diese kleine Narbe hinterlassen hätte, hatte einen bitteren Beigeschmack…
Als Xara von ihren Besorgungen zurückkehrte, war sie nicht schlecht erstaunt, ihre einstmals besten Kunden völlig unberührt von den zwölf Jahren, die zwischen ihrer letzten Begegnung lagen, in einer der Sitznischen anzutreffen.
„Was ist hier passiert?“, fuhr Winter sie an. „Sagt bloß, Euer Laden ist Bankrott gegangen? Ich habe mehrere Anzahlungen geleistet, für die noch die Lieferungen ausstehen!“
Xara schien aus allen Wolken zu fallen.
„Alle Welt hielt Euch für tot!“, erklärte sie. „Die Barden haben Nachgesänge auf die Helden von Immerschwinge verfasst… Meinen Laden musste ich natürlich schließen. Ohne Magie macht ein Zauberladen nicht viel Sinn.“
„Was soll das heißen, ohne Magie?“, fragte Faust.
Xara schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.
„Ihr habt tatsächlich keine Ahnung, oder? Vor elfeinhalb Jahren wurde das magische Gewebe zerstört. Ganz Faerûn war magisches Ödland. Uns im Westen hat es noch vergleichsweise milde erwischt. Im Südosten gibt es Gegenden, die magisch völlig brach liegen oder noch immer von der Zauberpest verseucht sind.“
Zauberpest? War das die Erklärung dafür, dass sie in der falschen Zeit gelandet waren? Hatte sich das zerstörte Gewebe auch auf den Zeitstrom ausgewirkt? Elfeinhalb Jahre ohne Magie! Welch einen Rattenschwanz an politischen Umwälzungen das nach sich gezogen haben musste!
„Es waren harte Zeiten für Magier“, fuhr Xara fort. „Was hätte ich tun sollen? Ich musste meinen Sohn ernähren. Die Teestube läuft gut, aber bis hierhin war es ein harter Weg. Riven hat schließlich niemanden außer mir… und er hat es schwer genug.“
Verlegen und ein wenig verdrossen darüber, dass seine Mutter so ungeniert über seine Unzulänglichkeiten sprach, strich sich der Tieflingsjunge das Haar in die Stirn, um die kleinen Hörner zu verbergen, die dort sprossen. Drake entging auch nicht, dass sein verhaltenes Husten in verräterisch kontrollierten Abständen erfolgte – vermutlich nur eine Entschuldigung für den dicken Schal. Was er wohl verbarg? Striemen, Kratzer, Würgemale? Kinder konnten bemerkenswert grausam sein, wenn es darum ging, die Hackordnung auf dem Spielplatz festzulegen. Und Teufelsschwänze und Stirnhörner waren nicht gerade Statussymbole.
Genauso wenig wie rote Augen und leichenblasse Haut…
Aber dies war immerhin Silbrigmond – eine Stadt, die für ihre weltbürgerliche Toleranz bekannt war – anders als das dreckige Söldnerloch in den Herzlanden, in dem Drake aufgewachsen war. Und Riven war auch nicht der Bastard einer schwindsüchtigen Straßenhure.
Drake blinzelte den unliebsamen Erinnerungsfetzen hinfort.
„Ich nehme an, das bedeutet, wir können unsere Anzahlungen vergessen.“ Er erhob sich. „Dann sehe ich keinen Grund, der mich hier noch hält.“
Mit einer mokanten Verneigung verabschiedete er sich. Doch vor der Tür hielt er inne. Wohin sollte er gehen? Ob seine Verbindungen im Hafenviertel noch bestanden? Unwahrscheinlich - in seinem Geschäft waren Kontaktleute von geringer Haltbarkeit. Vermutlich würde er sich einen neuen Kundenkreis aufbauen müssen. Dasselbe galt für seine Geldanlagen. Fast war es, als hätte Feyleens perfider Plan Erfolg gehabt. Zwölf Jahre im Zeitstrom hatten ausgereicht, um alle Spuren seiner Existenz zu tilgen. Unsichtbarkeit war immer seine Verbündete gewesen, doch nun fühlte er sich mit einem Mal von ihr verraten und der Rückweg in sein altes Leben erschien ihm düster und trüb. Doch wohin sonst sollte er gehen? Es war das einzige Leben, das er kannte.
Nicht GANZ das einzige…
Dass das Abenteurerdasein seine Vorzüge hatte, war keine bahnbrechende Erkenntnis: Selbst durch vier geteilt, brachte die Plünderung eines Drachenhorts noch mehr ein als er in einem Monat verdienen konnte. Was ihn stets abgeschreckt hatte, war der Gedanke, dass sein Überleben von anderen abhängen könnte. In seiner Welt war Freundschaft eine Maske, die Leute hin und wieder aufsetzten, um andere für ihre Zwecke einzubinden, und Vertrauen eine Illusion, die zerbrach, sobald ihre Ambitionen sich änderten. Soweit die Theorie - doch sie erklärte nicht, weshalb die Fedaykin-Geschwister sich nicht an ihm gerächt hatten, als sie die Gelegenheit dazu hatten…
Sein Blick glitt zurück.
Faust saß breitbeinig auf seinem Schemel und versuchte dem Tieflingsjungen Mut zuzureden. Drake hielt ihn für einen ruhmsüchtigen Draufgänger – begabt, exzentrisch, polarisierend. Der Typ Mann, den Drake hasste, weil er alles mit Leichtigkeit meisterte – naja, alles bis auf den Krieg gegen die Nebel, die seinen Verstand hin und wieder umwölkten. Miu, Fausts ewiger Schatten, war vielleicht die einzige, die durch den Dunst zu blicken vermochte. Doch die Ordensschwester war eingeschnürt in ein Korsett aus Regeln und Vorschriften, an dem sie eines Tages ersticken musste…
Grimwardt stand ein Stück abseits, wie stets ein wenig skeptisch gegenüber allem, was sich nicht um Kriegstaktiken und Schlachtordnungen drehte. Er war der ruhende Mittelpunkt der Gruppe, unbeirrbar seiner einen, bedingungslosen Leidenschaft verpflichtet. Vielleicht ein wenig zu unbeirrbar, um zu erkennen, dass der Grat zwischen Glaubenseifer und Fanatismus, auf dem er wandelte, immer schmäler wurde.
Und Winter? Seit ihrer ersten Begegnung war Drake fasziniert von dem, was er hinter den zahlreichen Masken der Heiratsschwindlerin gesehen hatte: eine Frau, die mit naiver Hingabe liebte und mit skrupellosem Egoismus für diejenigen kämpfte, die sie liebte. Nun da Winters Fassade zu bröckeln begonnen hatte, kam immer mehr von diesem dunklen Kern zum Vorschein…
Nein, erkannte Drake. Er würde nicht mit ihnen gehen. Sie stehen am Abgrund, hatte der Engel gesagt. Die Frage war nur, wer von ihnen zuerst fiel. Er würde zurückkehren in seine Schattenwelt – und überleben. Mochte das Schicksal, das der Engel ihm prophezeit hatte, ihn einholen, wenn es soweit war…
Kapitel I: Der Auserwählte
Grimwardt
Abtei des Schwertes, wenig später.
Die Nachtpforte wurde geöffnet und ein kahlköpfiger Geweihter im Rang eines Schildpriesters, gefolgt von einem einfachen Soldaten, trat vor die Wehrmauer. Grimwardt erkannte den Soldaten als einen ehemaligen Rekruten. Doch der Priester war ihm fremd.
„Seid Ihr Euch sicher?“, hörte er den Priester leise fragen.
Der Soldat nickte mechanisch, während er Grimwardt mit offenem Mund anstarrte.
„Was soll der Unfug?“, brummte Grimwardt. „Weshalb verwehrt man mir den Einlass in meine eigene Abtei? Und warum ist das Tor verrammelt? Erwarten wir einen Angriff?“
„Verzeiht“, sprach der Kahlkopf, doch seine Augen blieben kalt und misstrauisch. „Ich wurde angewiesen, Eure Identität zu überprüfen, ehe man Euch Einlass gewährt.“
„Auf wessen Geheiß?“
„Auf Geheiß des Priestergenerals.“
ICH bin der Priestergeneral, du Orknase!
Grimwardts Zornader pochte ganz gewaltig hinter seiner Stirn, doch um dem Grund für dieses rätselhafte Treiben so schnell wie möglich auf die Schliche zu kommen, ließ er sich seinen Unmut nicht anmerken und wehrte sich auch nicht, als der Fremde ihn mit einem Aufklärungszauber belegte. Der Geweihte nickte ihm knapp zu und bedeutete ihm mitzukommen. Als Faust, Winter und Miu Anstalten machten ihnen durch die Pforte zu folgen, gebot er ihnen Einhalt.
„Der Priestergeneral wünscht mit Grimwardt Fedaykin allein zu sprechen.“
Faust verschränkte provokativ die Arme vor der Brust und traktierte Kahlkopf mit Blicken als versuche er zu ermessen, wie hart er wohl zuschlagen müsse, um ihn Dreck schlucken zu lassen ohne ihn gleich ins Jenseits zu prügeln. Grimwardts mäßigender Blick beendete das stumme Kräftemessen und Faust zuckte mit den Schultern.
„Wie du meinst.“
„Vergiss nicht, nach Scarlet zu fragen“, hörte Grimwardt Winters bange Bitte in seinem Rücken, während er auf das Hauptgebäude zuschritt. Unerhört! – So wie die beiden Wächter ihn flankierten, hätte man meinen können, er sei ein Gefangener in seiner eigenen Abtei. Seinem magisch geschulten Blick entgingen nicht die subtilen Veränderungen am magischen Schutzsystem der Abtei. Eine Teleportationsbannmauer, ein Schutzschild vor Ausspähung, ein magisches Warnsystem – alles Neuerungen, für die Grimwardt seit fast zehn Jahren sparte. Woher hatte die Abtei plötzlich das Geld dafür? Und weshalb begegnete er keinem einzigen vertrauten Gesicht? Grimwardt legte beleibe keinen Wert auf Willkommensfanfaren und Trommelwirbel, doch man hätte meinen sollen, dass die Ankunft eines verschollenen Abteileiters für ein wenig mehr Aufregung gesorgt hätte.
Wortlos führte Kahlkopf ihn in die große Gebetshalle.
Auf der Empore vor dem Schildaltar erwartete ihn Sir Silas von Arkhem, der Taliser Ritter, der sich beim Turnier zu Ehren des gefallenen Jareth Burlisk den Rang des Ersten Schwertbruders erkämpft hatte. Der goldbärtige Ritter trug die zeremonielle Rüstung, die dem Priestergeneral gebührte. Als Grimwardt eintrat, neigte er ehrerbietig den Kopf. Der Kriegspriester kam nicht umhin, die widersprüchliche Symbolik dieses Auftritts zu bemerken. Die demonstrative Zurschaustellung der Insignien des Priestergenerals schien zu sagen „Du hast deine Stellung verwirkt; ich gebe sie nicht wieder her“, doch Silas’ demütige Haltung, in der Grimwardt keinen Spott erkennen konnte, sprach eine andere Sprache. Fast hätte er so etwas wie Mitleid für seinen „Nachfolger“ verspürt, für den die Situation vermutlich nicht weniger unangenehm war als für ihn selbst – wäre da nicht die Gestalt im Schatten gewesen. Die Dunkelheit umgab sie wie ein Tarnzauber, sodass Grimwardt sich ihrer Gegenwart erst bewusst wurde, als sie sich bewegte, um an Sir Silas’ Seite zu treten: Sie war eine hagere Frau um die Fünfzig. Ihr Haar war so streng zurückgebunden, dass es ihr Gesicht zu straffen schien. Alles in diesem Gesicht – die stark geschminkten Augen, die lange Nase, die strengen Wangenfalten - warf riesige Schatten, die ihr Antlitz zu verschleiern schienen.
Eine Umbrantin, erkannte Grimwardt. Eine Schattenmagierin.
„Grimwardt Fedaykin.“ Ein verhaltenes Lächeln streifte Silas’ Gesicht, zu steif, um den Argwohn aus seinen Zügen zu stehlen. „Tempus wirkt Seine Wunder, wenn wir sie am wenigsten erwarten. Vor elf Jahren beweinten wir Euch wie einen Toten und trugen einen leeren Sarg zu Grabe. Und heute steht Ihr vor den Toren der Abtei und scheint Euch um keinen Deut verändert zu haben.“
„Anders als meine Abtei, Sir Silas“, entgegnete Grimwardt mit einer Ruhe, die bei jedem, der ihn kannte, die Alarmglocken läuten ließ. „Wollt Ihr mir nicht Eure neue Gefährtin vorstellen?“
Das Lächeln des Ritters erstarb. ‚Meine Abtei’ hatte Grimwardt gesagt und der Paladin hatte verstanden: Er gedachte nicht, auf seinen Anspruch auf den Rang des Priestergenerals zu verzichten.
„Das ist Lady Zia.“ Silas’ Blick flackerte unstet. „Sie hält die arkanen Verteidigungsanlagen der Abtei instand und steht uns im Kampf gegen die Horden des Nordens bei.“
„Die Horden des Nordens?“ Grimwardts Zornader bohrte sich tiefer in seine Stirn. Für wie einfältig hielt ihn dieser Schnösel? Die Orkbarbaren vom Grat der Welt waren keine Bedrohung, die ein ausgeklügeltes magisches Verteidigungssystem erforderlich machten. „Lassen wir doch die Masken fallen, Priestergeneral. Was hat Euch bewogen, einer Umbranten-Spionin die Tore der Abtei zu öffnen?“
Sir Silas sog betroffen die Luft ein, während Lady Zia keine Miene verzog. Stumm und lauernd wie ein Geier auf Beuteflug harrte sie im Schatten.
„Grimwardt Fedaykin.“ Die Stimme des Ritters zitterte vor unterdrückter Brüskierung. „Als ich vor zwölf Jahren in diese Abtei eintrat, leistete ich den Schwur, Tempus zu dienen und die Menschen der Talländer mit Seiner Hilfe vor Unglück zu bewahren. Diesem Schwur bin ich immer treu geblieben. Verzweifelte Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Aber mir zu unterstellen, die Abtei verraten zu haben, verletzt meine Ehre aufs Schärfste! Wo wart Ihr in all den Jahren, könnte ich Euch fragen? Woher nehmt Ihr das Recht meine Entscheidungen in Frage zu stellen?“
Grimwardt musterte ihn eindringlich.
Er hat Angst, erkannte er. Aber er sagt die Wahrheit.
Und trotzdem – irgendetwas stank hier gewaltig. Er musste dringend mit jemandem sprechen, dem er vertraute.
„Wo ist Borgo der Zwerg?“, fragte er barsch. „Ich will ihn sprechen.“
Lady Zia stieß ein missgünstiges Zischen aus, doch Sir Silas gab nach einem kurzen Zögern seine Einwilligung. Auf seinen Befehl führte der Schildpriester Grimwardt in den zweiten Stock. Vor der Tür zur Bibliothek hielt er an. Grimwardt wandte sich misstrauisch um.
„Was soll das?“
„Ihr wolltet Borgo, den Bibliothekar, sprechen.“
Den BIBLIOTHEKAR?! Tempus steh uns bei!
„Herr!“ Der Zwerg schien Grimwardt bereits erwartet zu haben. Eilig zerrte er seinen Kameraden und ehemaligen Dienstherrn in den Raum. Dann schob er rumpelnd ein Regal vor die Tür und begann mit Hilfe eines Zaubers die Wände nach verborgener Magie zu untersuchen.
„Sie beschattet uns, da bin ich mir sicher! Man kann in diesen Mauern keinen Schritt mehr tun, ohne von ihren ausspähenden Augen belauert zu werden!“
„Du sprichst von Lady Zia?“
„Von wem sonst?“, schnappte der Zwerg mit gewohnter Ruppigkeit.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Borgo, was ist hier eigentlich los?! Wann hat dich die Erkenntnis ereilt, dass Bücher noch zu etwas anderem taugen als zur Morgentoilette?“
„Seit die Welt nicht mehr die ist, die sie einmal war“, brummte der Zwerg.
Der Kleriker und Waffenmeister war schon in rüstigem Alter gewesen, als Grimwardt noch ein Knappe in der Ausbildung gewesen war, doch man hatte es ihm niemals angesehen. Doch nun hatte sich auch die letzte Strähne seines knielangen Bartes grau gefärbt und ohne Rüstung offenbarte sein Rücken den Ansatz eines Buckels.
Nachdem Grimwardt ihm kurz erläutert hatte, weshalb ihm jegliche Erinnerung an die letzten zwölf Jahre fehle, begann der Zwerg zu erzählen.
„Einige Tage nach Eurem Verschwinden wurde ganz Faerûn von der Zauberpest heimgesucht. Wir alle wurden zum Opfer einer göttlichen Intrige: Angestiftet von Shar tötete Cyric, der Gott des Verrats, die Göttin Mystra. Durch ihren Tod geriet das magische Gewebe außer Kontrolle und stürzte die Welt ins Chaos. Weit im Süden, in Halrua, nahm die magische Apokalypse ihren Anfang. Dort zogen magische, zyklonenartige Wettergebilde – genannt Zauberleuchten - über das Land und zerstörten alles auf ihrem Weg. Die Welt hat sich verändert, Grimwardt; einige Landstriche verschwanden völlig, während anderswo ganze Kontinente wie aus dem Nichts auftauchten. Die Magie spielte erst verrückt; dann verschwand sie völlig. Erst seit zwölf Monaten etwa erholt sich das Gewebe langsam. In den Jahren, als das Zauberleuchten wütete, kamen viele Magier durch ihre eigene Magie um, während andere dem Wahnsinn anheim fielen. Beinahe die gesamte magische Elite der Reiche wurde ausgelöscht. Auch die Sieben Schwestern erlagen dem zerstörten Gewebe und Elminster vom Schattental zog sich in seinen Turm zurück und empfängt seit einem Jahrzehnt keine Besucher mehr. Die einzigen, die von den Pestjahren profitierten, waren die Arkanisten von Netheril.“
„Demnach wurde das Schattengewebe also von der Zauberpest verschont?“
„Nicht direkt. Shar hatte natürlich darauf spekuliert, durch Mystras Tod die Herrschaft über alle sterbliche Magie an sich zu reißen. Doch sie hatte sich verkalkuliert. Es gelang ihr nicht, die Kontrolle über das Schattengewebe zu bewahren, als Mystras Gewebe zusammenbrach. Hochprinz Telamont Thantul muss von der göttlichen Intrige gewusst haben und entging der Vernichtung seiner Stadt wie bereits zu Karsus’ Zeiten: Er versetzte ganz Umbra auf die Schattenebene. Shar konnte die Schattenmagie bändigen, ehe es dem Rest des Pantheons gelang, ein neues Magiegewebe zu erschaffen. Darum erlangten die Arkanisten von Umbra schneller als alle anderen Völker ihre magischen Fähigkeiten zurück. Das war die Chance, auf die der Hochprinz und seine elf Söhne gewartet hatten. Sie besiegten ihre alten Feinde, die Phaerimm, die sich durch die Erschütterung des Schattengewebes aus ihrem Gefängnis unter der Anauroch befreit hatten. Dann bauten sie zwei weitere der gefallenen Städte ihrer Vorfahren wieder auf und riefen das Königreich von Netheril aus. Als nächstes begann Netherils Magokrat seine imperialistischen Ziele in die Tat umzusetzen. Die Zhentarim-Söldner der Anauroch hatten sich während der Phaerimmkriege mit diesen Kreaturen verbündet, darum mussten die Zhentarim als erstes dran glauben. Außerdem war den Umbranten wohl der Einfluss Fzoul Chembryls auf die Handelswege der Anauroch lästig. Wie auch immer – die Zhentilfeste fiel fast widerstandslos und das Schwarze Netzwerk wurde zerschlagen.“
„Die Zhentarim sind geschlagen? Bei Hammer und Helm!“
„Das könnt Ihr laut sagen. Es ist dem Eingreifen der Elfenkönigin von Myth Drannor zu verdanken, dass der Mondsee nicht völlig in die Hände der Umbranten fiel. Sie stationierte ihre Truppen in der Zhentilfeste, um die Bevölkerung vor der Willkür der netheresischen Eroberer zu schützen. Allein hätte sie natürlich keine Chance gegen Telamont Tanthul, doch der Elfenhof wird von den Silbermarken, Cormyr und der Allianz der Talländer unterstützt. Es existiert ein loser Verteidigungspakt, die Westallianz. Der Hochprinz ist ein vorsichtiger Mann, der die offene Konfrontation scheut. Er ließ die Elfen gewähren und setzte stattdessen auf Handelsimperialismus. Die netheresischen Handelskompanien fassten in Sembia Fuß und kontrollierten schon bald den gesamten Würzhandel des Sternregenmeers. Heute ist Sembia nur noch ein Vasallenstaat des Wüstenimperiums – Umbras Seehafen und Tanthuls Verbindung zur Außenwelt. Die Anauroch bleibt weiter gegen normale Magie abgeschottet. Thantul gewährt keinen Ausländern Zutritt zu seinen Städten – zu groß ist seine Furcht vor Spionage. Nach Sembia wird sich sein Augenmerk nun vermutlich auf die Talländer richten: Wir liegen schließlich genau zwischen der Anauroch und Sembia – sämtliche seiner Handelskarawanen müssen hier durch. Dass die Fürsten der Täler untereinander zerstritten sind und unsere Städte keine magischen Verteidigungsschilde haben, macht uns außerdem zum verwundbarsten Mitglied der Allianz.“
„Darum hat der Herr von Umbra also Lady Zia in die Abtei eingeschleust: um die militärische Verteidigung der Talländer zu kontrollieren, ohne die Bevölkerung gegen sich aufzubringen“, brummte Grimwardt düster. Was Borgo erzähle, ließ nichts Gutes hoffen. „Welcher Teufel hat Silas geritten, dass er der Schattenhexe die Tore zur Abtei öffnete?“
„Er hat das Schlottern bekommen, unser Sir Hasenherz“, schnaubte Borgo verächtlich. „Als Ihr verschwunden bliebt, übernahm er die Leitung der Abtei. Er machte seine Sache zunächst auch ganz gut und führte Euer Freundschaftsbündnis mit den Steinschilden von Sundabar und der Schule der Natur in Myth Drannor fort - das Projekt trug dazu bei, dass das Bündnis der Talländer mit dem Elfenhof erneuert wurde. Doch Silas’ Zuversicht schwand, je mehr Netherils Macht wuchs. Er glaubt, dass die Talländer nicht zu retten sind und dass wir als Tanthuls Marionette noch die größte Überlebenschance haben. Darum nahm er Lady Zias Arbeitsgesuch an, obwohl jeder Ork erkennen kann, welches Spiel sie treibt. Gewiss hat sie bereits Kunde von Eurer Rückkehr an ihre wirklichen Dienstherren gesandt. Wundert Euch also nicht, wenn demnächst ein netheresischer Assassine bei Euch anklopft. Ohne Elminster und die Sieben Schwestern seid Ihr und Eure Gefährten die mächtigsten Verteidiger der ‚Achse des Guten’. Dazu kommt, dass Telamont Tanthul gewiss nicht vergessen hat, was mit seinem jüngsten Sohn geschehen ist…“
„Hm“, brummte Grimwardt. Hadrhune Tanthul war ein gefährlicher Gegner gewesen, doch im Gegensatz zu Telamont war er ungeduldig gewesen in seinem imperialistischen Streben und seinem Eifer, dem mächtigen Vater zu imponieren. Das hatte ihn angreifbar gemacht. Hochprinz Telamont dagegen schien Grimwardt ein kluger Stratege zu sein. Sein erster Schachzug hatte sich nicht etwa gegen Myth Drannor oder Silbrigmond, seine eigentlichen Konkurrenten, gerichtet, sondern gegen die Zhentarim: Meuchler und Schwarzkünstler, die den Westen Jahrzehnte lang terrorisiert hatten. Und was tat er dann? Er gründete Handelskompanien statt seine Position auszunutzen und über seine Feinde herzufallen und sorgte dafür, dass die Anauroch für alle Welt ein Mysterium der Schatten blieb. Vielleicht war es seine gefährlichste Waffe, dass er so wenig dem Bild des herrschsüchtigen Tyrannen entsprach. Welcher Herrscher machte nicht lieber Geschäfte mit Handelspartnern als Geld und Leben in der Schlacht zu riskieren? Freiheit war ein verzichtbares Gut, wenn man kaum merkte, wie sie einem entglitt. Sir Silas war genau wie die Herrscher von Sembia auf die Maskerade des Hochprinzen hereingefallen. Und wer sagte, dass andere nicht folgen würden?
„Wie viele von Silas’ Männern wären ihm loyal, wenn es zur Konfrontation käme?“, fragte Grimwardt.
Der Zwerg schnalzte unschlüssig mit der Zunge.
„Auf mich könnt Ihr natürlich zählen. Auch Lady Lucia ist Silas’ neuem Kurs alles andere als zugetan, aber sie hat ihm bei seinem Amtsantritt die Treue geschworen, darum würde ich nicht auf sie zählen. Diejenigen Eurer Leute, die zu laut ihren Unmut über Lady Zias Anwesenheit kundgetan haben, hat die Hexe rausgeworfen. Aber so oder so würdet Ihr mit einem Kampf riskieren, die Taliser gegen Euch aufzubringen. Sir Silas ist nicht unbeliebt in der Gegend. Viele Adlige denken wie er, müsst Ihr wissen. Und für die Bauern bedeutet Krieg nur Tod und erhöhte Steuern: Die sind um jeden froh, der ihnen beides vom Hals hält.“
„Was rätst du mir also?“
„Ihr solltet Silas zum Duell herausfordern.“
Grimwardt nickte nachdenklich in seinen Bart hinein.
Tempus’ Kriegsgesetz besagte, dass die Ehre des Heerführers dem besten Kämpfer gebührte und die Abteihierarchie war nach demselben Prinzip strukturiert. Ein Duell würde klären, wer in den Augen Tempus’ die Abtei leiten sollte. Und Silas konnte eine Herausforderung nicht ablehnen, ohne sich zum Gespött der Abtei zu machen.
Grimwardt beschloss, sofort Nägel mit Köpfen zu machen. Keine fünf Minuten später harrte er wartend in seinem alten Arbeitszimmer und betrachtete verdrossen die Medaillensammlung, um die Sir Silas die Wand über seinem Arbeitstisch bereichert hatte. Die Nagellöcher würden nie wieder rausgehen. Kurz darauf trat der Turniermeister ein.
„Morgen bei Sonnenaufgang auf dem großen Turnierplatz“, sagte der Kriegspriester ohne Umschweife.
Sir Silas seufzte ergeben, schien aber nicht sonderlich erstaunt.
„Möge der Bessere von uns beiden siegen.“
Grimwardt brummte seine Zustimmung.
„Und nun lasst uns bei einem Becher Met über die Ereignisse der letzten Jahre plaudern.“
Winter
Schule der Natur, Myth Drannor, wenig später.
Der zwergische Austauschschüler aus Sundabar machte ein Gesicht, als halte ihn nur seine Zwergenehre davon ab, schreiend davonzulaufen. Es war Geschichtsstunde in Nimoroths Tempelschule. Unter dem farbenfrohen Gewölbe der blühenden Frühlingsbäume saßen elfische und menschliche Schüler beisammen und während die einen aufmerksam den Worten der Lehrerin lauschten, übten sich andere mit Hingabe im Spiel Zwick-den-Zwerg. Die Lehrerin, eine Halbelfe mit goldenen Locken und einem freundlichen Grübchenlächeln, beschränkte sich lediglich auf ein paar mahnende Worte, wenn ihre Schützlinge es allzu weit trieben. Während Faust und Miu aufmerksam ihrer Lektion über den Rückzug der Elfen aus Faerûn lauschten, harrte Winter ungeduldig der Heimkehr ihres alten Mitstreiters. „Fürst Nimoroth“, wie die Halbelfe ihn betitelt hatte, war inzwischen Mitglied des Elfenrates und gerade bei einer Versammlung.
Nachdem Grimwardt seinem Konkurrenten die Duellforderung überbracht hatte, waren auch seine Freunde eingelassen worden. Winter hatte von Borgo erfahren, dass Scarlet unter Silas’ fragwürdigem Regime bereits vor zwei Jahren durchgebrannt war. „Dieser elfische Taugenichts aus Myth Drannor muss sie dazu angestiftet haben“, hatte der Zwerg gebrummt. Und wenn sie sich den lockeren Lehrstil an Nimoroths Tempelschule anschaute, fiel es Winter nicht schwer zu erraten, wer damit gemeint war: Wenn Scarlet tatsächlich mit Nimoroths Sohn Laguna durchgebrannt war, dann wusste sein Vater vielleicht, wo die beiden steckten.
Endlich erblickte Winter zwischen den Bäumen das leuchtende Fell von Nimoroths Tigergefährten. Der hochtrabende Titel schien den Waldelfen um keinen Deut verändert zu haben. Nicht einmal von den religiösen Hennazeichnungen auf seinem Oberkörper hatte er abgesehen und sein hüftlanger Haarschopf erweckte wie meistens den Anschein, als hätte er schon sämtlichen Vögeln der Cormanthorischen Wälder als Nistplatz gedient. Mit einem heiteren Lächeln reichte der Druide der alten Gefährtin beide Hände zur Begrüßung.
„Ich wusste, dass ihr noch am Leben sein müsst, als ich vom Rückgang der seelenlosen Geburten hörte“, begrüßte er sie. „Du musst mir alles erzählen.“
„Das werde ich.“ Winters Sorgen erschienen ihr mit einem Mal leichter. Es musste an Nimoroths Gabe liegen, die Welt in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. „Aber zuerst muss ich wissen, wo meine Tochter ist.“
Nimoroth nickte – ernst, aber nicht beunruhigt.
„Scarlet ist bei Laguna, es geht ihnen gut. Aber ich kann hier nicht darüber sprechen.“
Winter fiel ein Stein vom Herzen. Nachdem er die Zauberin und ihre Begleiter in sein Haus in der Krone einer alten Eiche geführt und ihnen elfisches Gebäck angeboten hatte, fuhr Nimoroth fort.
„Die beiden haben sich den Sandfürsten angeschlossen, um die Expansionspläne der Hochfürsten zu vereiteln.“
„Sie haben was?“ Winters Erleichterung schlug schlagartig in Entsetzen um. In Grimwardts Vision waren die Hochfürsten von Umbra gegen eine „Sandfürstin“ in den Krieg gezogen. „Was soll das heißen? Und wer sind diese Sandfürsten überhaupt?“
„D’Tairig-Rebellen, die sich gegen die netheresische Fremdherrschaft auflehnen“, erklärte Nimoroth. „Ein paar idealistische Sympathisanten und ehemalige Zhent-Söldner haben sich ihnen in letzter Zeit angeschlossen. Ihre gelegentlichen Anschläge auf netheresische Handelskarawanen und Oasen-Stützpunkte sind zu unbedeutend, als dass Hochfürst Telamont sie wirklich ernst nehmen würde. Aber für die Westallianz sind sie wertvolle Informanten und im entscheidenden Moment könnten sie sich als wichtige Verbündete herausstellen. Myth Drannor unterstützt sie darum inoffiziell mit Waffenlieferungen und magischen Schutzgegenständen.“
Winter fiel aus allen Wolken.
„Nimoroth, wie kannst du zulassen, dass dein Sohn bei diesem Wahnsinn mitmacht?!“
Der Druide seufzte.
„Du hast schon Recht, die Rebellen nehmen bei ihren Anschlägen nicht selten den Tod von Unschuldigen in Kauf. Aber…“
„Nicht moralisch!“ Nimoroth war wirklich unverbesserlich. „Ich meine, wie kannst du zulassen, dass sich Laguna solchen Gefahren aussetzt? Wie alt ist er? Siebzehn?“
Der Waldelf runzelte leicht die Stirn.
„Laguna setzt sich für eine gute Sache ein, Winter, so wie ich es ihn gelehrt habe. Wieso sollte mich das mit etwas anderem als Stolz erfüllen? Sicher ist es gefährlich, was er tut. Aber diejenigen, die in dieser Welt überleben, sind jene, die sich an ihre Gefahren angepasst haben. Es wäre verantwortungslos von mir, wenn ich ihn darüber im Dunkeln ließe, denn ich werde nicht immer da sein, um ihn zu beschützen. Ich kann ihm nur helfen, die Welt in eine bessere zu verwandeln und das tue ich, indem ich im Elfenrat für die Unterstützung der Sandfürsten kämpfe.“
Winter erkannte, dass sie gegen Windmühlen anredete.
„Wie haltet Ihr den Kontakt zu den Sandfürsten?“, erkundigte sich Faust derweil. „Sind die D’Tairig nicht Nomaden?“
„Ich stehe in telepathischer Verbindung zu Laguna. Auf diese Weise können wir Treffen in der Wüste mit den Leuten von Sandfürst Zarif Abu Sayama arrangieren, wenn neue Lieferungen anstehen.“
Winter horchte auf.
„Kannst du ein solches Treffen auch für uns arrangieren? Ich habe Scarlet seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen.“
Nimoroth zögerte kurz, doch dann nickte er.
„Aber nur dieses eine Mal, Winter.“
Ein Mal muss reichen, um Scarlet da raus zu holen, dachte Winter lakonisch. Wenn nötig mit Gewalt.
„Jede Kontaktaufnahme birgt ihre Gefahren. Natürlich ist Zarifs Zelle gegen Ausspähung geschützt, aber wir können nicht sicher sein, dass die Hochfürsten nicht in der Lage sind, magische Kommunikationen innerhalb des Schattengewebe-Gebiets aufzudecken.“
„Vielleicht kann Grimwardts Abtei die Sandfürsten ja ebenfalls mit Waffenlieferungen unterstützen“, warf Faust ein. „Vermutlich wären die D’Tairig uns freundlicher gesonnen, wenn wir Geschenke mitbringen.“
„Dann ist die Abtei des Schwertes also wieder… ähm…“
„Von Ungeziefer befreit? Noch nicht, aber bald“, erklärte Faust zuversichtlich.
„Gut.“ Nimoroth nickte. „Ich gebe euch Bescheid, sobald Zeit und Treffpunkt feststehen. Richtet euch auf etwa einen Monat ein.“
Faust sah aus dem Fenster und rieb sich grübelnd das stoppelige Kinn.
„Genug Zeit, um etwas zu tun, das ich schon vor Langem hätte tun sollen….“
Faust
Am späten Nachmittag in Rabenklippe am Drachengriff.
„Ich wusste gar nicht, dass du noch Familie hier hast“, sagte Winter belustigt, während sie den alten Mann am Arm durch das Villenviertel von Rabenklippe führte. Miu war bei Nimoroth in Myth Drannor geblieben.
„Es gibt auch so einiges, was ich von dir nicht weiß, Mädchen“, tatterte Faust seiner Rolle gerecht. Bei jedem Schritt spürte er die Gischt in seinen Knochen und sein rasselnder Atem sagte ihm, dass seine Lungen es auch nicht mehr lange machen würden. Die Alterungsfunktion war mit Abstand die gruseligste der Fähigkeiten, die er seiner neuen Tätowierung bisher entlockt hatte, und sie warf brennende Fragen auf: Wenn er zu jedem Punkt seiner körperlichen Entwicklung vor- oder zurückspulen konnte, bedeutete dies, dass er nicht mehr altern würde, wenn er seinen Körper einfach jeden Abend um einen Tag in die Vergangenheit „teleportierte“? Wie dem auch sein, im Moment kamen ihm die schmächtigen Greisenbeine durchaus gelegen. Immerhin war es nicht auszuschließen, dass er hier einem der Neun Schwerter über den Weg lief, doch dass seine Häscher ihn als achtzigjährigen Tattergreises erkennen würden, war mehr als unwahrscheinlich.
Fausts Heimatstadt war auf einer gewölbten Klippe über dem Drachengriff erbaut, sodass es von fern aussah, als harre sie auf einem Rabenschnabel, von dem sie jeden Moment ins Meer abzurutschen drohte. So tollkühn wie ihre Lage waren auch Rabenklippes Bewohner. „Exzentrisch“, sagten die Romantiker, „am Rande des Wahnsinns“, behaupteten die Spötter. Vielleicht war das der Grund, weshalb es so viele ehemalige Abenteurer in die Stadt am Drachengriff zog. Keine andere Stadt an der See des Sternregens konnte mit so vielen verfeindeten Ritterorden, Diebesgilden und Glaubenszirkeln aufwarten wie Rabenklippe und nirgendwo glich ein nächtlicher Spaziergang so sehr einem Selbstmordversuch wie hier. Doch ungeachtet ihrer inneren Unruhen war Rabenklippe in ihrer langen Geschichte von allen politischen Umwälzungen verschont geblieben, denn nicht einmal der expansionswütigste Tyrann war so größenwahnsinnig, sich mit einer Stadt voller streitbarer Abenteurer anzulegen.
Die MacLancastors hatten ihren Familiensitz im Ostviertel der Stadt, in dem rund um die Uhr Wachen patrouillierten, die Rabenklippes Straßengesindel von den Stadtpalais’ fernhielten. Ein Dienstmädchen empfing Winter und Faust, der wieder seine normale Gestalt angenommen hatte. Fausts Name sagte ihr nichts, darum bat sie die beiden in die Empfangshalle und eilte davon, um die unerwarteten Gäste anzukündigen.
„Faust!“ Winter klatschte entzückt in die Hände, als sie all die Büsten und Gemälde erblickte. „Du hast vergessen zu erwähnen, dass deine Familie reich ist!“
„Mein Stiefvater ist reich“, erwiderte Faust achselzuckend. „Meine Mutter stammt aus eher ärmlichen Verhältnissen.“
Es war eigenartig wieder hier zu sein. Der Ort roch nach zerbrochenen Vasen und schallenden Ohrfeigen.
„Du solltest dir dein Erbe ausbezahlen lassen“, bemerkte die Heiratsschwindlerin mit beiläufigem Kalkül, während sie ihre Finger über einen silbernen Kandelaber gleiten ließ.
Faust warf ihr einen befremdeten Blick zu.
„Ich habe meine Mutter seit 22 Jahren nicht gesehen“, sagte er. „Soll ich sie etwa mit den Worten ‚Wo ist mein Geld?’ begrüßen? Außerdem bezweifle ich, dass mein Stiefvater das Wort ‚Erbe’ je in Zusammenhang mit meinem Namen verwendet hat. Neben mir und meiner Schwester hat er noch sechs leibliche Söhne, die in der Erbfolge vor mir kommen.“
Winter zuckte mit den Schultern.
„Dann nimm dir einfach, was dir zusteht“, schlug sie vor und ihre Gesten unterstrichen das Unausgesprochene.
„Mann“, sagte Faust fassungslos. „Da hab’ ja selbst ich ein größeres Ehrgefühl.“
Sie zog unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe.
„Sechs Brüder, sagst du? Sind die verheiratet?“
Faust blieb ihr die Antwort schuldig, denn in diesem Moment kehrte das Dienstmädchen zurück, um ihn zur Dame des Hauses zu geleiten.
Lady Helena MacLancastor erwartete ihn in der Bibliothek. In ihrer Jugend war sie eine Schönheit gewesen. Nicht so sehr, weil ihre Lippen weicher oder ihre Taille schlanker gewesen wären als die anderer junger Frauen, sondern wegen der unbeugsamen Würde, die sie ausstrahlte. Diese Würde hatte sie sich bewahrt und sie hielt sie auch im stattlichen Alter von sechzig Jahren noch kerzengerade in ihrem Lesesessel. Ihre Haltung strahlte eine gewisse zynische Nüchternheit aus, die durch ihre schlichte schwarze Trauerkleidung noch betont wurde.
„Desmond“, sagte sie so unbewegt als begrüße sie ihren Stallmeister und nicht einen zwei Jahrzehnte lang verschollenen Sohn. „Ich dachte schon, das Mädchen hätte sich verhört.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mutter“, erwiderte Faust ihren Sarkasmus. „Wie ich sehe, hast du einen Verlust zu beklagen.“
„Keine falschen Mitleidsbekundungen.“
„Nur eine Feststellung.“
Faust war tatsächlich nicht allzu betrübt über das Dahinscheiden seines Stiefvaters. Lord MacLancastor hatte ihn und seine Schwester nur adoptiert, weil Helena dieser Ehe sonst nie zugestimmt hätte, doch er hatte sie bei jeder Gelegenheit spüren lassen, dass sie den Namen MacLancastor in seinen Augen nicht verdient hatten. Seine Mutter hatte es für sie getan, wusste Faust – um ihnen die Schande zu ersparen, als Bastarde aufzuwachsen…. und wohl auch deshalb, weil sie nach dem Verschwinden seines Vaters befunden hatte, dass es sich mit gebrochenem Herzen reich besser leben ließ als arm. Und wie nicht anders zu erwarten hatte sie die Rolle der gelangweilten Aristokratin zur Perfektion gebracht.
„Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Lady Helena das Dienstmädchen mit zwei Teegedecken anrücken und für eine Weile war nur ein dezentes Schlürfen zu hören. Als Faust feststellte, dass er bereits angefangen hatte, die Titel der Buchrücken zu lesen, um das bedrückende Schweigen mit Worten zu füllen, erkannte er, dass es höchste Zeit war, irgendetwas zu sagen.
„Und? In letzter Zeit etwas von meiner Schwester gehört?“
Lady Helena vermochte selbst die unverfänglichste Frage in eine Spitze zu verwandeln: „Lass mich nachdenken. Ihr letzter Brief aus Narbental-Stadt erreichte mich vor etwa einem Jahr. ‚Geht es gut, Claire’. Offenbar bin ich ihr nicht einmal ein Pronomen wert. Aber ich sollte mich glücklich schätzen. Vier Worte pro Jahr sind besser als zweiundzwanzig Jahre stumme Ungewissheit, meinst du nicht?“
„Autsch.“ Alles klar. Sie würde es ihm nicht leicht machen. Und er kannte nur ein Mittel gegen süffisante Dünkelhaftigkeit – schonungslose Ehrlichkeit. „Ich hatte ja vor mich eher zu melden. Aber der Orden war mir auf den Fersen, weil ich einen von denen abgemurkst hatte. Dann kamen die Nebel und ich verlor mein Gedächtnis, dich eingeschlossen. Tja, und dann musste ich ein paar Mal die Welt retten und wegen der Zauberpest saß ich fast zwölf Jahre im Zeitstrom fest.“
Beherrscht führte seine Mutter ihren Tee zum Mund, um seinen Worten Zeit zu geben, ihren aufmüpfigen Nachklang zu entfalten, bis sie selbst in seinen Ohren wie das störrische Ausrede eines jugendlichen Ausreißers klangen.
Verdammt, sie kennt mich gut.
„Und? Hatte er es verdient?“, fragte sie schließlich. „Der Mann, den du ‚abgemurkst’ hast?“
„Nicht wirklich“, gab Faust zu. „Er… hat sich abfällig über Vater geäußert.“
Zum ersten Mal stahl sich der Anflug eines Lächelns in ihre Augen.
„Dann hatte er es vielleicht doch verdient.“
„Glaubst du das wirklich?“ Faust sah seiner Mutter fest in die Augen. „War Vater wirklich so ein Held?“
„Was hast du gehört, das dich daran zweifeln lässt?“
Er erzählte ihr von den Anschuldigungen, die Thallastam gegen seinen Vater vorgebracht hatte: dass er seine Freunde verraten und seine Seele an einen Teufel verkauft hatte.
Lady Helena schwieg lange und schien in eine Vergangenheit zu blicken, an die Faust sich nicht erinnern konnte. Als sie endlich sprach, war aller Spott aus ihrer Stimme verschwunden: „Er war sicher kein Lamm, dein Vater. Aber ist die Geschichte nicht voll von Männern, die schwere Entscheidungen getroffen haben, um… wie nennst du es… die Welt zu retten?“
Faust sah auf. Ihr unumstößlicher Glaube an den Mann, der sie verlassen hatte, gab ihm Hoffnung … Vielleicht hatte sein Vater einen guten Grund gehabt. Vielleicht war die Wahrheit noch nie erzählt worden…
Lady Helena erhob sich, bevor die Stimmung ins Sentimentale umschlagen konnte.
„Zeit fürs Abendessen“, kündigte sie an. „Vielleicht willst du mir ja nun endlich deine Begleiterin vorstellen, die du so unschicklich in der Empfangshalle hast warten lassen.“
Wenige Minuten später saßen sie zusammen mit Winter um den großen Tisch im Esssaal. Fausts Mutter schien eine diabolische Freude am Herumscheuchen von Dienstpersonal entwickelt zu haben – offenbar hatte sie vergessen, dass sie einst selbst zur Dienerschaft dieses Hauses gezählt hatte – und Winter kam aus dem schwärmerischen Beschreiben von Möbeln und Kunstgegenständen gar nicht mehr heraus. Der Umstand, dass die beiden Frauen sich offenkundig prächtig verstanden, verursachte leichtes Magengrummeln bei Faust. Und das grüne, schwabbelige und vermutlich sündhaft teure Ding, das in seiner Suppe schwamm, machte die Sache nicht besser.
„Denkst du nicht auch, Desmond?“
Faust fuhr zusammen.
„Hm? Ich war gerade zu beschäftigt mit dem grünen schwabbeligen Ding in meiner Suppe.“
„Naganiere“, erklärte Lady Helena unbeeindruckt. „Winter erzählte mir gerade, dass du kürzlich den Bund für Leben geschlossen hast. Es kam dir nicht zufällig in den Sinn, dass ich mich freuen würde, meine Schwiegertochter kennenzulernen?"
Er warf Winter einen bitterbösen Blick zu, den seine Gefährtin mit einem koketten Grinsen erwiderte.
„Ich bin nicht verheiratet“, knurrte er. „Wenn ich jedes Mal ein Gelübde abgelegt hätte, wenn eine Scheiß-Welle über meinem Kopf zusammengebrochen wäre, dann wäre ich schon in Ehefrauen ertrunken. Es war ein Versehen – ein missverstandenes Inselvolk-Ritual, weiter nichts.“
„Du hast also unfreiwillig geheiratet.“
Irgendwie brachte sie es fertig, alles als lächerlich hinzustellen, was er sagte.
„Was ist mit Euch?“, wandte sie sich an Winter. „Seid Ihr vergeben?“
Winter dachte fieberhaft nach. Offenbar wurde ihr gerade bewusst, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was mit dem Piratenkapitän geschehen war, den sie sich zuletzt geangelt hatte.
Schließlich entschied sie sich für: „Ich denke nicht. Mein letzter Ehemann kam vermutlich während der Zauberpest ums Leben.“
„Der letzte? Dann war er nicht der erste? Was ist mit den anderen passiert?“
Jetzt war es an Faust zu grinsen.
„Mein… äh… mein vorletzter Ehemann kam ebenfalls ums Leben.“
„Oh“, sagte Lady Helena amüsiert. „Hörst du das, Desmond. Wenn du das nächste Mal unfreiwillig heiratest, solltest du Acht geben, dass Winter nicht deine Braut ist.“
„Das werde ich, keine Sorge.“
„Dann lasst uns anstoßen.“ Sie erhob ihr Glas. „Auf tote und unerwünschte Ehegatten!“
Grimwardt
Abtei des Schwertes, am nächsten Morgen.
Keuchend hielt sich Sir Silas mit dem Eisenhandschuh an der Umzäumung des Übungsplatzes fest und Grimwardt konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie sich die Lippen des Verwundeten im stummen Gebet bewegten. Während Grimwardt zum nächsten Hieb ansetzte, sammelte der Ritter noch einmal all seine Kraft und stieß sich mit einem Kapfesruf von der Umzäumung ab. Er bewegte sich schnell und sein Schwerthieb war auf die ungeschützte Armhöhle des heranstürmenden Gegners gezielt. Doch in diesem Moment trafen sich die ersten Sonnenstrahlen im Eisenblatt der erhobenen Streitaxt des Kriegspriesters. Geblendet verfehlte Sir Silas seinen Gegner. Beinahe im selben Augenblick krachte Grimwardts Streitaxt gegen seinen Schwertarm und brach ihm den Unterarm. Seine Waffe fiel klirrend in den Staub. Im nächsten Moment ließ ein Kniehieb in die Magengrube den Ritter zusammenbrechen.
„Ich… erkenne Euren Sieg an“, winselte der Besiegte mit schmerzverzerrter Grimasse. „Tempus hat entschieden: Ihr seid… Priestergeneral der… Abtei.“
Grimwardt beugte sich mit einem zufriedenen Grummeln zu ihm herab und legte ihm die Hand auf den gebrochenen Arm, um den Bruch zu heilen. Dann half er dem Besiegten auf die Füße. Sein Blick glitt zu einem der Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes, doch Lady Zia, die den Kampf aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, war verschwunden.
Lass dich hier bloß nie wieder blicken, dachte der Priester düster.
Dann fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Wieso war es so still? Die Kunde vom Zweikampf zwischen dem alten und dem neuen Priestergeneral hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und niemand in der Abtei schien an diesem diesigen Frühlingsmorgen etwas Besseres zu tun zu haben als um den Übungsplatz herumzustehen und die Kämpfenden zu begaffen. So sehr sich Grimwardt auch über die lasche Arbeitsmoral ärgerte, die sich unter Sir Silas’ Leitung in den Abteialltag geschlichen hatte, so seltsam erschien es ihm doch, dass der lästige Applaus, der für gewöhnlich auf ein Duell folgte, ausblieb. Und das Licht! War das wirklich die aufgehende Morgensonne, die so hell erstrahlte, dass sie alle Umstehenden blendete?
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und einer nach dem anderen fiel auf die Knie. Sir Silas war der erste, der, den Blick auf etwas hinter Grimwardt gerichtet, einen heißeren Schrei ausstieß und dann zu Boden sank, und alle anderen taten es ihm gleich, bis Grimwardt der einzige war, der noch stand. Selbst Faust, der das Bein für gewöhnlich vor nichts und niemandem neigte, sank – wenn auch nicht ganz freiwillig, wie es Grimwardt schien – in eine tiefe Reverenz.
Der Priester wandte sich um: Die Gestalt bewegte sich schweren, metallenen Schrittes von Norden her auf die Abtei zu. Nichts in ihrem Weg, weder die Bäume noch die Wehrmauer, konnte ihren Trott bremsen – selbst der Wald und die Steine wichen voller Ehrfurcht vor ihr zurück. Sogar die Gesetze der Perspektive schienen für sie nicht zu gelten, denn sie wurde kleiner statt größer, je näher sie kam: Als sie am Waldrand auftauchte, überragte sie noch die Baumwipfel, doch als sie schließlich ihr Schild neben Grimwardt in den Boden rammte, befanden sie sich auf Augenhöhe. Der schwer gepanzerte Kämpe riss sich den Helm vom Kopf: Eine dichte, schwarze Mähne fiel auf seine Schultern hinab und umrahmte ein Gesicht, das so von Narben entstellt war, dass es der Kraterlandschaft von Kriegersruh glich. Und aus dieser Kraterlandschaft blickten zwei stahlblaue Augen geradewegs in Grimwardts Seele.
Sein Herzschlag setzte aus und er verlor den Boden unter den Füßen.
Er hat den Helm abgenommen! Er hat mich in sein Gesicht blicken lassen!
„Erhebe dich, Grimwardt Fedaykin.“
Seine Beine gehorchten, während er noch in einem Rausch aus Ehrfurcht und banger Erwartung gefangen war.
„Grimwardt Fedaykin“, sagte Tempus mit einer Stimme, die schon ganze Landstriche zerklüftet hatte. „Du bist der treuste und mächtigste meiner Diener, die derzeit auf Faerûn wandeln. Die Welt hat sich verändert in den Jahren, in denen du im Strom der Zeit gefangen warst. Die Zuversicht in die Götter schwindet seit Mytras Tod. Die Auserwählten der Götter, ob gut oder böse, haben diese Welt verlassen. Die Zeit ist gekommen für neue Helden, um die Geschichte Faeruns zu formen. Du wirst einer dieser Helden sein. Ich will dich zu meinem Auserwählten machen und einen Teil meiner Göttlichkeit auf dich übertragen. Doch mein Geschenk kann auch zum Fluch werden. Mein Ruhm wird deiner sein, doch sollte ich vernichtet werden, so wirst du mit mir fallen und das Schicksal der Sieben Schwestern teilen. Ich frage dich darum: Grimwardt Fedaykin, Priestergeneral der Abtei des Schwertes, bist du bereit mein Gesandter auf Erden sein, sodass deine Entscheidungen zu meinen werden, dein Ruhm zu meinem und deine Niederlagen zu meinen?“
Wenn ich in diesem Moment sterben würde, ich würde es nicht einmal merken, war der einzige Gedanke, zu dem Grimwardt fähig war.
Doch er sagte mit fester Stimme: „Ja, Herr, ich bin bereit. Und ich werde Euch nicht enttäuschen.“
„So sei es.“
Tempus legte ihm die Hand auf die Schulter und Grimwardt spürte, wie die Berührung sein ganzes Wesen erfüllte und etwas Göttliches von ihm Besitz ergriff, das ihn auf alle Zeit mit dem Gott verband. Er keuchte auf.
Als er die Augen öffnete, war Tempus verschwunden. Kein Lüftchen rührte sich und niemand regte sich. Starre, ehrfurchtsvolle Blicke waren auf Grimwardt gerichtet.
„Aber…“, durchbrach in diesem Moment Fausts irritierter Einspruch die Stille. „Ich bin der Auserwählte!“
Das löste die Anspannung. Irgendwer verpasste dem Querkopf einen Schlag in die Rippen und tosender Jubel brandete auf.
„Was kniet ihr hier alle im Staub?“, knurrte Grimwardt, als der Rummel sich ein wenig gelegt hatte. „Los, zurück an die Arbeit, aber plötzlich!“