Kapitel III: Die Pestberührten
Grimwardt
Narbental, Talländer.
Ein rotes Glühen lag über der Hafenstadt am Drachengriff. Rauchschwaden krochen schleichend durch die Gassen und überall erklangen die panischen Rufe der Fliehenden. Der Rauch wurde dichter, je näher die Gefährten dem Wasser kamen und das Atmen fiel zunehmend schwer. Grimwardt wies die Jüngeren an, die Stadtwache bei den Bergungs- und Löscharbeiten zu unterstützen. Den Rest belegte Winter mit einem Flugzauber.
Am Hafen erwartete sie ein Bild der Verwüstung. Die Handelsschiffe, die in der Hafenbucht vor Anker lagen, brannten ebenso lichterloh wie die Lagerhallen und Wirtshäuser, die sich um den Hafen drängten, und der flackernde Feuerschein erhellte den eigenartigen Kampf, der sich im Zentrum der Bucht abspielte: Flankiert von zwei schlanken Militärschiffen in Gefechtsstellung, harrte ein klobiges Gebilde im Wasser, das Grimwardt erst auf den zweiten Blick als das Wrack der Sturmhexe erkannte: Eine dicke Kruste aus Korallen und blau schimmernden Polypen zog sich über den Rumpf des Schiffes, die Masten und sogar die Überreste der Segel. Das Piratenschiff erweckte den Anschein, als sei es gesunken und habe jahrzehntelang auf dem Grund des Meeres gelegen, ehe es von einer übernatürlichen Kraft an die Oberfläche zurückgezerrt worden sei. Und es schien zu leben! Dort, wo die Geschosse der beiden Karacken die Bordwand durchdrangen, trat schwarzer Schleim wie Blut aus dem Rumpf des Schiffes, das sich mit Galionsstößen und Masthieben gegen die Angriffe der Hafenwache wehrte. Dabei ächzte und knurrte das Piratenschiff wie ein verwundetes Tier.
Winter zückte ihren Zauberstecken und schleuderte einen grünen Auflösungsstrahl auf das Ungetüm. Doch der zerstörerische Strahl zerbarst beim Auftreffen auf das blaue Leuchten des Korallenpanzers. Ein magischer Rückstoß traf eines der beiden anderen Schiffe und der Kampfeslärm wurde überlagert vom Getöse berstenden Holzes und den Schreien der Matrosen, die sich in Panik von dem sinkenden Schiff stürzten.
„Zauberleuchten“, murmelte Faust betroffen.
Offenbar waren Joe und seine Piraten der Zauberpest ein wenig zu nah gekommen. Unbändige Magie musste die Verwandlung bewirkt und Winters Strahl abgelenkt haben. Grimwardts Schwester kniff düster die Lippen zusammen und flog näher ans Geschehen heran, einen weiteren Zauberspruch bereits auf den Lippen. Grimwardt war für einen Augenblick zu fassungslos, um sie aufzuhalten. Was hatte sie vor? Hatte ihre Magie nicht gerade erst ein Schiff der Hafenwache versenkt? Winter kannte die Gefahren unbändiger Magie!
„Grim!“
Faust wies auf einen der Uferdämme, wo Grimwardt die Verursacher des Hafenbrandes entdeckte: Die Seehexe Sycorax, ebenso pestverwandelt wie das Schiff, schwebte hoch über der Verwüstung und blies magischen Wind über die entflammten Hafengebäude in Richtung Stadtmitte. Ihre Augen waren hohle Löscher in einem entstellten Korallengesicht. Auf dem Kai unter ihr tobte ein wüster Kampf zwischen dem Rest der Piratenmannschaft und den Soldaten der Stadtwache. Die Piraten waren in der Unterzahl, doch dem Grauen, das die wahnwitzigen Gestalten in den Verteidigern entfachten, hatten die Soldaten nichts entgegen zu setzen.
Faust enthauptete die Seehexe mit einem einzigen Schlag seiner Henkersklinge, ehe er sich Joe vornahm, der wild und wirr mit seiner Hakenhand um sich schlug. Grimwardt hielt derweil auf zwei Pestberührte mit unnatürlich vergrößerten Mäulern mit zwei Reihen messerscharfer Zähne zu: die Werhai-Zwillinge Ray und Roy. Sie kämpften wie im Wahn, ohne Koordination und Taktik, und nur die Korallenpanzer verhinderten, dass sie gleich beim ersten Schlag zu Boden gingen. Doch selbst als abzusehen war, dass er seinen Gegnern überlegen war, machten sie keine Anstalten sich zurückzuziehen. Plötzlich jedoch, wie auf ein geheimes Zeichen hin, hielten sie inne. Der Priester setzte den Werhaien nach, als sie über einen Anlegesteg zu fliehen drohten, doch sie retteten sich mit einem Sprung ins Wasser. Als er am Ende des Stegs innehielt, erkannte Grimwardt, woher der stumme Befehl gekommen war: Die Sturmhexe hatte begonnen sich in schwerfälligen Kreisen um die eigene Achse zu drehen. Die Bewegung ließ konzentrische Wellenringe durch die Hafenbucht zittern, die das Wasser zu den Dämmen abdrängten. Immer schneller grub sich das unförmige Schiff in die Tiefe, immer schräger ritt es auf den Wellen des Strudels, der nun auch die unversehrte Militärkaracke ergriffen hatte. Winter feuerte unablässig Zauber um Zauber auf den Schlund ab, der sich unter ihr auftat. Doch der Malstrom zog die beiden Schiffe in die Tiefe und die Wellen fluteten die Uferdämme und sogen alles und jeden ins Meer, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Grimwardt selbst blieb dank des Flugzaubers von den Wassermassen verschont.
„Magie?“, fragte er, als Winter schwebend neben ihm auftauchte. Sie nickte.
Der Priester brummte nachdenklich in seinen Bart hinein. Wenn ein mächtiger Meereszauber die Flucht der Sturmhexe ermöglicht hatte, wer hatte ihn gewirkt? Das Schiff selbst? Was hatte das zu bedeuten? War das Korallenschiff eine Art monströses Meerungeheuer mit eigenem Willen? Konnte die Zauberpest solch weitreichende Veränderungen bewirken?
Sie kehrten fliegend zu Faust und Miu zurück. Der Kämpfer harrte im hüfttiefen Wasser der sich zurückziehenden Flut. Mit einer Hand umklammerte er einen Vertäuungsring, um nicht von der Strömung davon getrieben zu werden, mit der anderen hielt er den Haarschopf des bewusstlosen Piratenkapitäns über Wasser, den es wie einen nassen Sack zum Meer hinzog.
„Die Verwandlung ist unheilbar“, rief er ihnen entgegen. „Miu hat es versucht.“
„Erledige ihn“, sagte Winter. Ihre Stimme klang matt und erschöpft, doch ohne Bedauern.
Zwiespalt schnitt sirrend durch die Luft.
„Seht mal.“
Winter wies auf den abgetrennten Kopf in Fausts Griff: Mit dem Tod begannen sich die Pestbeulen zurückzubilden, die sein Gesicht in eine Korallenbank verwandelt hatten. Winter beeilte sich den davon treibenden Körper aus dem Wasser zu fischen und mit Fausts Hilfe auf einen der höher gelegenen Dämme zu hieven. Dann zückte sie Schreibfeder und einen Papierbogen und begann die drei eintätowierten Schatzkarten, die auf dem verstümmelten Leichnam sichtbar wurden, auf das Papier zu übertragen. Grimwardt wandte sich schaudernd ab.
„Grimwardt Fedaykin?“
Er hob den Kopf. Aus einer Traube von Wachsoldaten, die mit der Versorgung ihrer Verwundeten und der Bergung der Brand- und Flutopfer beschäftigt waren, hatte sich eine Axtkämpferin gelöst. Das göttliche Symbol auf ihrem Brustharnisch wies sie als Dienerin des Tempus aus.
„Ihr seid es wirklich! Der Erwählte des Tempus!“ Sie riss sich den Schutzhelm vom Kopf, unter dem ein Haarmopp wüster, meersalzverklebter Stoppeln hervorquoll, und sank in eine tiefe Reverenz. „Bitte, Herr, mein Name ist Ulara Axtheft Ich bin die Kaplanin von Narbental-Stadt. Wenn Ihr mir den Segen des Feindhammers erteilen würdet…“
„Gewiss...“ Grimwardt räusperte sich und sprach die rituellen Segensworte über das gebeugte Haupt der Kaplanin. Dem Segen ließ er eine Heilwelle folgen, die alle Überlebenden des Piratenangriffs ergriff, denn der Priester hatte die Erfahrung gemacht, dass die schlichte Erfahrung einer versiegenden Wunde inspirierender war als die Rede des eloquentesten Predigers.
Nachdem er seinen missionarischen Beitrag für diesen Tag geleistet hatte, ließ sich Grimwardt von der Kaplanin zum Fürsten der Stadt Narbental führen. Sie fanden Sir Myrian Buchenwald in einer der Seitengassen, die von der Hafenpromenade abzweigten. Die Flutwelle hatte die Brände in unmittelbarer Nähe zur Bucht gelöscht, doch noch immer standen zahlreiche höher gelegene Hafengebäude in Flammen. Der stämmige Ritter mit dem grausen weißen Haar koordinierte die Löscharbeiten und scheute sich nicht, selbst am Tatkräftigsten mit anzupacken. Der alte Fürst warf nur einen kurzen Blick auf Grimwardt, ehe er ihm mit einer schroffen Handbewegung einen Platz in der Löschlinie zuwies und einen Eimer zum Weiterreichen in die Hand drückte. Grimwardt schmunzelte: Der Mann gefiel ihm.
„Die verschollenen Helden“, rief ihm der alte Haudegen über den Lärm der Löscharbeiten hinweg zu. „Was verschafft uns die Ehre?“
„Der Zufall“, erwiderte Grimwardt. „Wir waren auf Mission in der Anauroch. Die Piraten wüten im Auftrag der Umbranten. Wir fanden einen Brief, der das belegt.“
„Die Umbranten!“, knurrte der Ritter. „Dachte ich es mir doch, dass Netheril dahinter steckt. Das war nicht der erste Angriff der Pestberührten, aber bei weitem der verheerendste. Zum ersten Mal wurde die Stadt selbst angegriffen. Bisher haben diese Halunken sich auf unsere Handelsschiffe beschränkt: eine Drohgebärde, wie mir scheinen will… Telamont zieht die Schlinge der Furcht enger.“
„Wieso Narbental?“, fragte der Kriegspriester. „Wenn Telamont es auf die Talländer abgesehen hat, wieso wählt er das Fürstentum aus, welches am weitesten von der Anauroch entfernt ist?“
Myrian Buchenwald lachte hart und bitter.
„Nun, was glaubt Ihr, Grimwardt Fedaykin vom Schlachtental? Weil wir das schwächste Glied der Kette sind – gebeutelt und von allen geächtet. Und noch dazu haben wir den größten Seehafen der Täler.“ Myrians Vorgänger Lashan hatte vor dreißig Jahren den gewaltsamen Versuch unternommen, die Talländer unter der Vorherrschaft Narbentals zu vereinen. Lashan hatte den Krieg verloren, doch in dessen Wirren war das Land von den Zhentarim besetzt worden, die der Fürst als Söldner angeheuert hatte. Es war Sir Myrian gewesen, der Narbental mit Hilfstruppen aus den übrigen Tälern von den Zhent-Besatzern zurückerobert hatte. Doch der Preis für die Unterstützung ihrer Nachbarn war hoch gewesen: Nach dem Befreiungskrieg hatten die Fürsten der übrigen Talländer das Fürstentum besetzt und aus Vergeltung für die erlittenen Verluste im Lashan-Krieg kaum weniger ausgebeutet als die Zhentarim vor ihnen. Seit einigen Jahren war Narbental wieder unabhängig, doch die langen Jahre der Fremdherrschaft hatten das Land an den Rand des Ruins gebracht.
„Telamont versucht, sich unsere wirtschaftliche Notlage zunutze zu machen“, erklärte Myrian. „Er lockt uns mit Handelsabkommen, um unseren Markt in Netherils Abhängigkeit zu zwingen. Das Imperium ist so verdammt reich, dass er uns den Himmel auf Erden versprechen kann. Schließlich hatte Netheril zehn Jahre lang das Monopol auf alle arkanen Produktionsgüter in Faerûn. Und ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt, Telamonats Einflüsterungen zu widerstehen – erst recht nach diesen Angriff: Zwei ausländische Handelsfaktoreien sind vollständig abgebrannt, alle Güter futsch – das vertreibt uns unsere besten Investoren. Von unseren eigenen Verlusten ganz zu schweigen. Und ich habe meine Popularität beim Volk eingebüßt: Die Menschen sind die Zeit des Krieges und der Not überdrüssig und Netheril verspricht Frieden und Wohlstand.“
„Dann sind wir also zu spät gekommen“, brummte Grimwardt. „Wie können wir helfen?“
„Uns kann nur der Rat der Talländer helfen“, erwiderte der alte Fürst. „Ohne die Unterstützung der anderen Täler wird sich Narbental Netheril zuwenden. Ich kann nur hoffen, dass die Fürsten die Gefahr erkennen und das Kriegsbeil gegen uns begraben werden. Aber wenn ihr tatsächlich erpicht darauf sein solltet, einem Land zu helfen, dessen Geldspeicher so abgebrannt sind wie diese Spelunke hier, dann knöpft Euch dieses Piratenpack vor! Das letzte, was wir gebrauchen können, ist die Zauberpest in unserer Stadt!“
„Dann sind diese… Pestberührten also ansteckend?“
„Die Pestberührten nicht, nur das Zauberleuchten, wenn man in direkten Kontakt damit kommt.“
„Wer befehligt das Schiff?“, wunderte sich Grimwardt. „Die Pestberührten sind sosehr dem Wahn verfallen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sie sich um Kaperbriefe und Loyalitäten scheren.“
Sir Myrian zuckte mit den Achseln. „So wie sie heute gewütet haben, könnte man meinen, Umberlee selbst gebe die Befehle.“
Faust
Am nächsten Morgen in der Vorstadt von Narbental.
Nirgendwo war Narbentals Not so offenkundig wie in den Armenvierteln vor den Toren der Stadt. Dicht an dicht drängten sich hier heruntergekommene Lehmhütten neben kümmerlichen Viehställen und vom Ufer des Flusses drang beißender Fäkaliengestank.
„Hier wohnt Eure Schwester…?“ Befremdet stakste Laguna durch den Unrat. „Erwähnte Winter nicht, dass Eure Familie wohlhabend sei?“
„Meine Familie ist… kompliziert“, murmelte Faust, während er nach dem Wirtshaus Zum Springenden Fisch Ausschau hielt. Ulara Axtheft hatte ihm geraten, in der Söldnerabsteige nach seiner Schwester zu suchen. „Wenn Ihr Claire findet, dann richtet Ihr aus, dass sie gefeuert ist“, hatte die Kaplanin grantig hinzugefügt. „Das ist schon das dritte Mal, dass sie zu einer Wachschicht nicht erschienen ist!“
Nun, da er sah, wie Claire lebte, wurde ihm flau Magen, und er bereute es, Laguna mitgenommen zu haben. Er mochte den tatendurstigen, jungen Sandkämpfer, doch wer wusste schon, in welchem Zustand er seine Schwester hier vorfinden würde. Er warf Laguna einen Seitenblick zu, um festzustellen, ob seine Bemerkung vorwurfsvoll gemeint war, doch der Junge schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Faust ahnte, was der melancholische Zug um seine Augen zu bedeuten hatte.
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und Scarlet?“, fragte er beiläufig.
„Hm?“ Laguna hob irritiert den Kopf und wandte ihn dann eilig wieder auf seine Stiefel, als er Fausts forschen Blick auffing. „Scarlet war nicht immer so… distanziert“, erklärte er dem Schlamm zu seinen Füßen. „Es ist diese Sache mit den Sandfürsten. Sie nimmt das alles so unglaublich ernst, dass sie darüber vergisst, wer ihre wahren Freunde sind… Für den Kampf gegen die Umbranten hat sie sich völlig den Wertvorstellungen der Sandleute verschrieben. Sie hat sogar aufgehört, ihre magischen Fähigkeiten anzuwenden, weil die Bedinen sie für Teufelswerk halten.“
„Was für magische Fähigkeiten?“
„Warum kann ich nicht einfach die Klappe halten!“, Laguna biss sich auf die Unterlippe. „Sagt ihr bloß nicht, dass ich euch davon erzählt habe!… Sie hat Zauberkräfte, doch sie muss keine Formeln oder Gesten dafür anwenden. Es sind auch keine eigentlichen Zauber, sie nannte es einmal… rohe magische Energie. Die Sandleute jedenfalls behaupten, dass das ein Zeichen für eine teuflische oder dämonische Blutlinie sei.“
Faust runzelte die Stirn. „Das ist blanker Schwachsinn! Vermutlich hat sie diese Kräfte, weil sie von zwei herausragenden Hexenmeistern abstammt. Da wäre es fast verwunderlich, wenn sie keinerlei magisches Talent zeigte.“
„Ich weiß“, seufzte Laguna.
Faust klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Die bekommen wir schon wieder hin!“
Sie waren im Söldnerviertel angelangt. Vor dem Springenden Fisch musste Faust dem Inhalt eines Nachttopfs ausweichen, den eine alte Frau mit griesgrämiger Miene über das Gelände einer Seitentreppe kippte.
„Hey, pass doch auf!“, rief er zu ihr hoch. „Weißt du, wo wir eine gewisse Claire MacLancastor finden?“
„Ich hab‘ ihr doch gesagt, dass Männerbesuche tabu sind!“, geiferte die Alte. „Na was soll’s, wo ihr schon mal hier seid, könnt ihr dem Luder auch sagen, dass sie mir noch zwei Monatsmieten schuldet!“
Seufzend bezahlte Faust die ausstehende Miete und ließ sich von der Gastwirtin das Zimmer zeigen. Er musste dreimal klopfen, ehe er hinter der Tür schlurfende Schritte vernahm. Die Tür wurde einen Fingerbreit geöffnet.
„Na sag schon, wie viel schulde ich dir?“, klang eine schlaftrunkene Stimme von der anderen Seite.
„Öhm… vielleicht eine Umarmung?“, schlug er vor.
Quietschend vergrößerte sich der Spalt. Einen Augenblick musterte Claire ihn misstrauisch aus zusammen gekniffenen, rotgeränderten Augen. Dann schien ihr Morgenkater mit einem Schlag geheilt.
„Scheiße…. Desmond?!“
„Ich fasse das mal als Ausdruck deiner Freude auf.“
Nachdem sich die Geschwister in die Arme geschlossen hatten, trat Faust zurück, um seine Schwester genauer zu betrachten. Zuletzt hatte er Claire gesehen, als sie ein kleiner Wildfang von zehn Jahren gewesen war, doch die Frau, die ihm nun gegenüber stand, war so alt wie er selbst. Sie hatte Helenas hochgewachsene Figur, doch mit den kantigen Gesichtszügen und den sehnigen, braungebrannten Oberarmen haftete ihr mehr von der derben Raubeinigkeit eines Seemanns an. Sie hielt einen Dolch gezückt, der vermuten ließ, dass sie wenig gute Erfahrung mit frühmorgendlichen Besuchern gemacht hatte. Lagunas höfische Verbeugung quittierte sie mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln.
„Wofür hältst du mich, Kleiner?“ Dann wies sie mit einer fahrigen Geste auf das heillose Durcheinander ihres kleinen Mietzimmers. „Setzt euch.“
Faust und Laguna wechselten ein vielsagendes Stirnrunzeln: Zwischen all dem Schrott – den zerbeulten Töpfen, fadenscheinigen Kleidungsstücken, rostigen Waffen und zerfledderten Büchern – hätte nicht einmal ein ausgehungerter Halbling Platz gefunden, ohne sich einen rostigen Nagel in den Hintern zu rammen. Dennoch war Faust erleichtert: Claire schien weniger in Armut als im Chaos zu versinken – ein Familienleiden. Außerdem sah sie aus, als könne sie ein kräftigendes Frühstück vertragen.
„Lass uns ein Gasthaus suchen… Ich lad‘ dich ein.“
„Wie könnte ich da nein sagen?“
Claire füllte eine Waschschüssel, um sich prustend das kühle Nass ins übernächtigte Gesicht zu spritzen. Dann zog sie sich ungeniert vor den Augen der beiden Männer um, was Laguna die Schamröte ins Gesicht trieb.
„Wir sind auf dem Weg hierher der Gastwirtin begegnet“, erklärte Faust, der sich lässig gegen den Türrahmen lehnte. „Ich hab‘ deine Mietzahlungen übernommen.“
„Ich brauche keine Almosen, Desmond“, brummte Claire, während sie sich das nasse Haar trocken rieb.
„Sicher?“ erwiderte Faust mit einem Schmunzeln. „Die Kaplanin lässt ausrichten, dass du gefeuert bist. Du warst heute Nacht nicht da, als die Stadt angegriffen wurde.“
„Die Stadt wurde angegriffen?“ Seine Schwester hielt in der Bewegung inne. Doch dann zuckte sie flapsig mit den Schultern und fuhr mit dem Rubbeln fort. „Muss ich verschlafen haben.“
„Du hast verpennt, wie die halbe Stadt abgebrannt ist? Respekt! Das Zeug muss ich mir auch besorgen.“
„Was soll‘s! Ich bin noch immer über die Runden gekommen. Dann heuere ich eben auf einem der Handelsschiffe an oder versuche mich als Magiergehilfin. Hab‘ das Söldnerdasein ohnehin satt.“
Vielseitigkeit lag offenbar in der Familie.
„Es ist also wahr.“ Claire wandte sich zu Faust um und musterte ihn mit einem schiefen Lächeln. „Der große Held, der in Myth Drannor den Teufelsfürsten besiegte, ist nach zwölf Jahren aus der Versenkung getaucht. Weiß Mutter, dass… naja, dass sie den Grabstein wieder ausbuddeln kann?“
„Ich war bei ihr. Aber ich bezweifle, dass sie mir einen Grabstein gewidmet hat. Sie ist nicht gerade in Jubelstürme ausgebrochen.“
„Sie ist Amok gelaufen, nachdem ihr heißgeliebter Erstgeborener damals aus Rabenklippe verschwand…. Du bist wirklich ein Ork, Desmond!“ Claires derbes Lachen klang aufgesetzt, so als wolle sie damit ihre Unsicherheit kaschieren. Die Rückkehr ihres berühmten Bruders schien die flatterhafte Söldnerin in Verlegenheit zu bringen. „Du hättest sehen sollen, wie sie zum Orden lief und diesen Kelemvor-Priester zur Sau gemacht hat: Stell dir die Kollision zweier Eisberge vor, dann hast du eine ungefähre Vorstellung. Aber sie würde sich eher die Zunge rausreißen, als dir das auf die Nase zu binden, nachdem sie aus Heldengesängen erfahren durfte, dass du noch lebst! Naja, nicht dass ich es nicht nachvollziehen könnte… Scheiße, war ich froh, als ich alt genug war, diesem Tollhaus den Rücken zu kehren.“ Sie spuckte zur Bekräftigung in die Waschschüssel und blickte in die Runde. „Können wir gehen?“
Grimwardt
Kurz darauf im „Roten Reiher“.
Da der Rote Reiher eines der wenigen Gasthäuser war, die vom Feuer und der Flut verschont geblieben waren, war es hier an diesem Morgen proppenvoll. Zum Ärgernis des Wirtes, der sich bei diesem Ansturm bereits die Hände gerieben haben musste, hatte Grimwardt ein Heldenmahl erbetet, das die halbe Stadt verköstigt hätte. Mit Winter und Miu hatte er einen kleinen Fenstertisch ergattert, den sie Faust und seinen beiden Begleitern überließen, als diese im Gasthaus eintrafen. Scarlet und der junge Bedine waren noch nicht zu ihnen gestoßen. Während Fausts Schwester Claire kräftig zulangte, stand Grimwardt am Fenster und betrachtete skeptisch die drei Schatzkarten, die seine Schwester von der Leiche des toten Piratenkapitäns abgezeichnet hatte.
Die erste Karte zeigte einen Ausschnitt der Südküste Tays. Ein paar Seemeilen südlich der Hafenstadt Escalant war eine Insel markiert. Neben die Zeichnung hatte Winter zwei Verse gekritzelt: „In der Nacht, da Nhalloth im Meer versank/ Küsste Himmelsmund das Meergesicht.“ Die zweite Zeichnung war eine Nahansicht der Insel aus der ersten: Demnach wurde der größte Teil des Eilands von den Ruinen einer alten Stadt eingenommen. Auch auf dieser Karte war ein Kreuz: Es markierte eine Stelle im Hof einer Gebäuderuine im Stadtkern. Um den Rand jener zweiten Karte wanden sich die Worte: „Nur wer falsch herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth“ und eine Anmerkung Winters wies darauf hin, dass diese Verse im Original in Spiegelschrift verfasst waren. Die dritte Karte schließlich beschrieb den Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu einer Schatzkammer.
Grimwardt begriff nicht, was sich seine Schwester von diesen Karten versprach. Welches Ogerhirn ließ sich das Geheimnis um einen versunkenen Schatz auf den eigenen Leib tätowieren? Die einzige Erklärung, die Grimwardt dafür einfiel, war die, welche Joe selbst ihnen geliefert hatte: Die Karten waren ein schlechter Scherz, ein morbides Augenzwinkern, das an denjenigen adressiert war, dem die Leiche des Piraten in die Hände fiel. Allenfalls würde an dem Ort, der dort beschrieben war, eine Falle auf sie warten, aber gewiss kein Schatz! Und selbst wenn doch, war das ihrer Mission im Dienste Narbentals wenig dienlich, denn bei allem Irrsinn war die Mannschaft der Sturmhexe sicher nicht so hirnrissig, sich an einen Ort zurückzuziehen, zu dem der tote Leib ihres Kapitäns die Wegbeschreibung lieferte! Oder vielleicht doch? Spekulierten sie darauf, dass ein offensichtliches Geheimnis ihre Gegner zu genau dieser Schlussfolgerung führen würde? Andererseits war eines nicht von der Hand zu weisen: Die Tätowierungen waren im Moment ihr einziger Hinweis auf die Sturmhexe, denn die magische Ortung sowohl des Schiffes als auch der verbliebenen Mannschaft war erfolglos geblieben: Das Zauberleuchten lenkte jeden Zauber ab, der auf die Pestberührten traf.
„Nhalloth“, murmelte Grimwardt. „Was soll das sein? Ein Ort? Ein versunkenes Schiff? Wenn es sich dabei um die Stadt auf der Karte handelt, sollte sich leicht feststellen lassen, ob sie auf der markierten Insel liegt.“
„Wenn sich die Insel so einfach finden ließe“, wandte Winter ein. „Ich habe gestern Abend versucht, zu dem Ort auf der Karte zu teleportieren, doch der Zauber ist fehlgeschlagen.“
„Ein magischer Schutzschild?“
„Ich bin mir nicht sicher. Ich stieß beim Zaubern auf keine Barriere. Es war mehr so, als existiere der Ort gar nicht. Und als ich ein paar Matrosen nach einer Insel bei Escalant fragte, behaupteten sie, es gäbe an der tayanischen Südküste keine Inseln.“
„Vielleicht ist es keine Insel mehr“, klinkte sich Fausts Schwester beiläufig in das Gespräch ein. Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, schluckte sie hastig einen Fleischklops herunter und fügte erklärend hinzu: „Sagtet ihr nicht, die Karte wurde vor der Zauberpest gezeichnet? Der Meeresspiegel ist gesunken, als das Zauberleuchten wütete. Escalant liegt heute meilenweit landeinwärts. Wenn der Ort vorher Teil einer Inselkette vor dem Festland war, kann es doch sein, dass er heute mit der Küste verbunden ist.“
Grimwardt warf Winter einen Blick zu und zog fragend die Brauen hoch.
„Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen“, gab sie zu. Dann nahm sie ihrem Bruder die Zeichnung aus der Hand und reichte sie an Claire weiter. „Fällt dir sonst noch etwas dazu ein?“
Claire warf nur einen kurzen Blick auf die Karte, ehe sie den Kopf schüttelte.
„Meine Vermutung kann nicht stimmen. Die Insel ist zu weit vom Festland entfernt und das Meer ist dort zu tief. Deine Matrosen hatten recht, Winter: In dieser Gegend gibt es keine Inseln. Ich kenne die Gewässer; das müsste in der Nähe der Haifischbannmauer sein. Hab‘ vor ein paar Jahren als Gouvernante für einen aglarondesischen Handelsfahrer gearbeitet.“
„Gibt es irgendeinen Beruf, den du noch nicht ausgeübt hast?“, warf Faust scherzend ein.
„Was ist die Haibannmauer?“, hakte Grimwardt nach. Die Welt der Seefahrer war ihm fremd und ein wenig suspekt. Er gehörte zu den Leuten, die überzeugt waren, dass die Götter den Menschen Flossen gegeben hätten, wenn sie gewollt hätten, dass sie sich die Meere Untertan machten.
„Oh, richtig, ihr ward ja die letzten zwölf Jahre…“ Claire blickte hilfesuchend zu Faust.
„…im Zeitstrom gefangen.“
„Richtig… wie auch immer. Die Haibannmauer existiert schon seit langem: Die Seeelfen von Myth Nantor errichteten sie, um ihr Reich gegen die Gewässer ihrer Feinde, der Sahuagin, abzugrenzen. Die Sahuagin brauchen den Druck der Tiefe und können in der Nähe der Wasseroberfläche nicht überleben, darum reichte die Mauer früher nicht über die Oberfläche hinaus. Kaum ein Mensch wusste überhaupt, dass sie existiert. Erst durch das Absinken des Meeresspiegels wurde die Mauer sichtbar und seither trennt sie die Alambersee von der See des Sternregens.“
„Seeelfen, Sahuagin, Myth Nantor…“, murmelte Faust. „Seit wann gehen die Völker der Meere so freizügig mit ihren Geheimnissen um?“
Claire grinste breit und schien im Stillen über ihren Bruder zu triumphieren. „Narbental ist ‘ne Hafenstadt, Desmond! Diese Dinge gehören hier nicht gerade zur Sorte ‚obskures Wissen‘. Jedenfalls nicht, seitdem die Seeelfen die Oberstadt von Myth Nantor zur freien Handelsstadt erklärt haben.“
Verblüffte Blicke. Grimwardt kannte sie sagenumwobene Unterwasserstadt der Seeelfen nur aus Mythen und Albenmärchen. Bis vor einigen Augenblicken hätte er bezweifelt, dass sie tatsächlich existierte… Die Zauberpest hatte tatsächlich die Welt verändert!
„Myth Nantor wurde an die Oberfläche gespült? Dann ist es möglich, dorthin zu gelangen?“
„Ja, viele Händler, Schmuggler und Piraten haben sich dort niedergelassen, weil die Seeelfen keine Zölle erheben und weil der Elfenschutzwall vor feindlicher Ausspähung schützt… Verdammt raues Pflaster, nach allem, was man hört.“
Die Gefährten wechselten einstimmige Blicke. Wenn es die geheimnisvolle Insel tatsächlich gab und wenn sie in der Nähe der Haibannmauer lag, dann mussten die Elfen von Myth Nantor mehr darüber wissen.
„Sieht so aus, als hätten wir ein neues Ziel!“
In diesem Moment erspähte Grimwardt Scarlets roten Lockenkopf. Mit Sayid im Schlepptau bahnte sie sich suchend einen Weg durch das überfüllte Gasthaus. Der Priester hob die Hand, um sie zu sich zu winken. Die beiden Sandkämpfer hatten ihre Ausrüstung angelegt und waren vollständig gerüstet als wollten sie noch in dieser Stunde in den Krieg oder zumindest auf Abenteuer ausziehen.
„Onkel“, begann Scarlet steif, als sie an ihrem Tisch angelangt war. „Wir brechen auf. Für deine Hilfe und die deiner Freunde möchten wir dir danken, auch im Namen Zarifs.“
Winter konnte nicht entgangen sein, dass ihre Tochter sie aus ihren Dankesworten ausschloss. Doch sie ließ sich nichts anmerken, als sie sich erhob: „Ich kann euch ins Lager teleportieren. Lasst mich nur eben…“
„Nein“, sagte Scarlet scharf. „Auf deine schwarze Magie können wir verzichten!“
„Auf meine…?“
Winter blieb die Spucke weg. Selbst Grimwardt erschreckte die kalte Verachtung, mit der Scarlet gesprochen hatte.
„Ziemlich heuchlerisch, deine Haltung, meinst du nicht?“ Faust hielt die Hände provokativ vor der Brust verschränkt und wippte leicht mit dem Stuhl nach hinten.
„Was soll das heißen?“
Faust kniff die Augen zusammen. „Bist du nicht diejenige, die vor ihren Freunden mit ihren Fähigkeiten hinter dem Berg hält, weil die sie für dunkle Magie halten könnten?“
„Was…?“ Vor Schreck wich Scarlet alle Farbe aus den Wangen und sie warf Laguna einen Blick zu, der ein Feuerelementar in Eis verwandelt hätte. „Laguna, wir gehen!“, sagte sie mit eisiger Stimme. Der junge Halbelf schluckte heftig und schien zu erwägen was schwerer wog: die Schmach, wie ein gescholtener Hund vor seiner Herrin den Schwanz einzuziehen, oder das Donnerwetter, das ihn später erwartete.
„Ihr geht nirgendwohin“, sagte Grimwardt bedächtig. „Ich habe Zarif Abu Sayama mein Wort gegeben und werde Sayid nicht aus den Augen lassen, ehe er sicher und wohlbehalten bei seinem Bruder angekommen ist.“
„Ist das ein Befehl?“, fragte Scarlet rebellisch. „Unterstützt Tempus plötzlich die Schergen Shars?“
Für einen Augenblick herrschte Stille.
Dann donnerte Grimwardt, sodass die Fenster zu erzittern schienen: „JA, DAS IST EIN VERDAMMTER BEFEHL!“
Stille.
Eingeschüchtert wandte seine Nichte den Blick zu Boden. Winter fasste ihren Bruder behutsam am Arm.
„Lass sie gehen“, sagte sie resigniert. „Ein Ritt durch die Talländer… was kann da schon passieren?“
Der Kriegspriester sah Scarlet eine Weile düster an, dann grummelte er einen Fluch und entließ sie wie einen Soldaten mit einer wegwerfenden Handbewegung. Unter den sensationslustigen Blicken der Wirtshausgäste verließen die jungen Leute den Schankraum wie drei Geächtete mit hängenden Köpfen und zittrigen Knien. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schüttelte Grimwardt den Arm seiner Schwester ab und wandte den Blick zu Boden.
„Und ist es wahr?“, brummte er mit verhaltener Stimme. „Bist du mit den Sharianern im Bund?“
„Was? Nein!“, rief Winter mit gestelzter Empörung.
Abrupt hob er den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.
„Dann sag mir, warum du in der Wüste deine Magie anwenden konntest!“
„Weil… keine Ahnung, ich…“ Winter schluckte. „Shar hat nichts mit meiner Magie zu tun.“
Er sah keine Lüge in ihren Augen. Oder wollte er sie nicht sehen? Plötzlich tat ihm sein Wutausbruch gegen Scarlet leid. Nicht sie hatte er…
„Wie auch immer“, brummte er. „Wir haben wirklich nicht die Zeit, uns mit diesem Kinderkram aufzuhalten!“
Damit ließ er Winter stehen und stapfte die Treppe zu ihren Quartieren hinauf.
„Scheiße nochmal“, hörte er Claire noch murmeln. „Und ich dachte, unsere Familie wäre verkorkst!“
Winter
Nachts.
Eine kalte Berührung riss Winter aus dem Schlaf. Über ihr schwebte ein Gesicht, das sie aus dunklen Augenhöhlen anglotzte. Joe! Blaue Blitze zuckten über die substanzlose Fratze des Piratenkapitäns, die sich laufend zu verändern schien, bis sie völlig von Pestnarben übersät war. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte, wie der anklagende Blick der Geisteraugen bis in ihre Haarwurzeln fraß, wie er sie lähmte und dann… Eine körperlose Klaue griff nach ihrem Herzen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Grimwardt, der einen Zauber wob. Die Magie stieß den Geist zurück und die lähmende Kälte zog sich aus der Gegend ihres Herzens zurück. Der Piratengeist stieß ein klagendes Kreischen aus, doch er widerstand dem mächtigen Priesterzauber. Eine übernatürliche Kraft presste Winter tiefer in die Kissen und sie spürte wie etwas ihren Kiefer auseinanderbog. Nun schrie sie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht aufhalten: Der Geist schnellte in die Höhe und zerfloss zu weißem Nebel, der sich in ihren aufgerissenen Mund ergoss und ihr die Kontrolle über Körper und Geist entriss.
„Das ist Wahnsinn“, knurrt Ray unbehaglich und seine Stimme hallt gespenstig von den Wänden der Tropfsteinhöhle wider. Leise gleitet das schmale Beiboot mit dem Kapitän und den beiden Werhaizwillingen durch das Höhlenlabyrinth. Nur das rhythmische Plätschern der Ruder ist zu hören. Der Kapitän lässt sich seine Beunruhigung nicht anmerken, doch auch ihm steht der Angstschweiß auf der Stirn. An jeder Wegbiegung muss er sich zusammenreißen, um der Aura des Unheimlichen zu folgen, die ihn tiefer und tiefer ins Herz des Unterreiches führt. Was sie tun, IST Wahnsinn. Niemand, der bei klarem Verstand ist, wagt sich freiwillig ins Reich des Gedankenschinders. Aber Joe ist nicht bei klarem Verstand – er spürt, wie die Krankheit ihn auffrisst. Es reicht ihr nicht, dass sie seinen Körper in Besitz genommen hat: Nun greift sie nach seinem Geist – und er weiß nicht, wie lange er noch er selbst sein wird. Er hat nichts mehr zu verlieren. Doch er muss wenigstens versuchen, seine Mannschaft zu retten.
Schließlich läuft das Boot auf Grund und sie gehen an Land. Vor einer Höhle sind zwei Grimlock-Wachen postiert, die ihnen die Waffen abnehmen. Joe lässt es geschehen. Er hat nicht einmal einen Dolch im Stiefel versteckt. Er könnte ihn nicht schnell genug ziehen; die Kruste, die sich über seinen Körper zieht, hat seine Hände in Krebsscheren verwandelt.
Die Wachen führen ihn und seine beiden Gefährten in ein unterirdisches Zauberlabor. Phosphoreszierende Flüssigkeiten, die zwischen eingelegten Körperteilen und dampfenden Tränken vor sich hin dümpeln, spenden dämmriges Licht. Im hinteren Teil der Höhle, ihnen den Rücken zugekehrt, beugt sich die große, schlanke Gestalt des Illithiden, von Schatten umflossen, über einen aufgeschlagenen Folianten. Die düstere Aura ist hier so stark, dass sie Joe die Kehle zuzuschnüren droht.
Joe. Die telepathische Stimme der Kreatur wird von einem sirrenden Fiepen begleitet, das ihm irrsinnige Kopfschmerzen bereitet. Was verschafft Uns die Ehre?
„Morloch.“ Der Pirat räuspert sich. Trotzdem klingt seine Stimme heiser vor Angst, als er fortfährt. „Meine Mannschaft wurde von der Zauberpest überrascht. Sie hat sogar das Schiff betroffen. Und nun… Ich fürchte, dass das Zauberleuchten langsam den Weg in unsere Gedanken findet. Wenn es stimmt, was man über Euch sagt…. Wenn Ihr über Magie verfügt, die ohne das Gewebe auskommt, dann seid Ihr vielleicht der einzige, der ein Heilmittel kennt.“ Er macht eine Pause. Als die Kreatur noch immer keine Anstalten macht, sich zu ihm umzuwenden, fährt er unsicher fort. „Ich… Ich kann Euch das Geheimnis um die Karten von Nhalloth verraten. Heilt mich und ich gebe Euch den Schlüssel zu den Tätowierungen auf meinem Körper.“
Ohne Hast blättert Moloch mit den drei Tentakeln, die aus seinem Kiefer wachsen, in dem dicken Folianten. Erst als Joe glaubt, es in seiner Gegenwart nicht länger auszuhalten, wendet er sich langsam zu ihm um, doch die obere Hälfte seines Körpers bleibt weiter vom Schatten verdeckt. Kein magisches Wort dringt über seine Lippen, kein Luftflackern kündigt den Zauber an: Plötzlich gehen die Wehaizwillinge zu Boden. Lautlos sacken sie in sich zusammen.
„Bei Umberlee, was…!“
Joe schnellt vor, um dem niederträchtigen Verräter seine Scheren in den Leib zu stoßen, doch ehe er auch nur seine Anschuldigung vorbringen kann, spürt er die Berührung von zwei schleimigen Saugdrüsen an seiner Stirn. Die Augen des Piratenkapitäns erstarren in den Höhlen und seine Glieder erschlaffen. Er wütet gegen die Dunkelheit, die seinen Geist einzunehmen droht, doch er ist zu geschwächt – sein Geist zu zerfressen von der Zauberpest, um den übermächtigen Sog abzuschütteln.
Umberlee ist schon lange nicht mehr Unsere Göttin. Und den Schlüssel zu Nhalloth wirst du Uns so oder so geben, surrt die Stimme, ehe sie ihn verschlingt.
Keuchend sprang Winter aus dem Bett, die Hände bereits zu einer magischen Geste geformt. Doch da waren nur Grimwardt, der das heilige Symbol noch umklammert hielt, mit dem er den Geist vertrieben hatte, und Faust, der mit gezogenem Schwert in ihr Zimmer gestürmt kam.
„Alles in Ordnung?“, brummte Grimwardt.
Sie nickte stumm und ließ sich auf die Bettkante sinken.
„Scheint, als hätten wir ein Problem.“
Sie hob den Kopf. „Warum? Hast du Joes Geist nicht vertrieben?“
„Ich habe nur seine Verbindung zur materiellen Ebene durchtrennt“, sagte der Priester. „Geister können nicht zerstört werden. Meist sind sie gepeinigte Seelen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Sie können die Zwischenwelt, die astrale Ebene, nicht verlassen, um in die Stadt der Seelen einzugehen, solange ihre Erinnerung vom Schock ihres Dahinscheidens vereinnahmt wird. Der einzige Weg, einen Geist zu zerstören, besteht darin, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihm widerfahren ist… oder von dem er glaubt, dass es ihm widerfahren ist.“
Klang da ein versteckter Vorwurf aus Grimwardts Stimme, weil sie keinen Versuch unternommen hatte, ihren Ehemann vor seinem Schicksal zu bewahren?
„Aber nicht wir haben Joes Schicksal zu verschulden“, sagte sie und berichtete von der Vision, die der Geist ihr eingegeben hatte.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Offenbar will Joe dich zum Werkzeug seiner Rache an diesem Morloch machen.“
„Wieso setzt er dann alles daran, mich zu Tode zu erschrecken?“
„Geister denken nicht rational.“
„Jedenfalls erklärt das, wer die Sturmhexe und Joes dem Wahnsinn anheimgefallene Crew befehligt“, klinkte sich Faust in die Unterhaltung ein. „Vermutlich meinte Fürst Xantes den Illithiden, als er schrieb, dass er sich mit dem Kapitän der Sturmhexe getroffen habe. Aber welches Interesse könnte dieser Morloch an den Schatzkarten haben? Joe wäre ein schlechter Pirat, wenn er den Schatz nicht längst selbst eingesackt hätte.“
„Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Nhalloth auf sich hat“, erklärte Grimwardt.
Er und Faust waren bald in eine Diskussion vertieft, die Winter nur halbherzig verfolgte. Ihr Blick hing an ihrem Bruder. Den Bruch mit Scarlet hatte sie erwartet. Vielleicht war es so das Beste: Wenn der einzige Weg ihre Tochter zu beschützen, darin bestand, sie auf Abstand zu halten, dann war der eisige Stich, den sie bei Scarlets unversöhnlichen Worten empfunden hatte, ein geringer Preis. Aber Grimwardt… Es waren nicht seine Worte, die ihr Angst einjagten, sondern die Dinge, die er unausgesprochen ließ. Er wich ihr aus – instinktiv schien er zu spüren, dass sie sich verändert hatte und dass diese Veränderung sie entzweien könnte. Als sie ihre erste Seele getrunken hatte, hatte sie an Desayeus‘ Vision gedacht, die sie verhindern musste. Sie musste ihre kleine Familie zusammenhalten, koste es was es wolle. Aber was, wenn Grimwardt herausfände, was sie war? Würde er sie verstoßen? Würde es… konnte es seinen Glauben zerstören? Würde er für sie seinen Gott verleugnen...?
… und einen neuen wählen, der ihn mit einem schwarzen Schwert durch die Wüste reiten lässt?
Plötzlich zog sich Winters Herz zusammen. Sie musste hier raus! Unter dem Vorwand, dass sie müde sei und sich in Fausts Zimmer schlafen legen wollte, verließ sie den Schlafsaal. Sie sprach einen Teleportationszauber, ohne wirklich zu wissen, wohin er sie führen würde…
Sie stand am Strand. Wellen leckten sanft nach ihren Füßen, schwollen an und wieder ab und eine sanfte Brise strich durch ihr Haar.
Meine Insel!
Der Zauber hatte sie auf die Insel im südlichen Sternregenmeer geführt, die Joe ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Winter schloss die Augen und atmete die warme Tropenluft ein. Es beruhigte sie, dass die Insel noch existierte… dass die Zauberpest wenigstens diesen kleinen Teil ihres Lebens unversehrt gelassen hatte…
Ziellos lief sie ein Stück am Strand entlang. Schon von weitem sah sie die beiden Holzstatuen. Aber was war mit ihnen geschehen? Sie zeigten nicht länger die Konterfeis Winters und Joes. Jemand hatte ihre Augen weiß und ihre Haut blau angemalt und ihnen spitze Ohren geschnitzt. Winter seufzte: Offenbar hatten die Eingeborenen neue Götter gefunden – nicht alles war hier beim Alten geblieben. Und was war…? Winter stutzte. Als sie das Monument erreichte, gewahrte sie landeinwärts ein eigenartiges, blaugrünes Licht. Sie teleportierte tiefer hinein ins Dickicht des Inseldschungels, näher an jenes eigenartige Leuchten…
Keuchend ging Winter zu Boden. Es war ihr Zauber – er drohte sich gegen sie zu wenden! In ihrer Vorstellung wuchs er zu etwas Monströsem an, eine Bestie, die sich brüllend ihrer Kontrolle entriss. Vor ihr, zwischen den Bäumen, schwebte eine riesige Erdscholle. Auch dort wuchsen Bäume, doch keine, die sie jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren monströs und feindselig wie die Zauberbestie und wie sie schienen sie ganz und gar von jenem blauen Leuchten durchwoben zu sein.
Zauberleuchten!
Bevor die Bestie ihren Verstand vernebeln konnte, floh Winter zurück zum Strand. Sie hielt nicht an ehe sie den Sand unter ihren Füßen spürte und wob noch im Rennen einen Zauber, der sie zurück nach Narbental bringen sollte. Keuchend tauchte sie in der Nähe des Gasthauses wieder auf.
Vorsichtig tastete sie ihren Körper ab, doch ihr schien nichts zu fehlen… Dann gewahrte sie das kleine, sternförmige Mal auf ihrem Handballen.
Ein Pestmal.
Grimwardt
Narbental, Talländer.
Ein rotes Glühen lag über der Hafenstadt am Drachengriff. Rauchschwaden krochen schleichend durch die Gassen und überall erklangen die panischen Rufe der Fliehenden. Der Rauch wurde dichter, je näher die Gefährten dem Wasser kamen und das Atmen fiel zunehmend schwer. Grimwardt wies die Jüngeren an, die Stadtwache bei den Bergungs- und Löscharbeiten zu unterstützen. Den Rest belegte Winter mit einem Flugzauber.
Am Hafen erwartete sie ein Bild der Verwüstung. Die Handelsschiffe, die in der Hafenbucht vor Anker lagen, brannten ebenso lichterloh wie die Lagerhallen und Wirtshäuser, die sich um den Hafen drängten, und der flackernde Feuerschein erhellte den eigenartigen Kampf, der sich im Zentrum der Bucht abspielte: Flankiert von zwei schlanken Militärschiffen in Gefechtsstellung, harrte ein klobiges Gebilde im Wasser, das Grimwardt erst auf den zweiten Blick als das Wrack der Sturmhexe erkannte: Eine dicke Kruste aus Korallen und blau schimmernden Polypen zog sich über den Rumpf des Schiffes, die Masten und sogar die Überreste der Segel. Das Piratenschiff erweckte den Anschein, als sei es gesunken und habe jahrzehntelang auf dem Grund des Meeres gelegen, ehe es von einer übernatürlichen Kraft an die Oberfläche zurückgezerrt worden sei. Und es schien zu leben! Dort, wo die Geschosse der beiden Karacken die Bordwand durchdrangen, trat schwarzer Schleim wie Blut aus dem Rumpf des Schiffes, das sich mit Galionsstößen und Masthieben gegen die Angriffe der Hafenwache wehrte. Dabei ächzte und knurrte das Piratenschiff wie ein verwundetes Tier.
Winter zückte ihren Zauberstecken und schleuderte einen grünen Auflösungsstrahl auf das Ungetüm. Doch der zerstörerische Strahl zerbarst beim Auftreffen auf das blaue Leuchten des Korallenpanzers. Ein magischer Rückstoß traf eines der beiden anderen Schiffe und der Kampfeslärm wurde überlagert vom Getöse berstenden Holzes und den Schreien der Matrosen, die sich in Panik von dem sinkenden Schiff stürzten.
„Zauberleuchten“, murmelte Faust betroffen.
Offenbar waren Joe und seine Piraten der Zauberpest ein wenig zu nah gekommen. Unbändige Magie musste die Verwandlung bewirkt und Winters Strahl abgelenkt haben. Grimwardts Schwester kniff düster die Lippen zusammen und flog näher ans Geschehen heran, einen weiteren Zauberspruch bereits auf den Lippen. Grimwardt war für einen Augenblick zu fassungslos, um sie aufzuhalten. Was hatte sie vor? Hatte ihre Magie nicht gerade erst ein Schiff der Hafenwache versenkt? Winter kannte die Gefahren unbändiger Magie!
„Grim!“
Faust wies auf einen der Uferdämme, wo Grimwardt die Verursacher des Hafenbrandes entdeckte: Die Seehexe Sycorax, ebenso pestverwandelt wie das Schiff, schwebte hoch über der Verwüstung und blies magischen Wind über die entflammten Hafengebäude in Richtung Stadtmitte. Ihre Augen waren hohle Löscher in einem entstellten Korallengesicht. Auf dem Kai unter ihr tobte ein wüster Kampf zwischen dem Rest der Piratenmannschaft und den Soldaten der Stadtwache. Die Piraten waren in der Unterzahl, doch dem Grauen, das die wahnwitzigen Gestalten in den Verteidigern entfachten, hatten die Soldaten nichts entgegen zu setzen.
Faust enthauptete die Seehexe mit einem einzigen Schlag seiner Henkersklinge, ehe er sich Joe vornahm, der wild und wirr mit seiner Hakenhand um sich schlug. Grimwardt hielt derweil auf zwei Pestberührte mit unnatürlich vergrößerten Mäulern mit zwei Reihen messerscharfer Zähne zu: die Werhai-Zwillinge Ray und Roy. Sie kämpften wie im Wahn, ohne Koordination und Taktik, und nur die Korallenpanzer verhinderten, dass sie gleich beim ersten Schlag zu Boden gingen. Doch selbst als abzusehen war, dass er seinen Gegnern überlegen war, machten sie keine Anstalten sich zurückzuziehen. Plötzlich jedoch, wie auf ein geheimes Zeichen hin, hielten sie inne. Der Priester setzte den Werhaien nach, als sie über einen Anlegesteg zu fliehen drohten, doch sie retteten sich mit einem Sprung ins Wasser. Als er am Ende des Stegs innehielt, erkannte Grimwardt, woher der stumme Befehl gekommen war: Die Sturmhexe hatte begonnen sich in schwerfälligen Kreisen um die eigene Achse zu drehen. Die Bewegung ließ konzentrische Wellenringe durch die Hafenbucht zittern, die das Wasser zu den Dämmen abdrängten. Immer schneller grub sich das unförmige Schiff in die Tiefe, immer schräger ritt es auf den Wellen des Strudels, der nun auch die unversehrte Militärkaracke ergriffen hatte. Winter feuerte unablässig Zauber um Zauber auf den Schlund ab, der sich unter ihr auftat. Doch der Malstrom zog die beiden Schiffe in die Tiefe und die Wellen fluteten die Uferdämme und sogen alles und jeden ins Meer, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Grimwardt selbst blieb dank des Flugzaubers von den Wassermassen verschont.
„Magie?“, fragte er, als Winter schwebend neben ihm auftauchte. Sie nickte.
Der Priester brummte nachdenklich in seinen Bart hinein. Wenn ein mächtiger Meereszauber die Flucht der Sturmhexe ermöglicht hatte, wer hatte ihn gewirkt? Das Schiff selbst? Was hatte das zu bedeuten? War das Korallenschiff eine Art monströses Meerungeheuer mit eigenem Willen? Konnte die Zauberpest solch weitreichende Veränderungen bewirken?
Sie kehrten fliegend zu Faust und Miu zurück. Der Kämpfer harrte im hüfttiefen Wasser der sich zurückziehenden Flut. Mit einer Hand umklammerte er einen Vertäuungsring, um nicht von der Strömung davon getrieben zu werden, mit der anderen hielt er den Haarschopf des bewusstlosen Piratenkapitäns über Wasser, den es wie einen nassen Sack zum Meer hinzog.
„Die Verwandlung ist unheilbar“, rief er ihnen entgegen. „Miu hat es versucht.“
„Erledige ihn“, sagte Winter. Ihre Stimme klang matt und erschöpft, doch ohne Bedauern.
Zwiespalt schnitt sirrend durch die Luft.
„Seht mal.“
Winter wies auf den abgetrennten Kopf in Fausts Griff: Mit dem Tod begannen sich die Pestbeulen zurückzubilden, die sein Gesicht in eine Korallenbank verwandelt hatten. Winter beeilte sich den davon treibenden Körper aus dem Wasser zu fischen und mit Fausts Hilfe auf einen der höher gelegenen Dämme zu hieven. Dann zückte sie Schreibfeder und einen Papierbogen und begann die drei eintätowierten Schatzkarten, die auf dem verstümmelten Leichnam sichtbar wurden, auf das Papier zu übertragen. Grimwardt wandte sich schaudernd ab.
„Grimwardt Fedaykin?“
Er hob den Kopf. Aus einer Traube von Wachsoldaten, die mit der Versorgung ihrer Verwundeten und der Bergung der Brand- und Flutopfer beschäftigt waren, hatte sich eine Axtkämpferin gelöst. Das göttliche Symbol auf ihrem Brustharnisch wies sie als Dienerin des Tempus aus.
„Ihr seid es wirklich! Der Erwählte des Tempus!“ Sie riss sich den Schutzhelm vom Kopf, unter dem ein Haarmopp wüster, meersalzverklebter Stoppeln hervorquoll, und sank in eine tiefe Reverenz. „Bitte, Herr, mein Name ist Ulara Axtheft Ich bin die Kaplanin von Narbental-Stadt. Wenn Ihr mir den Segen des Feindhammers erteilen würdet…“
„Gewiss...“ Grimwardt räusperte sich und sprach die rituellen Segensworte über das gebeugte Haupt der Kaplanin. Dem Segen ließ er eine Heilwelle folgen, die alle Überlebenden des Piratenangriffs ergriff, denn der Priester hatte die Erfahrung gemacht, dass die schlichte Erfahrung einer versiegenden Wunde inspirierender war als die Rede des eloquentesten Predigers.
Nachdem er seinen missionarischen Beitrag für diesen Tag geleistet hatte, ließ sich Grimwardt von der Kaplanin zum Fürsten der Stadt Narbental führen. Sie fanden Sir Myrian Buchenwald in einer der Seitengassen, die von der Hafenpromenade abzweigten. Die Flutwelle hatte die Brände in unmittelbarer Nähe zur Bucht gelöscht, doch noch immer standen zahlreiche höher gelegene Hafengebäude in Flammen. Der stämmige Ritter mit dem grausen weißen Haar koordinierte die Löscharbeiten und scheute sich nicht, selbst am Tatkräftigsten mit anzupacken. Der alte Fürst warf nur einen kurzen Blick auf Grimwardt, ehe er ihm mit einer schroffen Handbewegung einen Platz in der Löschlinie zuwies und einen Eimer zum Weiterreichen in die Hand drückte. Grimwardt schmunzelte: Der Mann gefiel ihm.
„Die verschollenen Helden“, rief ihm der alte Haudegen über den Lärm der Löscharbeiten hinweg zu. „Was verschafft uns die Ehre?“
„Der Zufall“, erwiderte Grimwardt. „Wir waren auf Mission in der Anauroch. Die Piraten wüten im Auftrag der Umbranten. Wir fanden einen Brief, der das belegt.“
„Die Umbranten!“, knurrte der Ritter. „Dachte ich es mir doch, dass Netheril dahinter steckt. Das war nicht der erste Angriff der Pestberührten, aber bei weitem der verheerendste. Zum ersten Mal wurde die Stadt selbst angegriffen. Bisher haben diese Halunken sich auf unsere Handelsschiffe beschränkt: eine Drohgebärde, wie mir scheinen will… Telamont zieht die Schlinge der Furcht enger.“
„Wieso Narbental?“, fragte der Kriegspriester. „Wenn Telamont es auf die Talländer abgesehen hat, wieso wählt er das Fürstentum aus, welches am weitesten von der Anauroch entfernt ist?“
Myrian Buchenwald lachte hart und bitter.
„Nun, was glaubt Ihr, Grimwardt Fedaykin vom Schlachtental? Weil wir das schwächste Glied der Kette sind – gebeutelt und von allen geächtet. Und noch dazu haben wir den größten Seehafen der Täler.“ Myrians Vorgänger Lashan hatte vor dreißig Jahren den gewaltsamen Versuch unternommen, die Talländer unter der Vorherrschaft Narbentals zu vereinen. Lashan hatte den Krieg verloren, doch in dessen Wirren war das Land von den Zhentarim besetzt worden, die der Fürst als Söldner angeheuert hatte. Es war Sir Myrian gewesen, der Narbental mit Hilfstruppen aus den übrigen Tälern von den Zhent-Besatzern zurückerobert hatte. Doch der Preis für die Unterstützung ihrer Nachbarn war hoch gewesen: Nach dem Befreiungskrieg hatten die Fürsten der übrigen Talländer das Fürstentum besetzt und aus Vergeltung für die erlittenen Verluste im Lashan-Krieg kaum weniger ausgebeutet als die Zhentarim vor ihnen. Seit einigen Jahren war Narbental wieder unabhängig, doch die langen Jahre der Fremdherrschaft hatten das Land an den Rand des Ruins gebracht.
„Telamont versucht, sich unsere wirtschaftliche Notlage zunutze zu machen“, erklärte Myrian. „Er lockt uns mit Handelsabkommen, um unseren Markt in Netherils Abhängigkeit zu zwingen. Das Imperium ist so verdammt reich, dass er uns den Himmel auf Erden versprechen kann. Schließlich hatte Netheril zehn Jahre lang das Monopol auf alle arkanen Produktionsgüter in Faerûn. Und ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt, Telamonats Einflüsterungen zu widerstehen – erst recht nach diesen Angriff: Zwei ausländische Handelsfaktoreien sind vollständig abgebrannt, alle Güter futsch – das vertreibt uns unsere besten Investoren. Von unseren eigenen Verlusten ganz zu schweigen. Und ich habe meine Popularität beim Volk eingebüßt: Die Menschen sind die Zeit des Krieges und der Not überdrüssig und Netheril verspricht Frieden und Wohlstand.“
„Dann sind wir also zu spät gekommen“, brummte Grimwardt. „Wie können wir helfen?“
„Uns kann nur der Rat der Talländer helfen“, erwiderte der alte Fürst. „Ohne die Unterstützung der anderen Täler wird sich Narbental Netheril zuwenden. Ich kann nur hoffen, dass die Fürsten die Gefahr erkennen und das Kriegsbeil gegen uns begraben werden. Aber wenn ihr tatsächlich erpicht darauf sein solltet, einem Land zu helfen, dessen Geldspeicher so abgebrannt sind wie diese Spelunke hier, dann knöpft Euch dieses Piratenpack vor! Das letzte, was wir gebrauchen können, ist die Zauberpest in unserer Stadt!“
„Dann sind diese… Pestberührten also ansteckend?“
„Die Pestberührten nicht, nur das Zauberleuchten, wenn man in direkten Kontakt damit kommt.“
„Wer befehligt das Schiff?“, wunderte sich Grimwardt. „Die Pestberührten sind sosehr dem Wahn verfallen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sie sich um Kaperbriefe und Loyalitäten scheren.“
Sir Myrian zuckte mit den Achseln. „So wie sie heute gewütet haben, könnte man meinen, Umberlee selbst gebe die Befehle.“
Faust
Am nächsten Morgen in der Vorstadt von Narbental.
Nirgendwo war Narbentals Not so offenkundig wie in den Armenvierteln vor den Toren der Stadt. Dicht an dicht drängten sich hier heruntergekommene Lehmhütten neben kümmerlichen Viehställen und vom Ufer des Flusses drang beißender Fäkaliengestank.
„Hier wohnt Eure Schwester…?“ Befremdet stakste Laguna durch den Unrat. „Erwähnte Winter nicht, dass Eure Familie wohlhabend sei?“
„Meine Familie ist… kompliziert“, murmelte Faust, während er nach dem Wirtshaus Zum Springenden Fisch Ausschau hielt. Ulara Axtheft hatte ihm geraten, in der Söldnerabsteige nach seiner Schwester zu suchen. „Wenn Ihr Claire findet, dann richtet Ihr aus, dass sie gefeuert ist“, hatte die Kaplanin grantig hinzugefügt. „Das ist schon das dritte Mal, dass sie zu einer Wachschicht nicht erschienen ist!“
Nun, da er sah, wie Claire lebte, wurde ihm flau Magen, und er bereute es, Laguna mitgenommen zu haben. Er mochte den tatendurstigen, jungen Sandkämpfer, doch wer wusste schon, in welchem Zustand er seine Schwester hier vorfinden würde. Er warf Laguna einen Seitenblick zu, um festzustellen, ob seine Bemerkung vorwurfsvoll gemeint war, doch der Junge schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Faust ahnte, was der melancholische Zug um seine Augen zu bedeuten hatte.
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und Scarlet?“, fragte er beiläufig.
„Hm?“ Laguna hob irritiert den Kopf und wandte ihn dann eilig wieder auf seine Stiefel, als er Fausts forschen Blick auffing. „Scarlet war nicht immer so… distanziert“, erklärte er dem Schlamm zu seinen Füßen. „Es ist diese Sache mit den Sandfürsten. Sie nimmt das alles so unglaublich ernst, dass sie darüber vergisst, wer ihre wahren Freunde sind… Für den Kampf gegen die Umbranten hat sie sich völlig den Wertvorstellungen der Sandleute verschrieben. Sie hat sogar aufgehört, ihre magischen Fähigkeiten anzuwenden, weil die Bedinen sie für Teufelswerk halten.“
„Was für magische Fähigkeiten?“
„Warum kann ich nicht einfach die Klappe halten!“, Laguna biss sich auf die Unterlippe. „Sagt ihr bloß nicht, dass ich euch davon erzählt habe!… Sie hat Zauberkräfte, doch sie muss keine Formeln oder Gesten dafür anwenden. Es sind auch keine eigentlichen Zauber, sie nannte es einmal… rohe magische Energie. Die Sandleute jedenfalls behaupten, dass das ein Zeichen für eine teuflische oder dämonische Blutlinie sei.“
Faust runzelte die Stirn. „Das ist blanker Schwachsinn! Vermutlich hat sie diese Kräfte, weil sie von zwei herausragenden Hexenmeistern abstammt. Da wäre es fast verwunderlich, wenn sie keinerlei magisches Talent zeigte.“
„Ich weiß“, seufzte Laguna.
Faust klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Die bekommen wir schon wieder hin!“
Sie waren im Söldnerviertel angelangt. Vor dem Springenden Fisch musste Faust dem Inhalt eines Nachttopfs ausweichen, den eine alte Frau mit griesgrämiger Miene über das Gelände einer Seitentreppe kippte.
„Hey, pass doch auf!“, rief er zu ihr hoch. „Weißt du, wo wir eine gewisse Claire MacLancastor finden?“
„Ich hab‘ ihr doch gesagt, dass Männerbesuche tabu sind!“, geiferte die Alte. „Na was soll’s, wo ihr schon mal hier seid, könnt ihr dem Luder auch sagen, dass sie mir noch zwei Monatsmieten schuldet!“
Seufzend bezahlte Faust die ausstehende Miete und ließ sich von der Gastwirtin das Zimmer zeigen. Er musste dreimal klopfen, ehe er hinter der Tür schlurfende Schritte vernahm. Die Tür wurde einen Fingerbreit geöffnet.
„Na sag schon, wie viel schulde ich dir?“, klang eine schlaftrunkene Stimme von der anderen Seite.
„Öhm… vielleicht eine Umarmung?“, schlug er vor.
Quietschend vergrößerte sich der Spalt. Einen Augenblick musterte Claire ihn misstrauisch aus zusammen gekniffenen, rotgeränderten Augen. Dann schien ihr Morgenkater mit einem Schlag geheilt.
„Scheiße…. Desmond?!“
„Ich fasse das mal als Ausdruck deiner Freude auf.“
Nachdem sich die Geschwister in die Arme geschlossen hatten, trat Faust zurück, um seine Schwester genauer zu betrachten. Zuletzt hatte er Claire gesehen, als sie ein kleiner Wildfang von zehn Jahren gewesen war, doch die Frau, die ihm nun gegenüber stand, war so alt wie er selbst. Sie hatte Helenas hochgewachsene Figur, doch mit den kantigen Gesichtszügen und den sehnigen, braungebrannten Oberarmen haftete ihr mehr von der derben Raubeinigkeit eines Seemanns an. Sie hielt einen Dolch gezückt, der vermuten ließ, dass sie wenig gute Erfahrung mit frühmorgendlichen Besuchern gemacht hatte. Lagunas höfische Verbeugung quittierte sie mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln.
„Wofür hältst du mich, Kleiner?“ Dann wies sie mit einer fahrigen Geste auf das heillose Durcheinander ihres kleinen Mietzimmers. „Setzt euch.“
Faust und Laguna wechselten ein vielsagendes Stirnrunzeln: Zwischen all dem Schrott – den zerbeulten Töpfen, fadenscheinigen Kleidungsstücken, rostigen Waffen und zerfledderten Büchern – hätte nicht einmal ein ausgehungerter Halbling Platz gefunden, ohne sich einen rostigen Nagel in den Hintern zu rammen. Dennoch war Faust erleichtert: Claire schien weniger in Armut als im Chaos zu versinken – ein Familienleiden. Außerdem sah sie aus, als könne sie ein kräftigendes Frühstück vertragen.
„Lass uns ein Gasthaus suchen… Ich lad‘ dich ein.“
„Wie könnte ich da nein sagen?“
Claire füllte eine Waschschüssel, um sich prustend das kühle Nass ins übernächtigte Gesicht zu spritzen. Dann zog sie sich ungeniert vor den Augen der beiden Männer um, was Laguna die Schamröte ins Gesicht trieb.
„Wir sind auf dem Weg hierher der Gastwirtin begegnet“, erklärte Faust, der sich lässig gegen den Türrahmen lehnte. „Ich hab‘ deine Mietzahlungen übernommen.“
„Ich brauche keine Almosen, Desmond“, brummte Claire, während sie sich das nasse Haar trocken rieb.
„Sicher?“ erwiderte Faust mit einem Schmunzeln. „Die Kaplanin lässt ausrichten, dass du gefeuert bist. Du warst heute Nacht nicht da, als die Stadt angegriffen wurde.“
„Die Stadt wurde angegriffen?“ Seine Schwester hielt in der Bewegung inne. Doch dann zuckte sie flapsig mit den Schultern und fuhr mit dem Rubbeln fort. „Muss ich verschlafen haben.“
„Du hast verpennt, wie die halbe Stadt abgebrannt ist? Respekt! Das Zeug muss ich mir auch besorgen.“
„Was soll‘s! Ich bin noch immer über die Runden gekommen. Dann heuere ich eben auf einem der Handelsschiffe an oder versuche mich als Magiergehilfin. Hab‘ das Söldnerdasein ohnehin satt.“
Vielseitigkeit lag offenbar in der Familie.
„Es ist also wahr.“ Claire wandte sich zu Faust um und musterte ihn mit einem schiefen Lächeln. „Der große Held, der in Myth Drannor den Teufelsfürsten besiegte, ist nach zwölf Jahren aus der Versenkung getaucht. Weiß Mutter, dass… naja, dass sie den Grabstein wieder ausbuddeln kann?“
„Ich war bei ihr. Aber ich bezweifle, dass sie mir einen Grabstein gewidmet hat. Sie ist nicht gerade in Jubelstürme ausgebrochen.“
„Sie ist Amok gelaufen, nachdem ihr heißgeliebter Erstgeborener damals aus Rabenklippe verschwand…. Du bist wirklich ein Ork, Desmond!“ Claires derbes Lachen klang aufgesetzt, so als wolle sie damit ihre Unsicherheit kaschieren. Die Rückkehr ihres berühmten Bruders schien die flatterhafte Söldnerin in Verlegenheit zu bringen. „Du hättest sehen sollen, wie sie zum Orden lief und diesen Kelemvor-Priester zur Sau gemacht hat: Stell dir die Kollision zweier Eisberge vor, dann hast du eine ungefähre Vorstellung. Aber sie würde sich eher die Zunge rausreißen, als dir das auf die Nase zu binden, nachdem sie aus Heldengesängen erfahren durfte, dass du noch lebst! Naja, nicht dass ich es nicht nachvollziehen könnte… Scheiße, war ich froh, als ich alt genug war, diesem Tollhaus den Rücken zu kehren.“ Sie spuckte zur Bekräftigung in die Waschschüssel und blickte in die Runde. „Können wir gehen?“
Grimwardt
Kurz darauf im „Roten Reiher“.
Da der Rote Reiher eines der wenigen Gasthäuser war, die vom Feuer und der Flut verschont geblieben waren, war es hier an diesem Morgen proppenvoll. Zum Ärgernis des Wirtes, der sich bei diesem Ansturm bereits die Hände gerieben haben musste, hatte Grimwardt ein Heldenmahl erbetet, das die halbe Stadt verköstigt hätte. Mit Winter und Miu hatte er einen kleinen Fenstertisch ergattert, den sie Faust und seinen beiden Begleitern überließen, als diese im Gasthaus eintrafen. Scarlet und der junge Bedine waren noch nicht zu ihnen gestoßen. Während Fausts Schwester Claire kräftig zulangte, stand Grimwardt am Fenster und betrachtete skeptisch die drei Schatzkarten, die seine Schwester von der Leiche des toten Piratenkapitäns abgezeichnet hatte.
Die erste Karte zeigte einen Ausschnitt der Südküste Tays. Ein paar Seemeilen südlich der Hafenstadt Escalant war eine Insel markiert. Neben die Zeichnung hatte Winter zwei Verse gekritzelt: „In der Nacht, da Nhalloth im Meer versank/ Küsste Himmelsmund das Meergesicht.“ Die zweite Zeichnung war eine Nahansicht der Insel aus der ersten: Demnach wurde der größte Teil des Eilands von den Ruinen einer alten Stadt eingenommen. Auch auf dieser Karte war ein Kreuz: Es markierte eine Stelle im Hof einer Gebäuderuine im Stadtkern. Um den Rand jener zweiten Karte wanden sich die Worte: „Nur wer falsch herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth“ und eine Anmerkung Winters wies darauf hin, dass diese Verse im Original in Spiegelschrift verfasst waren. Die dritte Karte schließlich beschrieb den Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu einer Schatzkammer.
Grimwardt begriff nicht, was sich seine Schwester von diesen Karten versprach. Welches Ogerhirn ließ sich das Geheimnis um einen versunkenen Schatz auf den eigenen Leib tätowieren? Die einzige Erklärung, die Grimwardt dafür einfiel, war die, welche Joe selbst ihnen geliefert hatte: Die Karten waren ein schlechter Scherz, ein morbides Augenzwinkern, das an denjenigen adressiert war, dem die Leiche des Piraten in die Hände fiel. Allenfalls würde an dem Ort, der dort beschrieben war, eine Falle auf sie warten, aber gewiss kein Schatz! Und selbst wenn doch, war das ihrer Mission im Dienste Narbentals wenig dienlich, denn bei allem Irrsinn war die Mannschaft der Sturmhexe sicher nicht so hirnrissig, sich an einen Ort zurückzuziehen, zu dem der tote Leib ihres Kapitäns die Wegbeschreibung lieferte! Oder vielleicht doch? Spekulierten sie darauf, dass ein offensichtliches Geheimnis ihre Gegner zu genau dieser Schlussfolgerung führen würde? Andererseits war eines nicht von der Hand zu weisen: Die Tätowierungen waren im Moment ihr einziger Hinweis auf die Sturmhexe, denn die magische Ortung sowohl des Schiffes als auch der verbliebenen Mannschaft war erfolglos geblieben: Das Zauberleuchten lenkte jeden Zauber ab, der auf die Pestberührten traf.
„Nhalloth“, murmelte Grimwardt. „Was soll das sein? Ein Ort? Ein versunkenes Schiff? Wenn es sich dabei um die Stadt auf der Karte handelt, sollte sich leicht feststellen lassen, ob sie auf der markierten Insel liegt.“
„Wenn sich die Insel so einfach finden ließe“, wandte Winter ein. „Ich habe gestern Abend versucht, zu dem Ort auf der Karte zu teleportieren, doch der Zauber ist fehlgeschlagen.“
„Ein magischer Schutzschild?“
„Ich bin mir nicht sicher. Ich stieß beim Zaubern auf keine Barriere. Es war mehr so, als existiere der Ort gar nicht. Und als ich ein paar Matrosen nach einer Insel bei Escalant fragte, behaupteten sie, es gäbe an der tayanischen Südküste keine Inseln.“
„Vielleicht ist es keine Insel mehr“, klinkte sich Fausts Schwester beiläufig in das Gespräch ein. Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, schluckte sie hastig einen Fleischklops herunter und fügte erklärend hinzu: „Sagtet ihr nicht, die Karte wurde vor der Zauberpest gezeichnet? Der Meeresspiegel ist gesunken, als das Zauberleuchten wütete. Escalant liegt heute meilenweit landeinwärts. Wenn der Ort vorher Teil einer Inselkette vor dem Festland war, kann es doch sein, dass er heute mit der Küste verbunden ist.“
Grimwardt warf Winter einen Blick zu und zog fragend die Brauen hoch.
„Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen“, gab sie zu. Dann nahm sie ihrem Bruder die Zeichnung aus der Hand und reichte sie an Claire weiter. „Fällt dir sonst noch etwas dazu ein?“
Claire warf nur einen kurzen Blick auf die Karte, ehe sie den Kopf schüttelte.
„Meine Vermutung kann nicht stimmen. Die Insel ist zu weit vom Festland entfernt und das Meer ist dort zu tief. Deine Matrosen hatten recht, Winter: In dieser Gegend gibt es keine Inseln. Ich kenne die Gewässer; das müsste in der Nähe der Haifischbannmauer sein. Hab‘ vor ein paar Jahren als Gouvernante für einen aglarondesischen Handelsfahrer gearbeitet.“
„Gibt es irgendeinen Beruf, den du noch nicht ausgeübt hast?“, warf Faust scherzend ein.
„Was ist die Haibannmauer?“, hakte Grimwardt nach. Die Welt der Seefahrer war ihm fremd und ein wenig suspekt. Er gehörte zu den Leuten, die überzeugt waren, dass die Götter den Menschen Flossen gegeben hätten, wenn sie gewollt hätten, dass sie sich die Meere Untertan machten.
„Oh, richtig, ihr ward ja die letzten zwölf Jahre…“ Claire blickte hilfesuchend zu Faust.
„…im Zeitstrom gefangen.“
„Richtig… wie auch immer. Die Haibannmauer existiert schon seit langem: Die Seeelfen von Myth Nantor errichteten sie, um ihr Reich gegen die Gewässer ihrer Feinde, der Sahuagin, abzugrenzen. Die Sahuagin brauchen den Druck der Tiefe und können in der Nähe der Wasseroberfläche nicht überleben, darum reichte die Mauer früher nicht über die Oberfläche hinaus. Kaum ein Mensch wusste überhaupt, dass sie existiert. Erst durch das Absinken des Meeresspiegels wurde die Mauer sichtbar und seither trennt sie die Alambersee von der See des Sternregens.“
„Seeelfen, Sahuagin, Myth Nantor…“, murmelte Faust. „Seit wann gehen die Völker der Meere so freizügig mit ihren Geheimnissen um?“
Claire grinste breit und schien im Stillen über ihren Bruder zu triumphieren. „Narbental ist ‘ne Hafenstadt, Desmond! Diese Dinge gehören hier nicht gerade zur Sorte ‚obskures Wissen‘. Jedenfalls nicht, seitdem die Seeelfen die Oberstadt von Myth Nantor zur freien Handelsstadt erklärt haben.“
Verblüffte Blicke. Grimwardt kannte sie sagenumwobene Unterwasserstadt der Seeelfen nur aus Mythen und Albenmärchen. Bis vor einigen Augenblicken hätte er bezweifelt, dass sie tatsächlich existierte… Die Zauberpest hatte tatsächlich die Welt verändert!
„Myth Nantor wurde an die Oberfläche gespült? Dann ist es möglich, dorthin zu gelangen?“
„Ja, viele Händler, Schmuggler und Piraten haben sich dort niedergelassen, weil die Seeelfen keine Zölle erheben und weil der Elfenschutzwall vor feindlicher Ausspähung schützt… Verdammt raues Pflaster, nach allem, was man hört.“
Die Gefährten wechselten einstimmige Blicke. Wenn es die geheimnisvolle Insel tatsächlich gab und wenn sie in der Nähe der Haibannmauer lag, dann mussten die Elfen von Myth Nantor mehr darüber wissen.
„Sieht so aus, als hätten wir ein neues Ziel!“
In diesem Moment erspähte Grimwardt Scarlets roten Lockenkopf. Mit Sayid im Schlepptau bahnte sie sich suchend einen Weg durch das überfüllte Gasthaus. Der Priester hob die Hand, um sie zu sich zu winken. Die beiden Sandkämpfer hatten ihre Ausrüstung angelegt und waren vollständig gerüstet als wollten sie noch in dieser Stunde in den Krieg oder zumindest auf Abenteuer ausziehen.
„Onkel“, begann Scarlet steif, als sie an ihrem Tisch angelangt war. „Wir brechen auf. Für deine Hilfe und die deiner Freunde möchten wir dir danken, auch im Namen Zarifs.“
Winter konnte nicht entgangen sein, dass ihre Tochter sie aus ihren Dankesworten ausschloss. Doch sie ließ sich nichts anmerken, als sie sich erhob: „Ich kann euch ins Lager teleportieren. Lasst mich nur eben…“
„Nein“, sagte Scarlet scharf. „Auf deine schwarze Magie können wir verzichten!“
„Auf meine…?“
Winter blieb die Spucke weg. Selbst Grimwardt erschreckte die kalte Verachtung, mit der Scarlet gesprochen hatte.
„Ziemlich heuchlerisch, deine Haltung, meinst du nicht?“ Faust hielt die Hände provokativ vor der Brust verschränkt und wippte leicht mit dem Stuhl nach hinten.
„Was soll das heißen?“
Faust kniff die Augen zusammen. „Bist du nicht diejenige, die vor ihren Freunden mit ihren Fähigkeiten hinter dem Berg hält, weil die sie für dunkle Magie halten könnten?“
„Was…?“ Vor Schreck wich Scarlet alle Farbe aus den Wangen und sie warf Laguna einen Blick zu, der ein Feuerelementar in Eis verwandelt hätte. „Laguna, wir gehen!“, sagte sie mit eisiger Stimme. Der junge Halbelf schluckte heftig und schien zu erwägen was schwerer wog: die Schmach, wie ein gescholtener Hund vor seiner Herrin den Schwanz einzuziehen, oder das Donnerwetter, das ihn später erwartete.
„Ihr geht nirgendwohin“, sagte Grimwardt bedächtig. „Ich habe Zarif Abu Sayama mein Wort gegeben und werde Sayid nicht aus den Augen lassen, ehe er sicher und wohlbehalten bei seinem Bruder angekommen ist.“
„Ist das ein Befehl?“, fragte Scarlet rebellisch. „Unterstützt Tempus plötzlich die Schergen Shars?“
Für einen Augenblick herrschte Stille.
Dann donnerte Grimwardt, sodass die Fenster zu erzittern schienen: „JA, DAS IST EIN VERDAMMTER BEFEHL!“
Stille.
Eingeschüchtert wandte seine Nichte den Blick zu Boden. Winter fasste ihren Bruder behutsam am Arm.
„Lass sie gehen“, sagte sie resigniert. „Ein Ritt durch die Talländer… was kann da schon passieren?“
Der Kriegspriester sah Scarlet eine Weile düster an, dann grummelte er einen Fluch und entließ sie wie einen Soldaten mit einer wegwerfenden Handbewegung. Unter den sensationslustigen Blicken der Wirtshausgäste verließen die jungen Leute den Schankraum wie drei Geächtete mit hängenden Köpfen und zittrigen Knien. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schüttelte Grimwardt den Arm seiner Schwester ab und wandte den Blick zu Boden.
„Und ist es wahr?“, brummte er mit verhaltener Stimme. „Bist du mit den Sharianern im Bund?“
„Was? Nein!“, rief Winter mit gestelzter Empörung.
Abrupt hob er den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.
„Dann sag mir, warum du in der Wüste deine Magie anwenden konntest!“
„Weil… keine Ahnung, ich…“ Winter schluckte. „Shar hat nichts mit meiner Magie zu tun.“
Er sah keine Lüge in ihren Augen. Oder wollte er sie nicht sehen? Plötzlich tat ihm sein Wutausbruch gegen Scarlet leid. Nicht sie hatte er…
„Wie auch immer“, brummte er. „Wir haben wirklich nicht die Zeit, uns mit diesem Kinderkram aufzuhalten!“
Damit ließ er Winter stehen und stapfte die Treppe zu ihren Quartieren hinauf.
„Scheiße nochmal“, hörte er Claire noch murmeln. „Und ich dachte, unsere Familie wäre verkorkst!“
Winter
Nachts.
Eine kalte Berührung riss Winter aus dem Schlaf. Über ihr schwebte ein Gesicht, das sie aus dunklen Augenhöhlen anglotzte. Joe! Blaue Blitze zuckten über die substanzlose Fratze des Piratenkapitäns, die sich laufend zu verändern schien, bis sie völlig von Pestnarben übersät war. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte, wie der anklagende Blick der Geisteraugen bis in ihre Haarwurzeln fraß, wie er sie lähmte und dann… Eine körperlose Klaue griff nach ihrem Herzen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Grimwardt, der einen Zauber wob. Die Magie stieß den Geist zurück und die lähmende Kälte zog sich aus der Gegend ihres Herzens zurück. Der Piratengeist stieß ein klagendes Kreischen aus, doch er widerstand dem mächtigen Priesterzauber. Eine übernatürliche Kraft presste Winter tiefer in die Kissen und sie spürte wie etwas ihren Kiefer auseinanderbog. Nun schrie sie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht aufhalten: Der Geist schnellte in die Höhe und zerfloss zu weißem Nebel, der sich in ihren aufgerissenen Mund ergoss und ihr die Kontrolle über Körper und Geist entriss.
„Das ist Wahnsinn“, knurrt Ray unbehaglich und seine Stimme hallt gespenstig von den Wänden der Tropfsteinhöhle wider. Leise gleitet das schmale Beiboot mit dem Kapitän und den beiden Werhaizwillingen durch das Höhlenlabyrinth. Nur das rhythmische Plätschern der Ruder ist zu hören. Der Kapitän lässt sich seine Beunruhigung nicht anmerken, doch auch ihm steht der Angstschweiß auf der Stirn. An jeder Wegbiegung muss er sich zusammenreißen, um der Aura des Unheimlichen zu folgen, die ihn tiefer und tiefer ins Herz des Unterreiches führt. Was sie tun, IST Wahnsinn. Niemand, der bei klarem Verstand ist, wagt sich freiwillig ins Reich des Gedankenschinders. Aber Joe ist nicht bei klarem Verstand – er spürt, wie die Krankheit ihn auffrisst. Es reicht ihr nicht, dass sie seinen Körper in Besitz genommen hat: Nun greift sie nach seinem Geist – und er weiß nicht, wie lange er noch er selbst sein wird. Er hat nichts mehr zu verlieren. Doch er muss wenigstens versuchen, seine Mannschaft zu retten.
Schließlich läuft das Boot auf Grund und sie gehen an Land. Vor einer Höhle sind zwei Grimlock-Wachen postiert, die ihnen die Waffen abnehmen. Joe lässt es geschehen. Er hat nicht einmal einen Dolch im Stiefel versteckt. Er könnte ihn nicht schnell genug ziehen; die Kruste, die sich über seinen Körper zieht, hat seine Hände in Krebsscheren verwandelt.
Die Wachen führen ihn und seine beiden Gefährten in ein unterirdisches Zauberlabor. Phosphoreszierende Flüssigkeiten, die zwischen eingelegten Körperteilen und dampfenden Tränken vor sich hin dümpeln, spenden dämmriges Licht. Im hinteren Teil der Höhle, ihnen den Rücken zugekehrt, beugt sich die große, schlanke Gestalt des Illithiden, von Schatten umflossen, über einen aufgeschlagenen Folianten. Die düstere Aura ist hier so stark, dass sie Joe die Kehle zuzuschnüren droht.
Joe. Die telepathische Stimme der Kreatur wird von einem sirrenden Fiepen begleitet, das ihm irrsinnige Kopfschmerzen bereitet. Was verschafft Uns die Ehre?
„Morloch.“ Der Pirat räuspert sich. Trotzdem klingt seine Stimme heiser vor Angst, als er fortfährt. „Meine Mannschaft wurde von der Zauberpest überrascht. Sie hat sogar das Schiff betroffen. Und nun… Ich fürchte, dass das Zauberleuchten langsam den Weg in unsere Gedanken findet. Wenn es stimmt, was man über Euch sagt…. Wenn Ihr über Magie verfügt, die ohne das Gewebe auskommt, dann seid Ihr vielleicht der einzige, der ein Heilmittel kennt.“ Er macht eine Pause. Als die Kreatur noch immer keine Anstalten macht, sich zu ihm umzuwenden, fährt er unsicher fort. „Ich… Ich kann Euch das Geheimnis um die Karten von Nhalloth verraten. Heilt mich und ich gebe Euch den Schlüssel zu den Tätowierungen auf meinem Körper.“
Ohne Hast blättert Moloch mit den drei Tentakeln, die aus seinem Kiefer wachsen, in dem dicken Folianten. Erst als Joe glaubt, es in seiner Gegenwart nicht länger auszuhalten, wendet er sich langsam zu ihm um, doch die obere Hälfte seines Körpers bleibt weiter vom Schatten verdeckt. Kein magisches Wort dringt über seine Lippen, kein Luftflackern kündigt den Zauber an: Plötzlich gehen die Wehaizwillinge zu Boden. Lautlos sacken sie in sich zusammen.
„Bei Umberlee, was…!“
Joe schnellt vor, um dem niederträchtigen Verräter seine Scheren in den Leib zu stoßen, doch ehe er auch nur seine Anschuldigung vorbringen kann, spürt er die Berührung von zwei schleimigen Saugdrüsen an seiner Stirn. Die Augen des Piratenkapitäns erstarren in den Höhlen und seine Glieder erschlaffen. Er wütet gegen die Dunkelheit, die seinen Geist einzunehmen droht, doch er ist zu geschwächt – sein Geist zu zerfressen von der Zauberpest, um den übermächtigen Sog abzuschütteln.
Umberlee ist schon lange nicht mehr Unsere Göttin. Und den Schlüssel zu Nhalloth wirst du Uns so oder so geben, surrt die Stimme, ehe sie ihn verschlingt.
Keuchend sprang Winter aus dem Bett, die Hände bereits zu einer magischen Geste geformt. Doch da waren nur Grimwardt, der das heilige Symbol noch umklammert hielt, mit dem er den Geist vertrieben hatte, und Faust, der mit gezogenem Schwert in ihr Zimmer gestürmt kam.
„Alles in Ordnung?“, brummte Grimwardt.
Sie nickte stumm und ließ sich auf die Bettkante sinken.
„Scheint, als hätten wir ein Problem.“
Sie hob den Kopf. „Warum? Hast du Joes Geist nicht vertrieben?“
„Ich habe nur seine Verbindung zur materiellen Ebene durchtrennt“, sagte der Priester. „Geister können nicht zerstört werden. Meist sind sie gepeinigte Seelen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Sie können die Zwischenwelt, die astrale Ebene, nicht verlassen, um in die Stadt der Seelen einzugehen, solange ihre Erinnerung vom Schock ihres Dahinscheidens vereinnahmt wird. Der einzige Weg, einen Geist zu zerstören, besteht darin, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihm widerfahren ist… oder von dem er glaubt, dass es ihm widerfahren ist.“
Klang da ein versteckter Vorwurf aus Grimwardts Stimme, weil sie keinen Versuch unternommen hatte, ihren Ehemann vor seinem Schicksal zu bewahren?
„Aber nicht wir haben Joes Schicksal zu verschulden“, sagte sie und berichtete von der Vision, die der Geist ihr eingegeben hatte.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Offenbar will Joe dich zum Werkzeug seiner Rache an diesem Morloch machen.“
„Wieso setzt er dann alles daran, mich zu Tode zu erschrecken?“
„Geister denken nicht rational.“
„Jedenfalls erklärt das, wer die Sturmhexe und Joes dem Wahnsinn anheimgefallene Crew befehligt“, klinkte sich Faust in die Unterhaltung ein. „Vermutlich meinte Fürst Xantes den Illithiden, als er schrieb, dass er sich mit dem Kapitän der Sturmhexe getroffen habe. Aber welches Interesse könnte dieser Morloch an den Schatzkarten haben? Joe wäre ein schlechter Pirat, wenn er den Schatz nicht längst selbst eingesackt hätte.“
„Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Nhalloth auf sich hat“, erklärte Grimwardt.
Er und Faust waren bald in eine Diskussion vertieft, die Winter nur halbherzig verfolgte. Ihr Blick hing an ihrem Bruder. Den Bruch mit Scarlet hatte sie erwartet. Vielleicht war es so das Beste: Wenn der einzige Weg ihre Tochter zu beschützen, darin bestand, sie auf Abstand zu halten, dann war der eisige Stich, den sie bei Scarlets unversöhnlichen Worten empfunden hatte, ein geringer Preis. Aber Grimwardt… Es waren nicht seine Worte, die ihr Angst einjagten, sondern die Dinge, die er unausgesprochen ließ. Er wich ihr aus – instinktiv schien er zu spüren, dass sie sich verändert hatte und dass diese Veränderung sie entzweien könnte. Als sie ihre erste Seele getrunken hatte, hatte sie an Desayeus‘ Vision gedacht, die sie verhindern musste. Sie musste ihre kleine Familie zusammenhalten, koste es was es wolle. Aber was, wenn Grimwardt herausfände, was sie war? Würde er sie verstoßen? Würde es… konnte es seinen Glauben zerstören? Würde er für sie seinen Gott verleugnen...?
… und einen neuen wählen, der ihn mit einem schwarzen Schwert durch die Wüste reiten lässt?
Plötzlich zog sich Winters Herz zusammen. Sie musste hier raus! Unter dem Vorwand, dass sie müde sei und sich in Fausts Zimmer schlafen legen wollte, verließ sie den Schlafsaal. Sie sprach einen Teleportationszauber, ohne wirklich zu wissen, wohin er sie führen würde…
Sie stand am Strand. Wellen leckten sanft nach ihren Füßen, schwollen an und wieder ab und eine sanfte Brise strich durch ihr Haar.
Meine Insel!
Der Zauber hatte sie auf die Insel im südlichen Sternregenmeer geführt, die Joe ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Winter schloss die Augen und atmete die warme Tropenluft ein. Es beruhigte sie, dass die Insel noch existierte… dass die Zauberpest wenigstens diesen kleinen Teil ihres Lebens unversehrt gelassen hatte…
Ziellos lief sie ein Stück am Strand entlang. Schon von weitem sah sie die beiden Holzstatuen. Aber was war mit ihnen geschehen? Sie zeigten nicht länger die Konterfeis Winters und Joes. Jemand hatte ihre Augen weiß und ihre Haut blau angemalt und ihnen spitze Ohren geschnitzt. Winter seufzte: Offenbar hatten die Eingeborenen neue Götter gefunden – nicht alles war hier beim Alten geblieben. Und was war…? Winter stutzte. Als sie das Monument erreichte, gewahrte sie landeinwärts ein eigenartiges, blaugrünes Licht. Sie teleportierte tiefer hinein ins Dickicht des Inseldschungels, näher an jenes eigenartige Leuchten…
Keuchend ging Winter zu Boden. Es war ihr Zauber – er drohte sich gegen sie zu wenden! In ihrer Vorstellung wuchs er zu etwas Monströsem an, eine Bestie, die sich brüllend ihrer Kontrolle entriss. Vor ihr, zwischen den Bäumen, schwebte eine riesige Erdscholle. Auch dort wuchsen Bäume, doch keine, die sie jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren monströs und feindselig wie die Zauberbestie und wie sie schienen sie ganz und gar von jenem blauen Leuchten durchwoben zu sein.
Zauberleuchten!
Bevor die Bestie ihren Verstand vernebeln konnte, floh Winter zurück zum Strand. Sie hielt nicht an ehe sie den Sand unter ihren Füßen spürte und wob noch im Rennen einen Zauber, der sie zurück nach Narbental bringen sollte. Keuchend tauchte sie in der Nähe des Gasthauses wieder auf.
Vorsichtig tastete sie ihren Körper ab, doch ihr schien nichts zu fehlen… Dann gewahrte sie das kleine, sternförmige Mal auf ihrem Handballen.
Ein Pestmal.