Kapitel IV: Krabbensalat
Faust
Eine Woche später auf der Eggenstolz, südwestliche See des Sternregens.
Hüstelnd stolperte Faust aus der Kapitänskajüte. Harte Nacht. Das Blitzen der Morgensonne, das im Osten auf den Wellen tanzte, brannte ihm in den Augen. Außerdem erinnerte sein pochender Schädel ihn unsanft an das halbe Fass Dunkelbier, mit dem er den bitteren Geschmack des Pfeifenkrauts zu betäuben versucht hatte. Dumpf zuckten wirre Bilderfolgen hinter seinen halbgeschlossenen Lidern vorüber: Die roten Gesichter der Matrosen beim Würfelspiel. Kapitän Guinges, der dicke Rauchringe in die Luft paffte. Seine Schwester, die mit jeder verlorenen Runde weniger am Leibe trug… Faust stöhnte auf und hielt sich an der Reling fest, ehe sich das Würgen, das ihn bei dieser Erinnerung packte, mit dem Grummeln in seinem Magen verbünden konnte.
„Auch endlich raus aus der Koje?“, dröhnte es aus Richtung des Bugs. Faust hob den Blick, senkte ihn jedoch schnell wieder, als der Schwindel ihn packte. Doch er musste nur dem stechenden Geruch des Pfeifenkrauts folgen, um Kapitän Guinges zu entdecken, der am Vordersteven stand und aufs Meer hinausblickte. Der alte Seebär paffte ihm einen Zug stinkende Luft ins Gesicht und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Hehe, hab‘ ich’s dir nich gesacht, Junge? S-tattlicher Bursche biste, aber an‘n alten Guinges kommste nich ran!“
„Ich verbeuge mich vorm Meister.“ Gerade noch rechtzeitig entsann sich Faust des osttalisischen Seemannsdialekts, den er sich von den Narbentaler Matrosen abgekupfert hatte, um dem Kapitän einen „Mann vom Fach“ vorzugaukeln. „Des Lantaner war da wohl doch was s-tärker als wie ich‘s gewohnt bin, nä?“
Die linguistische Maskerade war ein spontaner Einfall gewesen, den er allmählich zu bereuten begann. Da Myth Nantor gegen Teleportationen geschützt war, waren die Gefährten in die Stadt Sopra in Turmish gereist, um von dort aus die Überfahrt in die Elfenstadt anzutreten. Doch seit Turmish von einer Flüchtlingswelle aus den pestverseuchten Gebieten des Vilhongriffs heimgesucht worden war, herrschte im einst so gastfreundlichen Sopra eine fremdenfeindliche Stimmung. Winters fehlgeschlagener Versuch eine unfreundliche Torwache zu bezaubern, hatte sie in Konflikt mit der Stadtwache gebracht. Da kein Schiffsherr sich bereit erklärt hätte, vier stadtbekannte Unruhestifter auf seinem Schiff zu verstecken, hatten sie improvisieren und sich eine neue Identität zulegen müssen. So war es zu jener denkwürdigen Begegnung mit Kapitän Guinges gekommen. Seit Faust dem alten Haudegen aus Eggental auf dem Markt von Sopra getroffen und ihm weisgemacht hatte, etwas von Halblings-Pfeifenkraut zu verstehen, waren die beiden „dicke“ – nun ja, Faust war vor allem dicke zugedröhnt, seitdem er jede Nacht auf See in der verqualmten Kajüte des Kapitäns verbrachte. Der unerschöpfliche Vorrat an Dunkelbier aus der Familienbrauerei des Kapitäns machte die Sache nicht besser. Doch die preiswerte Reise und der Umstand, dass Faust seiner Schwester eine Stelle als Bootsmaat auf der Eggenstolz hatte ergattern können, machten den allmorgendlichen Kater wett.
„S-pürste, wie windstill es geworden is, Junge?“, paffte der alte Seebär. „Das isse Magie vonnie Elfen. Nu simma bald am Ziel.“
Faust stützte sich am Vorsteven ab und blickte aufs Meer hinaus. Kein Luftzug ging und der Himmel war so wolkenklar wie an einem Hochsommertag. Vermutlich ein Effekt des Mythals, der die Seeelfenstadt umgab.
„Puh, du muffelst ja wie ‘ne alte Halblingssocke.“
Mit gewohnt miesepetriger Laune erschien Grimwardt an Fausts Seite. Hinter ihm tauchten Winter und Miu auf. Winter hatte dunkle Ringe unter den Augen und zog sich fröstelnd ihren Umhang um die Schultern. Faust glaubte nicht daran, dass Joes Geist der Grund für ihre mysteriöse Krankheit war, wie sie behauptete. Der allnächtliche Geisterspuk hatte für allerlei neues Seemannsgarn an Bord der Eggenstolz gesorgt, doch für die Helden stellte der Geist keine wirkliche Gefahr dar und die Schrecken der ersten Nacht wichen langsam lästiger Routine. War Winters Unpässlichkeit vielleicht ein erstes Anzeichen der Zauberpest? Zwar hatte die Kaplanin von Narbental ihnen versichert, dass ein so kleines Zaubermal wie jenes, das Winter von ihrem nächtlichen Alleingang davon getragen hatte, keine große Gefahr darstellte, doch was mochte sonst hinter ihrem Leiden stecken?
Es dauerte nicht lange, ehe sich in der Ferne eine Luftspiegelung abzeichnete. Ein prismatisches Gebilde aus Lichtbögen und Farbfontänen. Erst als sie näher an das Schimmern herankamen, erspähte Faust die Stadt unter dem Schleier aus Licht. Doch es war keine Stadt wie Faust sie je unter Menschen oder Elfen gesehen hatte. Elfische Hochmagie hatte Myth Nantor aus einem einzigen riesigen Korallenriff erwachsen lassen: Farbenprächtige Polypen und permuttfarbene Muschelkolonien überwucherten Hausfassaden aus Korallenskeletten. Wunderliche Meeresgezüchte überspannten Straßenschluchten aus Kalkstein. Und über allem lag ein Dunstschleier aus feinem, magischen Sprühregen, der das Korallengezücht am Leben hielt und jenen Schleier aus Regenbögen wob, der die Stadt wie ein Schutzschild umspann. Faust erspähte weder Wachpatrouillen noch Verteidigungsringe, doch Kapitän Guinges erklärte, dass nur etwa ein Drittel der Seeelfenstadt aus dem Meer ragte. Jener Teil wurde von den Handelskompanien der menschlichen Seefahrernationen verwaltet, die in der Stadt Faktoreien und Lagerhallen unterhielten. Die elfische Unterstadt war für die meisten Menschen unzugänglich und verfügte über ihre eigenen Verteidigungssysteme.
Der Kapitän gesellte sich zu seinem Steuermann und umsegelte die Stadt in weitem Bogen, um nicht auf den verborgenen Teil des Korallenriffs aufzulaufen. Das Schiff hielt auf den Hafen von Myth Nantor zu. Der Hafengestank und die fiebrige Geschäftigkeit holten die Mannschaft der Eggenstolz mit entzaubernder Nüchternheit in die Wirklichkeit zurück. Die schwer bewaffneten Söldnertrupps, die über die Handelsflotten und ihre Ladungen wachten, ließen vermuten, dass es hier nicht immer so friedlich zuging wie die paradiesische Umgebung vermuten ließ.
„Ich sehe was, was du nicht siehst“, brummte Grimwardt an seine Schwester gewandt.
Winter folgte seinem Blick und machte große Augen.
„Das ist… mein Boot!“
Verblüfft beobachtete Faust wie der Anblick eines kleinen Einmasters, dessen Segel ein schwarzes Blumenemblem zierte, Winters mysteriöse Krankheit mit einem Schlag heilte. Ihre Augen begannen zu leuchten, ihre Wangen röteten sich vor Freude und aller Trübsinn wisch aus ihren Zügen. Seit sie aus der Bastion der ungeborenen Seelen zurückgekehrt waren, war die Frage, was mit Winters Diebesgilde in Hlondeth geschehen war, unausgesprochen geblieben. Da Hlondeth von der Zauberpest von der Landkarte getilgt worden war, hatten sie angenommen, dass die Schwarze Dahlie mit der Stadt untergegangen sei. Doch weder Faust noch Grimwardt hatten diesen Verdacht auszusprechen gewagt. Irgendetwas stimmte nicht mit Winter – warum also in neuen Wunden stochern, wenn die alten noch nicht verheilt waren?
Offenbar hatten sie sich gründlich getäuscht!
Zu ungeduldig, um zu warten, bis die schwerfältige alte Eggenstolz vor Anker ging, ergriff sie ihre Gefährten bei den Händen, teleportierte auf den Anlegesteg und bahnte sich, ihre überrumpelten Freunde im Schlepptau, einen Weg durch das Gewusel von Söldnern und Hafenarbeitern. Grimwardt brummte eine Verwünschung, da Winters ungestüme Teleportation ihn beinahe Hafenwasser hätte schlucken lassen. Doch Faust entging nicht, dass Winters Verwandlung auch ein wenig auf ihren Bruder abgefärbt hatte.
„Bregan!“
Der nachlässige Bootswächter fuhr mit einem erschrockenen Schnarcher von seiner Hängematte auf und riss die Armbrust in die Höhe, die ihm während seines Mittagsschläfchens in den Schoß gesunken war.
„Herrin… Winter?!“ Er ließ von der Waffe ab und rieb sich ungläubig die Augen. „Zwick mich der Krebs, Ihr seid es wirklich!“
„Zuverlässig wie eh und je!“, spottete sie, während sie leichtfüßig an Deck kletterte, um den alten Halunken in die Arme zu schließen.
Verlegen kratzte sich Bregan am Kopf.
„Ihr seid noch am Leben! Und schöner denn je!“
„Du bist auch… noch am Leben. Erzähl, wie es dir ergangen ist!“ Winters Stimme überschlug sich vor Freude. „Wie bist du der Zauberpest entkommen? Und was ist mit den anderen geschehen?“
Bregan begann zu erzählen: „Als uns in Hlondeth die ersten Berichte aus Halrua erreichten, rief Tigil den Kriegsrat zusammen… äh, so nannte er den inneren Gildenzirkel. Eigentlich traf Tigil nach Eurem Verschwinden immer alle Entscheidungen allein, aber Ihr kennt ihn ja: Im Zweifelsfall tragen immer die anderen die Verantwortung! Er entschied sich dafür, den Vilhongriff zu verlassen. Eigentlich wollten wir nach Damara segeln. Tigil hatte dort ein paar Kontakte geknüpft. Aber Kapitän Folocer - ich bezweifle, dass er zuvor wirklich schon mal am Steuerrad eines Schiffes gestanden hatte - kam völlig vom Kurs ab. Irgendwo in der Nähe der Pirateninseln gerieten wir in einen Sturm, der vier Tage andauerte. Wir waren halb verdurstet und völlig am Ende, als wir von Seeelfen gerettet wurden. Wir waren nicht die einzigen, die sie nach der Zauberpest aus dem Wasser fischten und hierher brachten….“
Bregan hielt inne, als sich die Bodenluke öffnete. Aus einem kinnlosen Gesicht, so zerknittert wie eine alte Morchel, blinzelten zwei kleine tränende Augen ins Licht.
„Brutus!“ Ein Hauch von Beklommenheit streifte Winters Blick, als sie den altersschwachen Ork erkannte, doch ein heiteres Lächeln wusch ihre Bestürzung sogleich hinfort.
„Dachte, ich hätte was gehört“, tatterte der altersschwache Ork fahrig. Er schien Winter nicht zu erkennen.
„Er ist fast blind und ohne seine Hörmuschel kann er nicht mal zwischen einem Möwenschrei und einem Steinschlag unterscheiden“, erklärte Bregan. „Er ist jetzt über Dreißig, ein stattliches Alter für einen Ork. Tigil hat das Boot restaurieren lassen und lässt ihn hier seinen Lebensabend verbringen.“
„Tigil ist auch in der Stadt?“
Bregan lachte und deute auf die Handelsflotte, die gleich neben Winters Hausboot vor Anker lag. Auch die Segel der vier dreimastigen Galeeren zierte das Emblem der schwarzen Dahlie.
„Tigil gehört die Stadt!“
Winter
Kurz darauf in der Faktorei der Handels- und Aktiengesellschaft „Schwarze Dahlie“.
„Winter! Welch freudige Überraschung! Dein Anblick versüßt meinen Tag!“
Mit etwas nervös anmutender Euphorie kletterte Tigil hinter dem aufwendig verzierten Monstrum von Alabastertisch hervor, der die Hälfte seines Arbeitszimmers einnahm. Immerhin schien seine Wiedersehensfreude nur so weit geheuchelt, wie er fürchten musste, dass Winter gekommen war, um ihr Boot zurückzufordern. Sie unterdrückte ein Niesen, als sie von der betörenden Duftwolke erfasst wurde, die den Halbling umwaberte. Passend zu einem himmelblauen Sakko trug er blaue Laschenschuhe, die in hautengen Strümpfen steckten (was die frappierende Ähnlichkeit zwischen seinen dürren O-Beinchen und den gedrechselten Beinen des Arbeitstisches unterstrich). Sein karottenrotes Haar türmte sich über seinem Kopf zu einem Gebilde auf, das einem explodierenden Kürbis glich. Und auch die pompöse Einrichtung des Arbeitszimmers ließ vermuten, dass Tigil nicht viel auf vornehme Zurückhaltung gab.
„Tigil!“ Winter war nicht nur metaphorisch geblendet von all dem Schnickschnack. „Meinen aufrichtigen Respekt, du bist… ganz offenbar ein großer Mann in dieser Stadt!“
Dem Halbling schwoll die Brust.
„Hehe, nicht nur in dieser Stadt!“ Tigil klatschte zweimal kurz in die Hände, woraufhin Diener mit Getränken und exotischen Appetithäppchen anrückten, um die Gäste zu bewirten. „Was gibt es Besseres als einen zollfreien Warenumschlagsplatz! Schätze, die Spitzohren werden irgendwann spitzkriegen, was sie sich hier durch die Lappen gehen lassen, aber bis dahin ist diese Stadt das reinste Steuerparadies! Und meine Investoren gewähren großzügige Kredite, solange ich einmal im Jahr eine saftige Dividende ausschütte. Ich handele mit allem, was sich zu Geld machen lässt! Magie, Rohstoffe, Textilien, Skl… äh Schlachtrösser. Außer in Myth Nantor habe ich noch Niederlassungen in Damara und Tay und gerade lasse ich eine neue Flotte bauen, um nach Süden zu expandieren!“
Winter verstand nur die Hälfte von all dem kaufmännischen Kauderwelsch, doch sie vermutete, dass der neumodische Hokuspokus in erster Linie dazu diente, von Tigils brisanteren Geschäften abzulenken. Der findige Schurke hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, sich aus der Affäre zu reden.
„Wie ich sehe, bist du ein rechtschaffener Mann geworden!“
Sein aalglattes Geschäftsführer-Lächeln bestätigte Winters Vermutung. Mit schlecht geheuchelter Diskretion stieß er sie an und raunte mit einem Kopfrucken in Fausts Richtung: „Und deine… Abenteuersache läuft gerade nicht so gut?“
„Oh, Faust riecht für gewöhnlich nicht wie ein Yeti“, beeilte sich Winter das ungepflegte Auftreten ihres Gefährten zu entschuldigen. „Ihm ist nur das Pfeifenkraut ein wenig zu Kopf gestiegen.“
„Nun, da lässt sich Abhilfe schaffen!“ Tigil zog einen goldenen Schlüssel aus seiner Westentasche und warf ihn Faust zu. „Ich habe ein Badehaus, nicht weit von hier“, prahlte er beiläufig. „Brutus!“ Der Halbork-Wächter, der vor der Tür Wache gestanden hatte, sah zu ihnen herein. „Das ist Brutus Junior. Er wird Euch begleiten. Nur keine Scheu, die Einrichtung wird von zwei reizenden jungen Halblingsdamen betreut, die sich gerne um Euch bemühen werden.“
„Hm, ich bin jedenfalls überzeugt, dass sie sich gerne um Euch… bemühen“, bemerkte Faust . Doch er beschwerte sich nicht, als der Halbork ihn mit einer einladenden Geste aus dem Zimmer komplementierte.
Als die Tür hinter ihnen zuschwang, stieß Winter den Halbling aufgeregt an. „Brutus Junior? Ist das etwa…“
„Sein Sohn, ja“. Tigil seufzte rührselig. „Guter Mann, Brutus, guter Mann…“ Dann räusperte er sich und sein verklärter Blick wich wieder dem geschäftstüchtigen Saubermannlächeln. „Dann läuft es also gut? Hättet ihr Interesse, in mich zu investieren? Wirklich, es lohnt sich! Und Eure Namen würden sich auf meinem Banner wirklich gut machen. Da wir gerade dabei sind - ein Rat vom Profi: Ihr solltet euch unbedingt einen Heldennamen zulegen! So etwas wie die Ritter des Lichts oder die Schrecken der Meere, wirklich, bei eurem Grad an Berühmtheit…“
„Ähm, Tigil“, unterbrach Winter den Redefluss des Halblings. „Eigentlich sind wir hier wegen eines Auftrags. Wir…“ Sie überlegte, wie viel sie dem findigen kleinen Betrüger anvertrauen konnte und entschied sich für: „Wir sind hier, um Informationen über die Haibannmauer zu sammeln.“
„Oh.“ Es klang enttäuscht. „Nun… Die Seeelfen bleiben für gewöhnlich unter sich. Aber ihr könnt es mal in Zephyrs Rast am Südkanal versuchen. Ein Teil des Schankraumes reicht hinunter in die Unterstadt und ist bei Ebbe wasserleer. Dort trifft man an und wann auf Mitglieder der Aluendár.“
Tigil lud sie ein, ihn in die Stadt zu begleiten, solange sie auf Faust warteten. Ein Angebot, das Winter dankend annahm. Mit einem länglichen Elfenboot, das der Halbling „Gondel“ nannte, glitten sie durch die schattigen Wasserschluchten der Korallenstadt. Winter lauschte nur halbherzig Tigils ausschweifenden Prahlereien, während sie sich von der Schönheit der Elfenstadt bezaubern ließ. Der Wasserschleier formte immer neue Bilder aus Licht und dann und wann enthüllten magische Lichter in der Tiefe einen Teil der verborgenen Unterstadt. Doch Winter wurde jäh aus ihren Träumereien gerissen, als die Gondel am Marktplatz anlegte. Wie schon am Hafen herrschte auch hier ein äußerst raues Klima, das einen scharfen Kontrast zu der friedlichen Umgebung bildete. Söldnertrupps lagerten im Schatten der Marktstände und die Pulte der Geldverleiher wurden von wahren Armeen von Leibwächtern bewacht. Sogar einige Kunden waren mit Begleitschutz erschienen und bewaffnete Streitigkeiten waren an der Tagesordnung. Das Angebot reichte von kulinarischen Spezialitäten über magische Güter und Waffen bis hin zu Rauschmitteln und Giften. Interessiert betrachtete Winter gerade die Auslagen eines Magiestandes, als die Verkäuferin sie ansprach.
„Verzeiht?“
Winter sah auf. Rote Robe. Kahlrasierter Schädel mit arkanen Tätowierungen. Eine Rote Magierin von Tay. Verdammte Halsabschneider! Gerade noch erhaschte sie einen Blick auf ein blaues Leuchten, das sich aus den Augen der Magierin verflüchtigte. Offenbar teilte sie ihre Kundschaft anhand ihrer Besitztümer in Gehaltsstufen ein und ihr einladendes Lächeln verriet, dass sie gerade einen besonders dicken Fisch am Haken glaubte. Eilfertig wob sie einen kleinen Zauber, der über der sichtbaren Marktauslage eine Auswahl an mächtigeren Gegenständen erscheinen ließ.
„Euer Geschmack scheint mir ein wenig exquisiter als der des gelegentlichen Magieanwenders“, flüsterte die Magierin mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.
Winter wollte gerade zu einer ablehnenden Erwiderung ansetzen, als ihr Blick auf ein magisches Buch in einem violetten Samteinband fiel. Als sie die Hand danach ausstreckte, schlug ihr ein verheißungsvolles Knistern mächtiger Magie entgegen.
„Ah, eine gute Wahl! Wenn mich meine Intuition nicht täuscht, dann seid Ihr eine wilde Magierin, eine Hexenmeisterin, wie man allgemeinhin sagt, nicht wahr? In diesem Fall wird dieser Leitfaden Euch zu ungeahnten Einsichten in das Wesen der Magie verhelfen!“
Winter leckte sich über den Gaumen. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Sie hatte von solchen Büchern gehört! Sie waren sehr selten, weil es nur eine Hand voll Magiern gab, die fähig waren, sie herzustellen. Sie räusperte sich.
„Wie viel?“, fragte sie so desinteressiert wie möglich.
Dennoch blieb ihr bei dem Preis, den die Tayanerin ihr nannte, die Spucke weg.
„Lasst mich darüber nachdenken.“
Nicht, dass sie einen solchen Betrag in letzter Zeit auch nur zu Gesicht bekommen hätte! Doch sie kannte da jemanden, der sich ein kleines Vermögen erschlichen hatte… Sie fand Tigil bei den Anlegestellen, wo Faust und Brutus soeben eingetroffen waren. Mit viel rührseligem Gejammer über die Zeiten, da man hochrangige Helden noch mit barem Geld entlohnt hatte, und zahlreichen Verweisen auf ihre gemeinsame Zeit in Hlondeth trug sie dem Halbling ihr Anliegen vor. Tigil ließ seine ehemalige Gildenherrin ein wenig zappeln, indem er sie mit dezenter Süffisanz darauf hinwies, dass sie ihn bei ihrem letzten Treffen noch als Galionsfigur am Bug ihres Schiffes hatte aufknüpfen wollen. Doch schließlich hakte er sich versöhnlich bei ihr ein und tätschelte gönnerhaft ihren Arm.
„Meister Tigil macht alles möglich!“, sagte er großspurig. „Für zehn Prozent Zinsen, zahlbar innerhalb eines Jahres, plus der Überschreibung deines Hausbootes an mich, bekommst du die Moneten sofort bar auf die Hand… äh, das heißt, sobald Brutus bei meinem Schatzmeister war. Ein wahres Freundschaftsangebot! Darf man fragen, was du mit der Kohle zu erwerben gedenkst?“
„Och, nur so ein Buch…“
„Ein Buch?!?“ Tigil fiel aus allen Wolken. „150.000 Kröten für ein Buch? Ich glaube, mir wird schlecht.“
Der Halbling war tatsächlich ein wenig grün um die Nase geworden. Vergnügt zog Winter ihn weiter und bot an, ihm auf den Schrecken in Zephyrs Rast einen Zwergenschnaps auszugeben. Gemeinsam steuerten sie das Gasthaus an. Tigil hatte nicht zu viel versprochen: Die elfische Taverne wartete mit dem ungewöhnlichsten Schankraum auf, den Winter je zu Gesicht bekommen hatte. Der fensterlose Saal mutete wie eine Tropfsteinhöhle an. In den feuchten, glitzernden Wänden spiegelte sich das magische Lichtermeer, das sich über die Tische auf der Galerie ergoss, an denen menschliche Händler und anderes Landvolk speiste. Noch bemerkenswerter jedoch war der Großraum: Pfützen auf dem Boden erinnerten daran, dass dieser Teil der Taverne bei Flut überspült war. In kreisrunden Becken, die randvoll mit Wasser gefüllt waren, das brodelnde Blasen warf, saßen Seeelfen bei Speis und Trank beisammen. Die ersten Seeelfen, die Winter hier in Myth Nantor zu Gesicht bekam!
„Warum lassen die sich bei lebendigem Leib kochen?“, fragte Faust verständnislos.
„Das Wasser in den Sprudelbecken ist nicht so heiß wie es aussieht“, dozierte Tigil weltmännisch. „Die magischen Blasen verursachen ein angenehmes Kribbeln. Bei den Spitzohren haben diese Dinger Tradition.“
„Ich glaube, ich mag diese Seeelfen“, grinste Faust und schlenderte neugierig auf eine der sprudelnden Sitzecken zu.
„Ohne mich“, brumme Grimwardt. „Ich schwör‘ meinem Gott ab, ehe ich mich in eine Wasserschüssel setze, die mich am Hintern kitzelt!“
Tigil pflichtete dem Kriegspriester bei und Miu weigerte sich wie meistens etwas zu tun, das ihr womöglich Spaß bereiten konnte. So war Winter die einzige, die Faust in den elfischen Teil der Taverne folgte. Als sie ihn in dem Gedrängel fand, das zu dieser Mittagsstunde in Zephyrs Rast herrschte, lehnte er bereit mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck in einem der Becken und ließ sich von den sprudelnden Bläschen berauschen. Weniger berauscht waren die drei Seeelfen, die seinetwegen gezwungen waren enger zusammenzurücken. Die beiden Krieger packten nach einem raschen Augenwechsel ihre Speere und verließen empört die Sitzecke. Die Druidin dagegen betrachtete ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Befremdung und Neugier. Ihre Haut war blass und durchscheinend, jedoch so reich an feingestochenen Tätowierungen, dass sie blau wirkte. Beim Sprechen vibrierten die beiden breiten Schlitze, die sich schräg über ihre Kehle zogen – ihre Kiemen. Die großen Augen der Seeelfe waren von einem tiefen, glanzlosen Blauschwarz, ebenso wie ihr dichtes Haar, das ihr in schmal geflochtenen Zöpfen über die unbekleidete Brust fiel. Und zwischen ihren langen, schmalen Fingern spannten sich Schwimmhäute.
„Dann ist es also wahr, was man sich über die Menschen erzählt?“ Ihre Stimme war dunkel und rau und sie sprach akzentfrei, doch mit einer ungewöhnlichen Melodie. „Ihr besitzt weder Anstand noch Manieren.“
Ihre Augen waren voller Ernsthaftigkeit auf Faust gerichtet und nur ein feiner Zug um die Mundwinkel wies auf den Hauch von Ironie hin, der in ihren Worten mitklang.
„Nö, ich wollte nur die Spreu vom Weizen trennen“, erwiderte Faust augenzwinkernd und wohlwissend, dass sie die landwirtschaftliche Metapher nicht verstehen würde. Sie runzelte leicht die Stirn, ergriff jedoch zögernd seine Hand, als er sie ihr zur Begrüßung reichte. Nun wagte auch Winter, sich zu den beiden in die Sitznische zu gesellen. Ein wenig verlegen tauchte sie in voller Abenteurermontur in das Sprudelbecken. Das massierende Rütteln der warmen Strömungen, die das Wasser zum Sprudeln brachten, war ein wenig gewöhnungsbedürftig und nicht eben appetitanregend, fand Winter. Aber fraglos war es in anderer Hinsicht anregend…
Faust begann mit einigen unverfänglichen Themen zur seeelfischen Kultur und ließ sich von der Elfe in kulinarischen Fragen beraten. Sie hieß Yluné und war in Begleitung eines Trupps von Aluendár-Kriegern in der Stadt, die gegen einen feindlichen Sahuagin-Stamm ins Feld zogen. Schließlich wagte Winter, sie nach der geheimnisvollen Insel in der Nähe der Haibannmauer zu fragen.
„Es gibt dort keine Inseln“, erklärte Yluné. „Der östliche Ozean ist sehr tief. Aber ich habe Aluendár-Krieger, die an der Haibannmauer stationiert waren, von einem geheimnisvollen Flecken Land sprechen hören. Eine Insel, die nur bei Vollmond erscheint. Wir nennen sie darum tol-silvéin, die Vollmondinsel.“
Das klang nach dem perfekten Versteck für einen Piratenschatz! Und es erklärte, warum Winters Zauber die Insel nicht gefunden hatte.
„Gibt es auf der Insel eine Stadt namens Nhalloth?“
„Das weiß ich nicht. Davon erzählen die Sagen der Aluendár nichts. Eine elfische Stadt kann es nicht sein. Das Wort klingt eigenartig auf meiner Zunge.“
„Wie lange ist es hin bis zum nächsten Vollmond?“
Die Druidin rechnete stumm nach und erwiderte dann: „Einundzwanzig Tage, den heutigen nicht mitgerechnet.“
Genug Zeit, um dem Geheimnis der Schatzkarten auf die Schliche zu kommen…
Faust
Sieben Tage später, nördliches Grenzgebiet der Alu‘Tel’Quessir.
Geduldig wartete Faust, bis Yluné die rituelle Zeichnung, die seine rechte Gesichtshälfte bedeckte, mit einem Schutzzauber überzogen hatte, der verhindern sollte, dass der Ozean die elfischen Symbole sogleich wieder hinfort wusch. Ein letztes Mal betrachtete die Druidin kritisch ihr Werk, dann erklärte sie feierlich: „Nun bist du ein Sha’Quessir, ein Freund meines Volkes.“
Anerkennend klopften die Aluendár-Krieger, die für das Initiationsritual mit ihnen an Land gekommen waren, dem frischgebackenen Elfenfreund auf die Schulter. Faust hatte geglaubt, dass es eine Erleichterung sein würde, nach vier Tagen unter dem Meer endlich wieder die Sonne zu Gesicht bekommen, doch das Gegenteil war der Fall. Seine Augen brannten und tränten ohne Unterlass nach der langen Zeit im Dunkeln und seine aufgequollene Haut begann trotz Ylunés Schutzzaubern an einigen Stellen zu nässen. Doch das war es wert gewesen!
Sie hatten es nicht besonders eilig gehabt, mehr über Nhalloth und den Illithidenkapitän herauszufinden. Schließlich blieb ihnen bis zum nächsten Vollmond noch genug Zeit. Die Gefährten waren also fürs erste in Myth Nantor geblieben. Winter hatte sich in das Buch vertieft, das sie auf Pump gekauft hatte. Indessen hatte Tigil Grimwardt unter seine Fittische genommen, um ihn mit etwas vertraut zu machen, das er Kontoführung nannte, und mit dem es dem Priester angeblich möglich sei, „die Effizienz der Abtei zu steigern“, wie es Meister Kürbiskopf zu nennen pflegte. Was auch immer das bedeuten mochte, Grimwardt schien tatsächlich einen Narren an Tigils Kaufmannssülze gefunden zu haben. Und Miu war ganz verzaubert von der mysteriösen Schönheit der Korallenstadt. Faust dagegen drohte vor Langeweile zugrunde zu gehen. Am Tag nach ihrem Treffen in Zephyrs Rast hatte er Yluné wiedergetroffen und sie hatte ihn in die geheimnisvolle Unterstadt entführt. Als sie mit ihrem Kriegertrupp nach drei Tagen abreisen musste, hatte er sich kurzentschlossen Winters magisches Amulett des Wasseratmens geborgt und war ihnen in die Tiefen des Seeelfenreiches gefolgt.
Die Aluendár waren ausgesandt worden, einen Trupp Sahuagin-Räuber zur Strecke zu bringen, die im Grenzgebiet einige Seeelfen-Dörfer überfallen hatten. Der Krieg zwischen Seeelfen und Sahuagin währte seit Jahrtausenden. Frieden, hatte Yluné Faust erklärt, konnte es zwischen ihren Völkern nicht geben, dazu reichten die Wurzeln ihrer Fehde zu tief. Sie hatte ihm von den grausamen Opferriten des Fischvolks erzählt. Für ihre blutdürstenden Götter opferten ihre Priester nicht nur elfische Sklaven, sondern sogar Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft. Doch Faust hatte die Aluendár Rache für die verwüsteten Dörfer nehmen sehen und in Sachen Grausamkeit standen sie ihren Erzfeinden in nichts nach. Im Lager der Räuber hatte der Trupp befruchtete Eier gefunden. Die Elfen hatten die ungeborenen Kinder der Sahuagin ohne Vorbehalte zertrümmert. Ein einziges Frischgeschlüpftes hatten sie verschont und in ein nahgelegenes Elfendorf gebracht. Yluné hatte erklärt, dass ein Fluch auf den Sahuagin lastete, der ihre Kinder nicht nur die Kultur sondern auch die Gestalt des Feindes annehmen ließe, wenn sie unter seinesgleichen aufwuchsen. Im Geheimen hatte Faust gedacht, dass die Sahuagin somit allen Grund hatten, die Elfen zu verteufeln. Doch es lag ihm fern, irgendeine Seite zu verurteilen. Er hatte gerade erst begonnen, die fremde Welt der Meere zu entdecken. Die Moral der Oberwelt schien auf diese Welt mit ihrer erstaunlichen Schönheit und ihrer unbarmherzigen Grausamkeit einfach nicht zu passen… Außerdem hatte er das Gemetzel, das ihm den Respekt der Elfenkrieger eingebracht hatte, viel zu sehr genossen!
„Sie sagen, für einen N’Tel’Quessir hast du dich ganz gut geschlagen“, übersetzte ihm Yluné die scherzhaften Sticheleien ihrer Aluendár-Begleiter. Ihr Elfisch hatte sich durch das Leben in der Tiefe so sehr von der Sprache der Landelfen entfernt, dass Faust sie nur verstand, wenn sie langsam sprachen.
„Für einen Menschen? Pah!“, ging Faust auf ihr Spiel ein. „Also hört mal, ich habe einen Jahrtausende alten Vampir-Drachen besiegt! Ich war gegen Hadhrune von Umbra siegreich und habe einen dämonischen Halbgott bezwungen und Drizzt Do’Urden hätte ich beinahe das Handwerk gelegt! Eine Handvoll Fischmenschen ist nun wirklich keine Herausforderung für mich!“
Yluné gab seine Antwort an die anderen weiter und es erhob sich ein kleiner Disput. Die Augen des Anführers blitzten herausfordernd.
„Sie finden, du hast kein Recht, so zu reden“, erklärte Yluné schmunzelnd. „Deine Erfolge in der ravan-Welt zählen hier nicht. Efendiel meint, dort oben magst du ein Held sein, aber hier unten könntest du mit deiner Kampfkunst nicht bestehen. Er sagt, ein richtiger Krieger braucht keine Magie, um zu kämpfen.“
Faust erhob sich und breitete kampflustig die Arme aus.
„Herausforderung angenommen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
Aufgeregtes Gemurmel.
Schließlich erklärte die Druidin: „Es gibt eine Tiefsee-Grotte nicht weit von hier. Dort lebt alta’even, die Riesenkrabbe. Jungkrieger müssen mindestens solange im Kampf mit ihr bestehen, wie ihr Trupp braucht, um die Grotte einmal im Tauchgang zu umrunden, bevor sie in die Reihen der Aluendár aufgenommen werden. Wenn du sie besiegst, sagt Efrendiel, sollst du auch in unserer Welt ein Held sein.“
Efrendiel zwinkerte ihm schelmisch zu.
„Na dann, lasst uns Krabbensalat machen!“
Die Krieger packten ihr Hab und Gut und liefen in die Wellen. Wenig später waren sie wieder von der Düsternis und Stille des Ozeans umgeben. Faust hatte Mühe, den wendigen Elfen durch das kühle Nass zu folgen, und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Tauchgeschwindigkeit seinetwegen drosselten. Doch wenn es um die Kampfkunst ging, war er ohne Zweifel, dass er es mühelos mit jedem von ihnen aufnehmen konnte – selbst in den Tiefen des Meeres. Sie mochten hervorragende Speerkämpfer und kluge Netzstrategen sein, doch Faust wusste, dass er inzwischen jedes Maß übertraf. Er würde ihnen eine Schau liefern, von denen sie noch ihren Enkeln erzählen würden!
Die Elfen begleiteten ihn bis zum Eingang der Grotte. Mit einem Handzeichen gab Yluné ihm zu verstehen, dass sie in seiner Nähe bleiben würden. Dann tauchte er allein in die Grotte. Die lichtlose Umgebung schluckte seinen Lichtzauber und schränkte sein Blickfeld auf eine halbe Armlänge ein. Lautlos glitt er durch die Finsternis. Nach einer Weile spürte er felsigen Untergrund unter seinen Füßen. Vorsichtig kletterte er den Fels entlang, höher und höher, bis er gegen eine glatte Wand stieß. Hier ging es nicht mehr weiter. Hatte er bereits das Ende der Grotte erreicht? Wenn er nur mehr sehen könnte. Ratlos tastete er sich an der Wand entlang… als diese sich plötzlich bewegte. Etwas entriss die Felsspalte, an der er sich gerade noch entlang gehangelt hatte, seinem Griff. Hastig stieß er sich ab und trieb im aufgewühlten Wasser. Plötzlich drang ein helles gelbes Licht aus der Spalte. Der Riss wurde immer größer und das Licht drängte die Felswand in die Höhe, bis… eine Pupille! Mitten im Fels öffnete sich ein türgroßes, glühend gelbes Auge! Er hatte die Riesenkrabbe gefunden und der Name war maßlos untertrieben! Das Vieh war nicht in der Grotte, es war die Grotte! Plötzlich nahm diese Mutprobe völlig neue Maßstäbe an! Die Aufregung pochte wild in seinen Adern.
Faust bildete eine Linie mit seinem Schwert, als er tauchend auf das Monstrum zu stob. Das Ungeheuer hatte nicht einmal Zeit sein zweites Auge zu öffnen, da sprengte Fausts wirbelndes Schwertgewitter bereits die gelbe Regenbogenhaut. Durch schwabblige Gewebeschichten metzelte er sich einen Weg zum winzigen Gehirn der monströsen Krabbe und der Krabbensalat war serviert, ehe das Ungeheuer auch nur eine seiner tonnenschweren Scheren erhoben hatte.
Verdammt, das ging schneller als erwartet!
Triumphierend, mit einem Hauch von Enttäuschung, ließ er sich zu Boden gleiten. Von diesem Kampf hatte er sich mehr erhofft. Er spürte die Elfen, ohne sie zu sehen. Als sein Lichtzauber sie erfasste, erkannte er, dass sie sich im Halbkreis um ihn geschart hatten. Völlig lautlos waren sie ihm nachgetaucht, um dem Schauspiel beizuwohnen.
Mehr habt ihr nicht zu bieten?, sagte sein Blick, als er sich grinsend an Efrendiel wandte. Doch das Grinsen verging ihm schnell. Die Miene des Aluendar-Anführers war wie versteinert, seine Augen geweitet, sein Kiefer angespannt und seine Kiemen bebten. Ohne ein Wort hob er die Hand und gab seinen Kriegern den Befehl zum Aufbruch. Als Faust Anstalten machte ihnen zu folgen, wies er ihn mit einer schneidenden Geste zurück. Fassungslos sah Faust zu, wie sie flink wie Aale davon glitten. Nur die Druidin Yluné blieb zurück. Ihre blauschwarzen Elfenaugen waren traurig und ernst.
Ich bringe dich zurück an die Oberfläche, sagte sie mit einer Handbewegung. Schweigend folgte Faust ihrer Führung.
„Scheiße, Yluné, was war da unten denn los?!“, platzte es aus ihm heraus, kaum dass er wieder Luft atmete. „Ich habe die Krabbe besiegt und die Wette gewonnen! Seid ihr so schlechte Verlierer?“
„Du solltest sie besiegen, nicht töten“, sagte die Druidin leise. „Sie ist ein Kind des Ozeans, wie wir.“
„Ach, und was ist mit den Sahuagin? Sind das keine Kinder des Ozeans!“ Verfluchte Elfen! Kaum glaubte man sie zu verstehen, stießen sie einen vor den Kopf!
„Und da war die… die Art, wie du sie getötet hast.“
„Was soll das denn heißen?“
„Das war nicht normal. Kein Mensch kämpft so.“
„Sondern?“
Yluné zögerte.
„Na los, sprich es aus!“
„Teufel und Dämonen kämpfen so.“
Faust lachte bitter auf.
Grimwardt
Vier Tage später, Rabenklippe.
Dezentes Schlürfen und Löffelklappern waren die einzigen Geräusche bei Tisch. Unter seiner Rüstung spürte Grimwardt wie ihm Schweißperlen den Rücken hinab rannen, während er versuchte sich beim Essen so wenig wie möglich zu bewegen, um nicht durch lautes Klappern und Scheppern unangenehm aufzufallen. So angespannt hatte er sich zum letzten Mal als Knabe kurz vor der Weihprüfung gefühlt! Und sie waren noch nicht mal beim zweiten Gang angelangt! Beim Feuerschild, wie hatte er sich nur zu einem Abendessen bei Familie MacLancastor überreden lassen können? Lady Helena hatte die Vorspeise damit verbracht, mit forschem Blick zwischen Faust und seiner „Gattin“ hin und her zu blicken. Da sie auf keine ihrer Fragen mehr als ein verlegen Lächeln von Mius Seite und ein unflätiges Schnauben von Fausts Seite geerntet hatte, war sie schließlich zu unverfänglicheren Themen übergegangen. Auf ihre liebenswürdig-süffisante Frage, weshalb Faust aussehe wie ein angemalter Sune-Tempel, hatte ihr Sohn ihr in allen blutigen Einzelheiten von seinen Erlebnissen bei den Seeelfen berichtet. „Krabbensalat“ war dabei das einzige Wort gewesen, das auch nur halbwegs tischtauglich war. Auch die Nachricht, dass Claire es sehr „bedauere“, (Faust hätte sich wenigstens das schadenfrohe Grinsen sparen können!) dass ihre Arbeit auf der Eggenstolz sie von einem Besuch abhielt, hatte die Stimmung bei Tisch nicht eben gehoben.
„Und was gibt’s bei dir so Neues?“, leitete Faust gerade den zweiten Akt des Trauerspiels ein.
„Die übliche Misere“, erwiderte Lady Helena mit einem Seufzen. „Lady Bartens Prahlereien über ihre Brieftaubenzucht echauffieren die gesamte Nachbarschaft. Und dabei taugen die dummen Dinger zu nichts weiter, als den Vorgarten zu verunstalten!“
„Sag’s, wenn ich behilflich sein soll“, murmelte Faust gelangweilt. „Ich könnte ja im Gegenzug Lady Bartens Garten zukacken… oder so.“
Winter spie prustend einen Mundvoll Pastete auf ihren Teller. Lady Helena dagegen hatte eine dicke Haut, wenn es um die Provokationen ihres Sohnes ging.
„Was habe ich doch deinen Fäkalhumor an diesem Tisch vermisst!“, sagte sie mit einem eisigen Lächeln, nur um dann nahtlos das Thema zu wechseln: „Habe ich übrigens erwähnt, dass dieser Elf aus dem Orden hier war? Eigenartiger Bursche, ich denke du kennst ihn von früher…“
„Tyrael?“ Alarmiert sah Faust auf. „Was wollte er?“
„Wissen, wo du steckst. Offenbar erliegt er der phantastischen Vorstellung, dass du deiner Mutter mehr erzählen würdest, als dass du wieder einmal die Welt retten musst. Ich soll dir übrigens ausrichten, dass er dich finden wird, egal wo du steckst. Äußerst charmantes Kerlchen, hat beim Sprechen ständig die Nase krausgezogen.“
„Damit versucht er, den Ekel zu überwinden, den es ihm bereitet, mit dir zu sprechen“, ließ Faust sie wissen. Er wartete, bis sich ihr überhebliches Lächeln zu einem pikierten Lippenstrich verzogen hatte, ehe er hinzufügte. „So reagiert er auf alle Menschen.“
Doch die Drohung des Elfen schien ihn in größerem Maße aufzukratzen, als er zugeben wollte. Grübelnd starrte er auf seinen Teller. Grimwardt kannte diesen konzentrierten Blick. Winter nannte ihn den „Neun-Schwerter-Blick“. Was auch immer es war, das Faust verfolgte, es führte ihn immer wieder zurück nach Rabenklippe, in die Nähe jenes ominösen Ordens der Neun Schwerter. Grimwardt war kein neugieriger Mann. Genau genommen fühlte er sich sogar sicherer dabei, nicht zu wissen, welche Dämonen seinen Mitstreiter plagten. Wissen brachte Konflikte und Konflikte trübten das Urteilsvermögen. Aber er fühlte sich verantwortlich für ihre kleine Gruppe und wenn Fausts Probleme anfingen, die Gruppe zu infizieren, dann würde er sich ihrer annehmen müssen.
„Vielleicht sollte ich mich stellen“, sagte Faust plötzlich.
Seine Mutter runzelte die Stirn.
„Desmond, wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, dann solltest du darüber keine Scherze machen.“
„Ich scherze nicht“, erwiderte Faust. „Ich kann nicht ewig davonlaufen… Außerdem könnte der Orden uns bei unserer Mission helfen. Wir suchen nach einem Piratenkapitän, einem uralten Illithiden mit außergewöhnlichen Kräften. Omega, die Anführerin des Ordens, ist… Ich weiß nicht genau, was sie ist. Aber man munkelt, sie sei unsterblich. Ihr Wissen übersteigt selbst das der meisten Elfengelehrten. Vielleicht weiß sie etwas über diesen Kapitän Morloch.“
„Ich könnte doch hingehen“, hörte Grimwardt sich selbst sagen.
„Grim“, sagte Winter überrascht. „Willst du das wirklich?“
Eigentlich nicht. Bei Veiros und Deiros, was tue ich hier?
„Warum nicht? Erzähltest du nicht, dass Hades Mitglied dieses Ordens ist, Faust? Wir haben Seite an Seite gekämpft und Hades schien mir immer ein vernünftiger Mann zu sein. Warum sollte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten und ihn um eine Audienz bei dieser Omega bitten?“
Faust und seine Mutter starrten ihn ungläubig an. Dann lachten sie gleichzeitig auf und zum ersten Mal sahen sie sich so verblüffend ähnlich, dass niemand an ihrer Verwandtschaft gezweifelt hätte.
„Du willst Hades um etwas bitten?“