Kapitel II: Mord in Silbrigmond
Winter
Silbrigmond am selben Abend
Winter war es ein Rätsel, weshalb sich Dorien jahrelang gegen einen Besuch in seiner Heimatstadt gesträubt hatte: Silbrigmond mit seinen malerischen Gassen und schneeweißen Türmen wurde seinem Ruf als Juwel des Nordens in jeder Hinsicht gerecht. Und ihre Schwiegereltern für einen Tag gehörten auch nicht gerade zu der Sorte, deren Tage man insgeheim zählte. Doriens Mutter, eine quirlige Zauberkundige, unterhielt im Künstlerviertel der Stadt einen kleinen Maskenladen, in dem sie ihre kunstvollen Eigenkreationen feilbot. Sein Vater, seines Zeichens Hofmaler am Hofe von Fürstin Alustriel, hatte ein kleines Atelier auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Scarlet hatte sich gleich mit Marlas Katzenvertrauter und deren Nachwuchs angefreundet und schien sich hier auf Anhieb heimisch zu fühlen. Und auch Winter genoss den Tag. Als „Hochzeitsgeschenk“ hatte Dorien ihr - natürlich nicht ohne die ein oder andere spitze Bemerkung fallen zu lassen – bei der Bewältigung ihres Brunnenproblems geholfen. Als Gegenleistung mimte Winter nun die glückliche Ehefrau. Nach zwanzig Jahren Erfahrung als Heiratsschwindlerin fiel ihr diese Rolle nicht sonderlich schwer. Und bei so manchem Blick, den ihr Ehemann ihr über die Gespräche bei Tisch zuwarf, ertappte sie sich sogar dabei, wie sie die Rolle zu genießen begann.
Am Abend luden Doriens Eltern die beiden frisch Verheirateten in die Tanzende Ziege ein. Je später es wurde, desto schneller füllte sich die beliebte Tanztaverne. Winter verlor Dorien, der einige alte Bekannte getroffen hatte, schon bald aus den Augen. Meister Dantés war über einem Glas Wein eingedöst und so fand sich die Diebesmeisterin den Fragen ihrer neugierigen Schwiegermutter mit einem Mal ganz schutzlos ausgeliefert.
„Winter, Schätzchen, du musst mir alles erzählen!“, forderte Marla Dantés gerade in einem Anflug von schwiegermütterlichem Hochzeitsfieber. „Wie habt ihr euch beide kennen gelernt?“
„Och, das ist schon eine Ewigkeit her, bestimmt fünfzehn Jahre.“ Winter blieb ihren eigenen Regeln treu: Bleibe so nah an der Wahrheit wie möglich. „Wir sind lange zusammen auf Abenteuer ausgezogen.“
Nachdem Grimwardt seine Ausbildung zum Tempuskleriker abgeschlossen und Winter sich ihres ersten Ehemanns entledigt hatte, hatten die Geschwister ihre erste Abenteuergruppe, die Glückssegler, gegründet, um die See des Sternregens unsicher zu machen. Dorien hatte niemals erzählt, was ihn dazu bewogen hatte aus seiner Heimat fortzuziehen und sich ihnen anzuschließen, doch es gehörte nicht viel Fantasie dazu, seine Beweggründe in irgendeiner unglücklichen Romanze zu vermuten.
„Und wann habt ihr geheiratet?“
Winter rechnete eilig neun Monate von Scarlets Geburt zurück.
„Das war im August vor acht Jahren.“
„August, ah, ein guter Hochzeitsmonat“, sinnierte Marla. „Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor?“ Doriens Mutter schien verwirrt. „Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Verfluchter Mist, dieser verdammte Wein.
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, korrigierte sich Winter eilig. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Winter hatte Glück: Zu beschäftigt damit, ihrem Sohn das Beste zu wünschen, kam es Doriens Mutter nicht in den Sinn Verdacht gegen ihre Schwiegertochter zu schöpfen.
Hades
Die Tanzende Ziege wäre nicht seine erste Wahl gewesen. Doch die Silbernen Ritter am Osttor hatten Hades an die kleine Künstlertaverne am Rauvin-Fluss verwiesen, als er ihnen sein Anliegen vorgetragen hatte.
Es war brechend voll und Hades konnte nur mit Mühe noch einen Sitzplatz ergattern. An jedem anderen Ort hätte der hünenhafte Streiter des Kelemvor mit den pupillenlosen Augen, die bleich aus seinem nachtschwarzen Gesicht stachen, für Aufsehen gesorgt. Doch hier, wo sich alles Volk von diebischen Halblingen bis zu anmutigen Elfenfrauen tummelte, schien der Richter von Rabenklippe nur in die Kategorie mindere Attraktion zu fallen. Dennoch kam er sich reichlich fehl am Platze vor, eingezwängt zwischen einer lautstarken zwergischen Knobelgesellschaft und einer älteren Dame, die in ein angeregtes Gespräch mit einer jüngeren Rothaarigen vertieft war, während ihr Mann das Kunststück gemeistert hatte, in all dem Trubel einzudösen. Ein paar Mal hatte Hades sich mit seinen Fragen bereits an einen der umherwuselnden Barden gewandt, doch ohne Erfolg.
Seit Jahren durchwanderte er nun den Kontinent auf der Suche nach dem Flüchtigen und seinem Verfolger. Doch niemand hatte Faust oder Tyrael gesehen oder auch nur von ihnen gehört. Was war geschehen? Hatte der Elf den Missetäter aufgespürt? Hatte Faust für seine Tat zahlen müssen? Hatten sich die beiden ewigen Kontrahenten gegenseitig im Duell getötet? Vielleicht war es an der Zeit, die Suche aufzugeben und Ersatz zu finden für die beiden verlorenen Schwerter. Doch Adepten der Schwertkunst waren rar in diesen Landen. Wahrscheinlich würde er seine Suche auf die Länder östlich des Sonnenaufgangsgebirges ausdehnen müssen, wo die Kunst der Schwertmagie ihren Ursprung hatte…
Während Hades seinen Gedanken nachhing, fing er mit halbem Ohr Gesprächsfetzen von den Nachbartischen auf. Die Knobler zu seiner Linken stritten sich in einem zwergisch-itruskischen Kauderwelsch um den Ausgang eines Spiels, während zu seiner Rechten die kraushaarige alte Dame die hübsche Rothaarige zu einer acht Jahre zurückliegenden Hochzeit befragte. Hades schloss aus der Art ihrer Unterhaltung, dass die beiden verschwägert waren.
„Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor? Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Hades horchte auf. Als Inquisitor hatte er einen siebten Sinn für Unrechtmäßigkeiten. Und so entging ihm nicht, dass die vermeintliche Schwiegertochter plötzlich gehörig ins Schwitzen geriet.
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Sie log wie gedruckt.
Eine Heiratsschwindlerin, erkannte Hades. Offenbar gaukelte sie der Dame gerade eine Ehe mit deren Sohn vor, um Anspruch auf dessen Erbe erheben zu können. Womöglich war die ganze Familie ihres Opfers in größter Gefahr. Jemand musste eingreifen.
In diesem Moment wurde die Tavernentür aufgerissen und ein Botenjunge stolperte herein.
„Mord im Adelsviertel“, verkündete er atemlos. „Lord Oleander ist tot.“
Ein Raunen erfasste die Menge und der Junge wurde von einem Pulk neugieriger Tavernengäste umringt, die ihn mit Fragen bombardierten.
„Mord muss gerade erst passiert sein… viele Schaulustige…. Ja, es gibt bereits einen Verdächtigen… Die Silbernen Ritter haben am Tatort einen Mann festgenommen…“
Hades erhob sich.
„Wie sieht der Mann aus, der festgenommen wurde?“, dröhnte er mit tiefer autoritärer Stimme. Es wurde still und alle Gäste wandten sich ihm zu. Eine Menschenschneise bildete sich zwischen dem hünenhaften Kelemvor-Priester und dem Boten.
„Hab nicht viel sehen können“, erklärte der Junge eingeschüchtert. Dann stutzte er, als sein Blick auf den Tisch neben Hades fiel, wo der Ehemann der alten Dame gerade aus seinem Nickerchen erwachte. „Er… er sah so ähnlich aus wie er!“ Der Bote wies auf den hellhaarigen Fremden. „Aber jünger.“
Die kraushaarige alte Dame wurde kreidebleich, als sich alle Blicke in ihre Richtung wandten. Die falsche Schwiegertochter sprang auf.
„Ich regle das“, sagte sie leise und verließ, ohne die Schaulustigen eines Blickes zu würdigen, die Taverne.
Hades folgte ihr.
Winter
Sie wurde von einem großen schwarzen Mann verfolgt.
Der Fremde hatte gespenstige weiße Augen und unter seinem Umhang, den eine aufgestickte Skeletthand mit einer goldenen Waage zierte, blitzte eine Sonnenklinge. Nicht gerade der Typ von Mann, den man nachts in dunklen Gassen gerne hinter sich wusste. Winter beschleunigte ihre Schritte, doch es gelang ihr nicht, den Fremden abzuschütteln.
Schließlich gab sie auf. Abrupt blieb sie stehen und wandte sich um.
„Weshalb verfolgt Ihr mich?“, zischte sie, bereit ihm einen Zauber entgegen zu schleudern, sollte der Kerl es wagen irgendetwas zu versuchen. Stattdessen begegnete er ihr mit unterkühlter Höflichkeit.
„Gestatten.“ Der Hüne senkte, eine Verbeugung andeutend, den Kopf. „Hades mein Name. Ich habe Euch in der Taverne beobachtet. Ihr kennt den Mann, der des Mordes an dem Fürsten bezichtigt wird?“
„Ich weiß wirklich nicht, was Euch das angeht“, erklärte Winter gereizt. Ein übereifriger Möchtegern-Detektiv war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Was auch immer Dorien dieses Mal schon wieder ausgefressen hatte, es klang nach einer gehörigen Portion Ärger. „Aber ja, dieser Mann ist zufällig mein Ehemann.“
Mit diesen Worten wandte sie sich um und ließ ihren Verfolger stehen.
Das städtische Gefängnis befand sich in den Kellern des Hochpalasts. Das strahlende Märchenschloss mit den vier filigranen Türmen überblickte die Stadt von einem Hügel aus. Einhornmotive zierten die kunstvolle Stuckfassade. Das Hauptquartier der Silbernen Ritter, Silbrigmonds Stadtwache, war im Nordturm des Palasts gelegen. Dort angekommen verwies man Winter an den Hauptmann. Da dieser im Moment nicht zu sprechen war, blieb ihr nichts weiter übrig, als im Vorraum zu seinem Arbeitszimmer zu warten. Dort stellte sie fest, dass der Fremde ihr hierher gefolgt war. Sie beließ es jedoch bei einem verärgerten Schnauben, als Hades es sich auf der Wartebank bequem machte, während sie ruhelos auf und ab lief.
„Habt Ihr vor ihn um sein Geld zu betrügen?“
„Wie bitte?“
„Euren Ehemann“, sagte Hades. „Ihr habt seine Mutter belogen, was die Hochzeit in Myth Drannor anging. Habt Ihr etwas mit seiner Festnahme zu tun?“
Winter blieb jäh stehen.
„Was maßt Ihr Euch an!“, empörte sie sich. Doch ihre Erzürnung schien den selbsternannten Detektiv nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Habt Ihr diesen Lord Oleander ermorden lassen?“, fragte er mit sachlicher Miene.
„Natürlich nicht!“
Winter war heilfroh, dass in diesem Moment Hauptmann Alathar in der Tür erschien. Es mochte keinen allzu guten Eindruck machen, wenn die Ehefrau eines Mordverdächtigen im Hauptquartier der Wache auf einen Fremden losging. Der Hauptmann ließ die beiden eintreten. Mit unbewegter Miene ließ er Winters Beteuerungen über sich ergehen, die ihn von der Unschuld ihres „guten Gatten“ zu überzeugen versuchte. Auf Hades’ Drängen schilderte er ihnen schließlich, was in der Nacht geschehen war: Etwa zur zwölften Stunde hatten zwei Wachen auf Nachtpatrouille im Adelsviertel Schreie gehört, die sie zur Villa der Oleanders geführt hatten, wo ihnen ein verstörter Butler entgegen geeilt war. Im Schlafgemach hatten sie den Hausherrn mit aufgeschnittener Kehle in seinem Bett aufgefunden. Dorien war mit der Tatwaffe in der Hand ertappt worden. Zudem hatte ein Mitglied der Zaubergarde, das kurz darauf zum Tatort gerufen wurde, entdeckt, dass die Hausherrin und Gemahlin des Opfers, Lady Lucinda Oleander, unter Doriens magischer Kontrolle stand. Für den Hauptmann musste es so aussehen, als habe der Mörder versucht, eine Augenzeugin zum Schweigen zu bringen.
„Durch den Butler erfuhren wir, dass der Tatverdächtige vor zwanzig Jahren ein Verhältnis mit der Fürstin gehabt haben soll“, schloss Alathar seinen Bericht. „Der Butler sagte zudem aus, dass er den Mord beobachtet haben will. “
„Was?“ Erzürnt blickte Winter auf. „Der Mann ist doch gekauft!“
„Das denke ich nicht“, erklärte der Hauptmann ungerührt. „Er stand unter dem Einfluss einer Zone der Wahrheit, als er seine Aussage machte.“
„Was sagt der Tatverdächtige selbst zu den Vorwürfen?“, wollte Hades wissen.
„Der Tatverdächtige“, äffte Winter ihn nach.
„Er bestreitet sie.“
„Und stand er dabei auch unter magischem Einfluss?“
„Ja.“
„Was ist dann das Problem?“, wollte Winter wissen. „Er kann die Tat nicht begangen haben.“
„So einfach ist das nicht“, erklärte der Hauptmann. „Magische Verhöre können manipuliert werden. Bisher haben wir nur zwei widersprüchliche Aussagen. Doch es sei Euch versichert, dass wir alles tun werden, um den Fall aufzuklären. Lord Emmet Oleander war äußerst beliebt bei den Bürgern von Silbrigmond. Sein Mörder wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.“
„Und die wäre?“
„Tod durch Erhängen.“
Stille.
„Kann ich mit meinem Ehemann sprechen?“, fragte Winter.
Hades
Kurz darauf im Kerker
Der Tatverdächtige Dorien Dantés wirkte in der tristen Umgebung der Kerkerzelle wie ein Paradiesvogel im Pappkarton. Sein geschniegeltes Äußeres ließ vermuten, dass Kerkerzellen nicht eben seinen natürlichen Lebensraum darstellten und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen nagender Sorge und düsterer Selbstironie. Doch seine Miene hellte sich auf, als er Hades’ Begleiterin erblickte.
„Winter! Den Göttern sei Dank.“ Er sprang von der Pritsche und umklammerte die Gitterstäbe der Zelle. Dann schien er sich zu besinnen, dass Kerkerstäbe rostig und eklig waren, und ließ sie hastig wieder los. Winter schob Hades beiseite und eilte auf ihn zu.
„Was ist passiert, Dorien?“, flüsterte sie ernst. „Hast du diesen Mann getötet?“
„Was glaubst du? Natürlich nicht“, erwiderte der Eingekerkerte gekränkt. „Emmet war früher mein Mentor. Ich denke, es war Drake.“
„Drake?“
„Wer sonst hätte ein Interesse daran, mich in die Falle zu locken?“
„Erzähl mir, was passiert ist.“
„Ein Straßenjunge in der Tanzenden Ziege steckte mir eine Nachricht zu. Darin bat mich Emmets Frau um Hilfe. Nun ja, zumindest glaubte ich, dass die Nachricht von Lucinda stammte. Ich rief sofort eine Kutsche und fuhr zum Anwesen der Oleanders. Die Tür stand offen, darum trat ich ein. Und dann hörte ich den Schrei. Ich rannte hoch ins Schlafzimmer und fand Lucinda, in Blut gebadet, mit einem Dolch über den leblosen Körper ihres Mannes gebeugt. Die Arme musste annehmen, sie selbst habe Emmet im Schlaf getötet. Sie war so außer sich, dass ich befürchtete, sie könnte sich selbst etwas antun, darum entwand ich ihr den Dolch und bezauberte sie, um sie zu beruhigen.“
„… und in diesem Moment kamen die Wachen ins Zimmer“, vollendete Winter lakonisch den Bericht, „und ertappten den alten Liebhaber der Fürstin dabei, wie er seine Zeugin ruhig zu stellen versuchte. Dorien, du verdammter Narr!“ Dann seufzte sie. „Du hast Recht, das klingt ganz nach Drake. Er muss den Butler bezaubert haben, weil er wusste, dass die Ritter ihn einem magischen Verhör unterziehen würden.“
Hades hatte den Gefangenen während seines Berichts beobachtet und keine Anzeichen für Unaufrichtigkeit gefunden. Doch der Richter wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Er räusperte sich vernehmlich.
„Darf man fragen, wer dieser Drake ist?“, versuchte er die beiden Eheleute auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Der Gefangene warf ihm einen irritierten Blick zu.
„Ignorier’ ihn einfach“, riet seine Anvertraute ihm säuerlich.
Hades runzelte die Stirn. So einfach ließ er sich nicht übergehen.
„Wusstet Ihr, dass Eure Frau eine Heiratsschwindlerin ist?“, schlug er zurück. Zu seinem Erstaunen schien die Frage den Eingekerkerten zu amüsieren.
„Ja, ist mir bekannt“, sagte er ungerührt. „Aber woher wisst Ihr das? Winter, ist er etwa einer deiner…?“
“Nein!“, schnappte Winter. „Sein Name ist Hades. Er verfolgt mich schon den ganzen Abend.“
Dorien rückte so nahe an Winter heran, dass die Wache misstrauisch einen Schritt nach vorne machte.
„Vertraust du ihm?“, flüsterte er, doch Hades hatte gute Ohren.
Winter zuckte mit den Schultern. „Ich denke jedenfalls nicht, dass er für Drake arbeitet. Dazu ist er zu… direkt.“
Der Eingekerkerter nickte unschlüssig.
„Hilf mir“, bat er sie ernst. „Finde heraus, warum Emmet sterben musste. Er war ein Harfneragent. Er hatte viele Feinde und einer davon hat ihm Drake auf den Hals gehetzt. Ich würde diesem Halunken nur ungern die Genugtuung verschaffen, mich für den Mord an einem Freund hängen zu sehen.“
„Ich hol’ dich hier raus“, versprach Winter.
„Und noch etwas.“ Der Blick des Gefangenen glitt besorgt über Winters Gesicht. „Scarlet… Ich weiß sie nur ungern in der Stadt, solange Drake hier ist. Dasselbe gilt für meine Eltern. Du weißt ja, was er Kaliths Familie angetan hat.“
„Ich bringe alle zu Grimwardt in die Abtei.“
„Danke.“ Dorien lächelte. „Abgesehen von der Tatsache, dass ich unsere Hochzeitsnacht im Kerker verbracht habe, war das, wie ich finde, ein durchaus gelungener Hochzeitstag.“
Winter erwiderte sein Lächeln und drückte seine Hand fester.
„Aha“, beobachtete Hades mit detektivischer Nüchternheit. „Also liebt ihr euch tatsächlich.“
Das Lächeln auf den Gesichtern der beiden gefror synchron, als sie sich umwandten, um Hades auf die Unangebrachtheit seiner Bemerkung hinzuweisen.
Grimwardt
Abtei des Schwertes, im Morgengrauen
Es war soweit. Sie griffen an.
Die nächtliche Verfolgung des Raben war wie erwartet erfolglos geblieben. Nach nur ein paar Stunden Schlaf war Grimwardt zum Morgengebet erwacht. Er hatte sich gerade vor den kleinen Schrein in seinem Zimmer gekniet, als eine Wache herein gestürzt kam, um eine feindliche Teleportation in den Innenhof der Abtei zu melden. Der Kriegspriester ließ sich hastig Rüstung und Wehrgehänge anlegen und eilte durch eine Seitentür auf den Wehrgang. Das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn so abrupt abbremsen, dass der Bote, der ihm gefolgt war, mit seinem Rücken kollidierte.
Eine Gruppe von fünf Leuten harrte, umringt von einem Trupp Speerkämpfer, im Hof der Abtei. Winters rote Mähne leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. An der Hand hielt sie ihre schlaftrunkene Tochter, die verunsichert zu einem breitschultrigen Riesen von Kelemvor-Priester aufblickte, der schützend sein Schwert erhoben hatte. Eine kleine, alte Dame mit krausem braun-grauem Haar und ein hoch gewachsener Nordmann standen eng umschlungen beieinander. Sie alle waren mit Taschen und Beuteln beladen. Die Krönung aber bildete ein Wurf kleiner Katzen, die miauend umhertapsten und neugierig die Spitzen der auf sie gerichteten Speere beschnupperten.
Eine Zornesader drohte Grimwardts Stirn zu sprengen.
„WINTER FEDAYKIN!“
Polternd stapfte der Abteileiter einen Wehrturm hinunter. Nachdem er den Speerwerfern Entwarnung gegeben und die skurrile Flüchtlingsfamilie der Obhut des Quartiermeisters überantwortet hatte, zerrte er Winter wutentbrannt in sein Arbeitszimmer. Der fremde Priester folgte ihnen unaufgefordert.
„Grimwardt, ist alles in Ordnung?“, fragte Winter beunruhigt.
„OB ALLES IN ORDNUNG IST?!“, donnerte Grimwardt. „Uns steht ein Angriff bevor! Was, bei allen neun Höllen, hast du dir dabei gedacht, unangekündigt hier aufzukreuzen? Die hätten dich und deine Katzenfreunde da draußen fast aufgespießt!“
Winter sah ihn verständnislos an.
„Worüber regst du dich denn auf?“, fragte sie. „Hier wirkt doch alles recht friedlich.“
Grimwardt lief so rot an, dass sein Bart dagegen blass wirkte. Winter nutzte die momentane Sprachlosigkeit ihres Bruders, um die Situation aufzuklären und ihn mit dem Fremden bekanntzumachen.
„Kurz gesagt: Dorien braucht unsere Hilfe“, schloss sie knapp. „Du musst mit nach Silbrigmond kommen.“
„Einen Teufel werde ich tun“, schnaubte Grimwardt. „Hast du mich nicht verstanden? DIE ABTEI WIRD ANGEGRIFFEN! Ich werde hier gebraucht!“
„Willst du Dorien etwa einfach so hängen lassen?“ Erbost sah Winter ihn an.
„Scheint, als ob er das auch ganz von allein hinbekommt!“, grunzte ihr Bruder.
Es folgte ein lautstarker Disput à la Fedaykin: Winter schmollte, tobte und wand sich, während ihr Bruder stur auf seinem Standpunkt beharrte. Hades fiel die zermürbende Aufgabe zu, zwischen den Geschwistern zu vermitteln. Letztendlich verständigten sie sich darauf, dass Winter Scarlet und ihre Schwiegereltern zu ihren Eltern nach Ashabafurt bringen würde, während Grimwardt sich auf die Abreise nach Silbrigmond vorbereitete. Während ihres letzten Abenteuers waren die Geschwister in den Besitz von zwei magischen Liebesbroschen gekommen, die dem Träger an jedem Ort Aufschluss über die Gefühlslage des jeweils anderen gaben. Grimwardt entschied seinem Waffenmeister Borgo eine der Broschen zu überlassen, um im Ernstfall gewarnt zu sein.
„Sobald ich auch nur den Verdacht hege, dass der Angriff beginnt, wirst du mich augenblicklich zurück teleportieren, hast du verstanden?“, forderte Grimwardt.
„Ja, verstanden“, murrte Winter.
„Und wenn ich nur zurückkomme, weil Borgo sich darüber aufregt, dass ein Vogel auf seinen Turnierhelm gekackt hat, will ich keine dummen Sprüche von dir hören, ist das klar?“
Winter verdrehte die Augen.
Winter
Silbrigmond am selben Abend
Winter war es ein Rätsel, weshalb sich Dorien jahrelang gegen einen Besuch in seiner Heimatstadt gesträubt hatte: Silbrigmond mit seinen malerischen Gassen und schneeweißen Türmen wurde seinem Ruf als Juwel des Nordens in jeder Hinsicht gerecht. Und ihre Schwiegereltern für einen Tag gehörten auch nicht gerade zu der Sorte, deren Tage man insgeheim zählte. Doriens Mutter, eine quirlige Zauberkundige, unterhielt im Künstlerviertel der Stadt einen kleinen Maskenladen, in dem sie ihre kunstvollen Eigenkreationen feilbot. Sein Vater, seines Zeichens Hofmaler am Hofe von Fürstin Alustriel, hatte ein kleines Atelier auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Scarlet hatte sich gleich mit Marlas Katzenvertrauter und deren Nachwuchs angefreundet und schien sich hier auf Anhieb heimisch zu fühlen. Und auch Winter genoss den Tag. Als „Hochzeitsgeschenk“ hatte Dorien ihr - natürlich nicht ohne die ein oder andere spitze Bemerkung fallen zu lassen – bei der Bewältigung ihres Brunnenproblems geholfen. Als Gegenleistung mimte Winter nun die glückliche Ehefrau. Nach zwanzig Jahren Erfahrung als Heiratsschwindlerin fiel ihr diese Rolle nicht sonderlich schwer. Und bei so manchem Blick, den ihr Ehemann ihr über die Gespräche bei Tisch zuwarf, ertappte sie sich sogar dabei, wie sie die Rolle zu genießen begann.
Am Abend luden Doriens Eltern die beiden frisch Verheirateten in die Tanzende Ziege ein. Je später es wurde, desto schneller füllte sich die beliebte Tanztaverne. Winter verlor Dorien, der einige alte Bekannte getroffen hatte, schon bald aus den Augen. Meister Dantés war über einem Glas Wein eingedöst und so fand sich die Diebesmeisterin den Fragen ihrer neugierigen Schwiegermutter mit einem Mal ganz schutzlos ausgeliefert.
„Winter, Schätzchen, du musst mir alles erzählen!“, forderte Marla Dantés gerade in einem Anflug von schwiegermütterlichem Hochzeitsfieber. „Wie habt ihr euch beide kennen gelernt?“
„Och, das ist schon eine Ewigkeit her, bestimmt fünfzehn Jahre.“ Winter blieb ihren eigenen Regeln treu: Bleibe so nah an der Wahrheit wie möglich. „Wir sind lange zusammen auf Abenteuer ausgezogen.“
Nachdem Grimwardt seine Ausbildung zum Tempuskleriker abgeschlossen und Winter sich ihres ersten Ehemanns entledigt hatte, hatten die Geschwister ihre erste Abenteuergruppe, die Glückssegler, gegründet, um die See des Sternregens unsicher zu machen. Dorien hatte niemals erzählt, was ihn dazu bewogen hatte aus seiner Heimat fortzuziehen und sich ihnen anzuschließen, doch es gehörte nicht viel Fantasie dazu, seine Beweggründe in irgendeiner unglücklichen Romanze zu vermuten.
„Und wann habt ihr geheiratet?“
Winter rechnete eilig neun Monate von Scarlets Geburt zurück.
„Das war im August vor acht Jahren.“
„August, ah, ein guter Hochzeitsmonat“, sinnierte Marla. „Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor?“ Doriens Mutter schien verwirrt. „Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Verfluchter Mist, dieser verdammte Wein.
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, korrigierte sich Winter eilig. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Winter hatte Glück: Zu beschäftigt damit, ihrem Sohn das Beste zu wünschen, kam es Doriens Mutter nicht in den Sinn Verdacht gegen ihre Schwiegertochter zu schöpfen.
Hades
Die Tanzende Ziege wäre nicht seine erste Wahl gewesen. Doch die Silbernen Ritter am Osttor hatten Hades an die kleine Künstlertaverne am Rauvin-Fluss verwiesen, als er ihnen sein Anliegen vorgetragen hatte.
Es war brechend voll und Hades konnte nur mit Mühe noch einen Sitzplatz ergattern. An jedem anderen Ort hätte der hünenhafte Streiter des Kelemvor mit den pupillenlosen Augen, die bleich aus seinem nachtschwarzen Gesicht stachen, für Aufsehen gesorgt. Doch hier, wo sich alles Volk von diebischen Halblingen bis zu anmutigen Elfenfrauen tummelte, schien der Richter von Rabenklippe nur in die Kategorie mindere Attraktion zu fallen. Dennoch kam er sich reichlich fehl am Platze vor, eingezwängt zwischen einer lautstarken zwergischen Knobelgesellschaft und einer älteren Dame, die in ein angeregtes Gespräch mit einer jüngeren Rothaarigen vertieft war, während ihr Mann das Kunststück gemeistert hatte, in all dem Trubel einzudösen. Ein paar Mal hatte Hades sich mit seinen Fragen bereits an einen der umherwuselnden Barden gewandt, doch ohne Erfolg.
Seit Jahren durchwanderte er nun den Kontinent auf der Suche nach dem Flüchtigen und seinem Verfolger. Doch niemand hatte Faust oder Tyrael gesehen oder auch nur von ihnen gehört. Was war geschehen? Hatte der Elf den Missetäter aufgespürt? Hatte Faust für seine Tat zahlen müssen? Hatten sich die beiden ewigen Kontrahenten gegenseitig im Duell getötet? Vielleicht war es an der Zeit, die Suche aufzugeben und Ersatz zu finden für die beiden verlorenen Schwerter. Doch Adepten der Schwertkunst waren rar in diesen Landen. Wahrscheinlich würde er seine Suche auf die Länder östlich des Sonnenaufgangsgebirges ausdehnen müssen, wo die Kunst der Schwertmagie ihren Ursprung hatte…
Während Hades seinen Gedanken nachhing, fing er mit halbem Ohr Gesprächsfetzen von den Nachbartischen auf. Die Knobler zu seiner Linken stritten sich in einem zwergisch-itruskischen Kauderwelsch um den Ausgang eines Spiels, während zu seiner Rechten die kraushaarige alte Dame die hübsche Rothaarige zu einer acht Jahre zurückliegenden Hochzeit befragte. Hades schloss aus der Art ihrer Unterhaltung, dass die beiden verschwägert waren.
„Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor? Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Hades horchte auf. Als Inquisitor hatte er einen siebten Sinn für Unrechtmäßigkeiten. Und so entging ihm nicht, dass die vermeintliche Schwiegertochter plötzlich gehörig ins Schwitzen geriet.
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Sie log wie gedruckt.
Eine Heiratsschwindlerin, erkannte Hades. Offenbar gaukelte sie der Dame gerade eine Ehe mit deren Sohn vor, um Anspruch auf dessen Erbe erheben zu können. Womöglich war die ganze Familie ihres Opfers in größter Gefahr. Jemand musste eingreifen.
In diesem Moment wurde die Tavernentür aufgerissen und ein Botenjunge stolperte herein.
„Mord im Adelsviertel“, verkündete er atemlos. „Lord Oleander ist tot.“
Ein Raunen erfasste die Menge und der Junge wurde von einem Pulk neugieriger Tavernengäste umringt, die ihn mit Fragen bombardierten.
„Mord muss gerade erst passiert sein… viele Schaulustige…. Ja, es gibt bereits einen Verdächtigen… Die Silbernen Ritter haben am Tatort einen Mann festgenommen…“
Hades erhob sich.
„Wie sieht der Mann aus, der festgenommen wurde?“, dröhnte er mit tiefer autoritärer Stimme. Es wurde still und alle Gäste wandten sich ihm zu. Eine Menschenschneise bildete sich zwischen dem hünenhaften Kelemvor-Priester und dem Boten.
„Hab nicht viel sehen können“, erklärte der Junge eingeschüchtert. Dann stutzte er, als sein Blick auf den Tisch neben Hades fiel, wo der Ehemann der alten Dame gerade aus seinem Nickerchen erwachte. „Er… er sah so ähnlich aus wie er!“ Der Bote wies auf den hellhaarigen Fremden. „Aber jünger.“
Die kraushaarige alte Dame wurde kreidebleich, als sich alle Blicke in ihre Richtung wandten. Die falsche Schwiegertochter sprang auf.
„Ich regle das“, sagte sie leise und verließ, ohne die Schaulustigen eines Blickes zu würdigen, die Taverne.
Hades folgte ihr.
Winter
Sie wurde von einem großen schwarzen Mann verfolgt.
Der Fremde hatte gespenstige weiße Augen und unter seinem Umhang, den eine aufgestickte Skeletthand mit einer goldenen Waage zierte, blitzte eine Sonnenklinge. Nicht gerade der Typ von Mann, den man nachts in dunklen Gassen gerne hinter sich wusste. Winter beschleunigte ihre Schritte, doch es gelang ihr nicht, den Fremden abzuschütteln.
Schließlich gab sie auf. Abrupt blieb sie stehen und wandte sich um.
„Weshalb verfolgt Ihr mich?“, zischte sie, bereit ihm einen Zauber entgegen zu schleudern, sollte der Kerl es wagen irgendetwas zu versuchen. Stattdessen begegnete er ihr mit unterkühlter Höflichkeit.
„Gestatten.“ Der Hüne senkte, eine Verbeugung andeutend, den Kopf. „Hades mein Name. Ich habe Euch in der Taverne beobachtet. Ihr kennt den Mann, der des Mordes an dem Fürsten bezichtigt wird?“
„Ich weiß wirklich nicht, was Euch das angeht“, erklärte Winter gereizt. Ein übereifriger Möchtegern-Detektiv war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Was auch immer Dorien dieses Mal schon wieder ausgefressen hatte, es klang nach einer gehörigen Portion Ärger. „Aber ja, dieser Mann ist zufällig mein Ehemann.“
Mit diesen Worten wandte sie sich um und ließ ihren Verfolger stehen.
Das städtische Gefängnis befand sich in den Kellern des Hochpalasts. Das strahlende Märchenschloss mit den vier filigranen Türmen überblickte die Stadt von einem Hügel aus. Einhornmotive zierten die kunstvolle Stuckfassade. Das Hauptquartier der Silbernen Ritter, Silbrigmonds Stadtwache, war im Nordturm des Palasts gelegen. Dort angekommen verwies man Winter an den Hauptmann. Da dieser im Moment nicht zu sprechen war, blieb ihr nichts weiter übrig, als im Vorraum zu seinem Arbeitszimmer zu warten. Dort stellte sie fest, dass der Fremde ihr hierher gefolgt war. Sie beließ es jedoch bei einem verärgerten Schnauben, als Hades es sich auf der Wartebank bequem machte, während sie ruhelos auf und ab lief.
„Habt Ihr vor ihn um sein Geld zu betrügen?“
„Wie bitte?“
„Euren Ehemann“, sagte Hades. „Ihr habt seine Mutter belogen, was die Hochzeit in Myth Drannor anging. Habt Ihr etwas mit seiner Festnahme zu tun?“
Winter blieb jäh stehen.
„Was maßt Ihr Euch an!“, empörte sie sich. Doch ihre Erzürnung schien den selbsternannten Detektiv nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Habt Ihr diesen Lord Oleander ermorden lassen?“, fragte er mit sachlicher Miene.
„Natürlich nicht!“
Winter war heilfroh, dass in diesem Moment Hauptmann Alathar in der Tür erschien. Es mochte keinen allzu guten Eindruck machen, wenn die Ehefrau eines Mordverdächtigen im Hauptquartier der Wache auf einen Fremden losging. Der Hauptmann ließ die beiden eintreten. Mit unbewegter Miene ließ er Winters Beteuerungen über sich ergehen, die ihn von der Unschuld ihres „guten Gatten“ zu überzeugen versuchte. Auf Hades’ Drängen schilderte er ihnen schließlich, was in der Nacht geschehen war: Etwa zur zwölften Stunde hatten zwei Wachen auf Nachtpatrouille im Adelsviertel Schreie gehört, die sie zur Villa der Oleanders geführt hatten, wo ihnen ein verstörter Butler entgegen geeilt war. Im Schlafgemach hatten sie den Hausherrn mit aufgeschnittener Kehle in seinem Bett aufgefunden. Dorien war mit der Tatwaffe in der Hand ertappt worden. Zudem hatte ein Mitglied der Zaubergarde, das kurz darauf zum Tatort gerufen wurde, entdeckt, dass die Hausherrin und Gemahlin des Opfers, Lady Lucinda Oleander, unter Doriens magischer Kontrolle stand. Für den Hauptmann musste es so aussehen, als habe der Mörder versucht, eine Augenzeugin zum Schweigen zu bringen.
„Durch den Butler erfuhren wir, dass der Tatverdächtige vor zwanzig Jahren ein Verhältnis mit der Fürstin gehabt haben soll“, schloss Alathar seinen Bericht. „Der Butler sagte zudem aus, dass er den Mord beobachtet haben will. “
„Was?“ Erzürnt blickte Winter auf. „Der Mann ist doch gekauft!“
„Das denke ich nicht“, erklärte der Hauptmann ungerührt. „Er stand unter dem Einfluss einer Zone der Wahrheit, als er seine Aussage machte.“
„Was sagt der Tatverdächtige selbst zu den Vorwürfen?“, wollte Hades wissen.
„Der Tatverdächtige“, äffte Winter ihn nach.
„Er bestreitet sie.“
„Und stand er dabei auch unter magischem Einfluss?“
„Ja.“
„Was ist dann das Problem?“, wollte Winter wissen. „Er kann die Tat nicht begangen haben.“
„So einfach ist das nicht“, erklärte der Hauptmann. „Magische Verhöre können manipuliert werden. Bisher haben wir nur zwei widersprüchliche Aussagen. Doch es sei Euch versichert, dass wir alles tun werden, um den Fall aufzuklären. Lord Emmet Oleander war äußerst beliebt bei den Bürgern von Silbrigmond. Sein Mörder wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.“
„Und die wäre?“
„Tod durch Erhängen.“
Stille.
„Kann ich mit meinem Ehemann sprechen?“, fragte Winter.
Hades
Kurz darauf im Kerker
Der Tatverdächtige Dorien Dantés wirkte in der tristen Umgebung der Kerkerzelle wie ein Paradiesvogel im Pappkarton. Sein geschniegeltes Äußeres ließ vermuten, dass Kerkerzellen nicht eben seinen natürlichen Lebensraum darstellten und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen nagender Sorge und düsterer Selbstironie. Doch seine Miene hellte sich auf, als er Hades’ Begleiterin erblickte.
„Winter! Den Göttern sei Dank.“ Er sprang von der Pritsche und umklammerte die Gitterstäbe der Zelle. Dann schien er sich zu besinnen, dass Kerkerstäbe rostig und eklig waren, und ließ sie hastig wieder los. Winter schob Hades beiseite und eilte auf ihn zu.
„Was ist passiert, Dorien?“, flüsterte sie ernst. „Hast du diesen Mann getötet?“
„Was glaubst du? Natürlich nicht“, erwiderte der Eingekerkerte gekränkt. „Emmet war früher mein Mentor. Ich denke, es war Drake.“
„Drake?“
„Wer sonst hätte ein Interesse daran, mich in die Falle zu locken?“
„Erzähl mir, was passiert ist.“
„Ein Straßenjunge in der Tanzenden Ziege steckte mir eine Nachricht zu. Darin bat mich Emmets Frau um Hilfe. Nun ja, zumindest glaubte ich, dass die Nachricht von Lucinda stammte. Ich rief sofort eine Kutsche und fuhr zum Anwesen der Oleanders. Die Tür stand offen, darum trat ich ein. Und dann hörte ich den Schrei. Ich rannte hoch ins Schlafzimmer und fand Lucinda, in Blut gebadet, mit einem Dolch über den leblosen Körper ihres Mannes gebeugt. Die Arme musste annehmen, sie selbst habe Emmet im Schlaf getötet. Sie war so außer sich, dass ich befürchtete, sie könnte sich selbst etwas antun, darum entwand ich ihr den Dolch und bezauberte sie, um sie zu beruhigen.“
„… und in diesem Moment kamen die Wachen ins Zimmer“, vollendete Winter lakonisch den Bericht, „und ertappten den alten Liebhaber der Fürstin dabei, wie er seine Zeugin ruhig zu stellen versuchte. Dorien, du verdammter Narr!“ Dann seufzte sie. „Du hast Recht, das klingt ganz nach Drake. Er muss den Butler bezaubert haben, weil er wusste, dass die Ritter ihn einem magischen Verhör unterziehen würden.“
Hades hatte den Gefangenen während seines Berichts beobachtet und keine Anzeichen für Unaufrichtigkeit gefunden. Doch der Richter wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Er räusperte sich vernehmlich.
„Darf man fragen, wer dieser Drake ist?“, versuchte er die beiden Eheleute auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Der Gefangene warf ihm einen irritierten Blick zu.
„Ignorier’ ihn einfach“, riet seine Anvertraute ihm säuerlich.
Hades runzelte die Stirn. So einfach ließ er sich nicht übergehen.
„Wusstet Ihr, dass Eure Frau eine Heiratsschwindlerin ist?“, schlug er zurück. Zu seinem Erstaunen schien die Frage den Eingekerkerten zu amüsieren.
„Ja, ist mir bekannt“, sagte er ungerührt. „Aber woher wisst Ihr das? Winter, ist er etwa einer deiner…?“
“Nein!“, schnappte Winter. „Sein Name ist Hades. Er verfolgt mich schon den ganzen Abend.“
Dorien rückte so nahe an Winter heran, dass die Wache misstrauisch einen Schritt nach vorne machte.
„Vertraust du ihm?“, flüsterte er, doch Hades hatte gute Ohren.
Winter zuckte mit den Schultern. „Ich denke jedenfalls nicht, dass er für Drake arbeitet. Dazu ist er zu… direkt.“
Der Eingekerkerter nickte unschlüssig.
„Hilf mir“, bat er sie ernst. „Finde heraus, warum Emmet sterben musste. Er war ein Harfneragent. Er hatte viele Feinde und einer davon hat ihm Drake auf den Hals gehetzt. Ich würde diesem Halunken nur ungern die Genugtuung verschaffen, mich für den Mord an einem Freund hängen zu sehen.“
„Ich hol’ dich hier raus“, versprach Winter.
„Und noch etwas.“ Der Blick des Gefangenen glitt besorgt über Winters Gesicht. „Scarlet… Ich weiß sie nur ungern in der Stadt, solange Drake hier ist. Dasselbe gilt für meine Eltern. Du weißt ja, was er Kaliths Familie angetan hat.“
„Ich bringe alle zu Grimwardt in die Abtei.“
„Danke.“ Dorien lächelte. „Abgesehen von der Tatsache, dass ich unsere Hochzeitsnacht im Kerker verbracht habe, war das, wie ich finde, ein durchaus gelungener Hochzeitstag.“
Winter erwiderte sein Lächeln und drückte seine Hand fester.
„Aha“, beobachtete Hades mit detektivischer Nüchternheit. „Also liebt ihr euch tatsächlich.“
Das Lächeln auf den Gesichtern der beiden gefror synchron, als sie sich umwandten, um Hades auf die Unangebrachtheit seiner Bemerkung hinzuweisen.
Grimwardt
Abtei des Schwertes, im Morgengrauen
Es war soweit. Sie griffen an.
Die nächtliche Verfolgung des Raben war wie erwartet erfolglos geblieben. Nach nur ein paar Stunden Schlaf war Grimwardt zum Morgengebet erwacht. Er hatte sich gerade vor den kleinen Schrein in seinem Zimmer gekniet, als eine Wache herein gestürzt kam, um eine feindliche Teleportation in den Innenhof der Abtei zu melden. Der Kriegspriester ließ sich hastig Rüstung und Wehrgehänge anlegen und eilte durch eine Seitentür auf den Wehrgang. Das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn so abrupt abbremsen, dass der Bote, der ihm gefolgt war, mit seinem Rücken kollidierte.
Eine Gruppe von fünf Leuten harrte, umringt von einem Trupp Speerkämpfer, im Hof der Abtei. Winters rote Mähne leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. An der Hand hielt sie ihre schlaftrunkene Tochter, die verunsichert zu einem breitschultrigen Riesen von Kelemvor-Priester aufblickte, der schützend sein Schwert erhoben hatte. Eine kleine, alte Dame mit krausem braun-grauem Haar und ein hoch gewachsener Nordmann standen eng umschlungen beieinander. Sie alle waren mit Taschen und Beuteln beladen. Die Krönung aber bildete ein Wurf kleiner Katzen, die miauend umhertapsten und neugierig die Spitzen der auf sie gerichteten Speere beschnupperten.
Eine Zornesader drohte Grimwardts Stirn zu sprengen.
„WINTER FEDAYKIN!“
Polternd stapfte der Abteileiter einen Wehrturm hinunter. Nachdem er den Speerwerfern Entwarnung gegeben und die skurrile Flüchtlingsfamilie der Obhut des Quartiermeisters überantwortet hatte, zerrte er Winter wutentbrannt in sein Arbeitszimmer. Der fremde Priester folgte ihnen unaufgefordert.
„Grimwardt, ist alles in Ordnung?“, fragte Winter beunruhigt.
„OB ALLES IN ORDNUNG IST?!“, donnerte Grimwardt. „Uns steht ein Angriff bevor! Was, bei allen neun Höllen, hast du dir dabei gedacht, unangekündigt hier aufzukreuzen? Die hätten dich und deine Katzenfreunde da draußen fast aufgespießt!“
Winter sah ihn verständnislos an.
„Worüber regst du dich denn auf?“, fragte sie. „Hier wirkt doch alles recht friedlich.“
Grimwardt lief so rot an, dass sein Bart dagegen blass wirkte. Winter nutzte die momentane Sprachlosigkeit ihres Bruders, um die Situation aufzuklären und ihn mit dem Fremden bekanntzumachen.
„Kurz gesagt: Dorien braucht unsere Hilfe“, schloss sie knapp. „Du musst mit nach Silbrigmond kommen.“
„Einen Teufel werde ich tun“, schnaubte Grimwardt. „Hast du mich nicht verstanden? DIE ABTEI WIRD ANGEGRIFFEN! Ich werde hier gebraucht!“
„Willst du Dorien etwa einfach so hängen lassen?“ Erbost sah Winter ihn an.
„Scheint, als ob er das auch ganz von allein hinbekommt!“, grunzte ihr Bruder.
Es folgte ein lautstarker Disput à la Fedaykin: Winter schmollte, tobte und wand sich, während ihr Bruder stur auf seinem Standpunkt beharrte. Hades fiel die zermürbende Aufgabe zu, zwischen den Geschwistern zu vermitteln. Letztendlich verständigten sie sich darauf, dass Winter Scarlet und ihre Schwiegereltern zu ihren Eltern nach Ashabafurt bringen würde, während Grimwardt sich auf die Abreise nach Silbrigmond vorbereitete. Während ihres letzten Abenteuers waren die Geschwister in den Besitz von zwei magischen Liebesbroschen gekommen, die dem Träger an jedem Ort Aufschluss über die Gefühlslage des jeweils anderen gaben. Grimwardt entschied seinem Waffenmeister Borgo eine der Broschen zu überlassen, um im Ernstfall gewarnt zu sein.
„Sobald ich auch nur den Verdacht hege, dass der Angriff beginnt, wirst du mich augenblicklich zurück teleportieren, hast du verstanden?“, forderte Grimwardt.
„Ja, verstanden“, murrte Winter.
„Und wenn ich nur zurückkomme, weil Borgo sich darüber aufregt, dass ein Vogel auf seinen Turnierhelm gekackt hat, will ich keine dummen Sprüche von dir hören, ist das klar?“
Winter verdrehte die Augen.