Kapitel IV: Das Immerfeuer von Sundabar
Winter
Die Gewölbekammern von Silbrigmond, am nächsten Morgen.
Als die Gefährten das Foyer der Bibliothek betraten, gerieten sie in einen Strudel von Gelehrten, Studenten und Deneir-Bibliothekaren, die sich aufgeregt lamentierend um ein Nachrichtenportal auf der Galerie scharrten.
„Was ist denn passiert?“, wandte sich Winter an einen der Herumstehenden.
„Ihr wisst es noch nicht?“, entgegnete der Angesprochene. „Gestern Abend tauchte am See der Schatten eine antimagische Zone auf, die sich inzwischen über ganz Anauroch verbreitet hat. Eine zweite entstand heute Morgen im Schattental. Niemand weiß, wer dahinter steckt oder wie so etwas möglich ist… eine magietote Zone von solchen Ausmaßen!“
Winter stutzte. Eine magietote Zone in der Wüste von Anauroch? Das ließ die Tagebucheinträge des Lord Oleander in einem ganz neuen Licht erscheinen. Doch darum würden sie sich später kümmern. Zunächst galt es, Doriens Anwalt, der, wie sie von seiner Haushälterin erfahren hatten, um diese Zeit im Foyer seinen allmorgendlichen Tee einzunehmen pflegte, über die neuen Entwicklungen zu informieren und ihm eine Abschrift des Tagebuchs zukommen zu lassen, um für die morgige Verhandlung gerüstet zu sein.
Der Anwalt entpuppte sich als achtbarer älterer Herr, der nichts in der Welt so sehr schätzte wie eine Tasse guten Tees. Ihm schien zwar weniger Doriens Kopf als Lucindas Gold am Herzen zu liegen, doch nachdem er die Aufzeichnungen des Fürsten gelesen und sich den Bericht der Gefährten angehört hatte, schien er immerhin in Erwägung zu ziehen, dass sein Mandant tatsächlich unschuldig war. Winter konnte nur hoffen, dass ihn dieser Gedanke bei der Verhandlung am nächsten Tag ein wenig aus seiner schläfrigen Geruhsamkeit reißen würde.
„Was steht als nächstes an?“, fragte Hades, nachdem der Anwalt gegangen war.
Im selben Moment fuhr Grimwardt zusammen.
„Grim, was hast du?“
„Die Brosche.“
„Welche Brosche?“
„Sie ist erloschen! Die Abtei ist in Gefahr.“ Der Abteivogt erhob sich so abrupt, dass er beinahe seinen Stuhl umgerissen hätte. „Winter, du musst mich auf der Stelle…“
„Grimwardt, ich kann dich nicht zurück teleportieren“, sagte Winter und ergriff beschwichtigend seinen Arm. „Es muss an der magietoten Zone liegen. Wahrscheinlich hat sie sich inzwischen auf das Schlachtental ausgeweitet, sodass…“
Winter erschrak. Wenn sie die Abtei bereits erreicht hatte, so musste die magielose Zone auch die Kleinstadt Ashabenfurt im Misteltal bereits überzogen haben. Ashabenfurt, wo ihre Eltern ein kleines Gasthaus und einen Mietstall unterhielten und wohin sie Scarlet und ihre Großeltern gebracht hatte, um sie vor Drake zu schützen…. Winter schluckte. Der Wegfall der Magie würde unweigerlich Plünderer und Banditen auf den Plan rufen, die die Gelegenheit beim Schopfe packen und sich die Schutzlosigkeit der Talländer zu Nutze machen würden.
„Was sollen wir tun?“, fragte sie mit belegter Stimme.
„Beginnen wir mit den Tagebuchaufzeichnungen“, schlug Hades vor, um die Geschwister von ihren Sorgen abzulenken.
Zumindest was Oleanders Aufzeichnungen anging, hatte Drake sie nicht getäuscht. In seinem Tagebuch schilderte der Fürst den Verlauf seiner letzten Harfner-Mission, die ihn auf die Spur einer Elfe gebracht hatte, die Silbrigmonds Adelskreise für einen Halbdämon namens Lord Volumvax Sciagraph ausspioniert hatte. Als sie herausgefunden hatte, dass Oleander ihr auf die Schliche gekommen war, hatte sie ihm einen Meuchelmörder auf den Hals gehetzt, doch der Fürst war dem Anschlag entkommen. Aus Aufzeichnungen, die die Elfe bei sich trug, war hervorgegangen, dass ihr Auftraggeber mit dem Prinzen Hadhrune von Umbra in Verbindung stand. Ein weiterer Hinweis hatte Oleander schließlich in die Nachbarstadt Sundabar geführt. Sein letzter Eintrag lag etwa einen Zehntag zurück:
Sundabar, 13. Tag des Tarsakh
Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Die Zwerge des Unterheims erzählen, dass der Vulkansee in letzter Zeit angestiegen ist. Gleich morgen früh werde ich zum Immerfeuer hinunter gehen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Was immer der Fürst dort, am Vulkansee von Sundabar, gefunden hatte, es hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Irgendwie musste er es ihm gelungen sein, sich verwundet zurück nach Silbrigmond zu schleppen, wo ihn seine Gemahlin gesund gepflegt hatte… bis zu jener Nacht vor zwei Tagen, als Drake das Ehepaar aufgespürt hatte…
Bestand ein Zusammenhang zwischen dem, was mit dem Immerfeuer von Sundabar geschah, und den magietoten Zonen im Osten? Immerhin schienen alle Wege zu Hadhrune zu führen, dem jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra. Doch was war es, wonach die Umbranten der Anauroch trachteten? Und welche Rolle spielte der Halbdämon?
Ihnen würde keine andere Wahl bleiben als nach Sundabar zu reisen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was ihre Freunde in den Talländern bedrohte.
Doch zunächst galt es ein weiteres Gruppenmitglied zu rekrutieren…
Kalith
Myth Drannor, kurz darauf.
Nichts als schwarze Leere und ein Spinnennetz aus silbernen Fäden. Doch da ist noch etwas. Etwas, das im Schatten lauert. Körperlos, fast unsichtbar. Schwarzer Nebel, der wabernd aus dem Nichts kriecht. Schleichend legt er sich um das silberne Gewebe und frisst sich durch die Knoten. Die Silberfäden reißen. Dann ein zweites Spinnennetz, das hinter dem ersten zum Vorschein kommt. Aber dieses ist schwarz. Schwärzer als die Nacht, die es umgibt.
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er ihr Gesicht.
„Hilf uns, Kalith“, sagt sie. „Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“
Kalith schrak auf und taumelte gegen einen Baumstamm.
Razeema? Was…?
Der Elfenritter rieb sich die Schläfen, um die Vision abzuschütteln, die ihn auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Hauptmann Fflar ereilt hatte. Dann machte er sich eilig auf den Rückweg zu Nimoroth. Der Druide hatte mit der Renovierung eines alten Baumhauskomplexes vor den Stadttoren begonnen, der wie geschaffen schien für seine Tempelschule. Als Kalith an der Baustelle ankam, war sein Cousin gerade in ein Gespräch mit den Neuankömmlingen vertieft. Die Fedaykin-Geschwister und ihr neuer Gefährte hatten Kalith am Vormittag überrascht, als er von einer Außenmission im Auftrag der Königin zurückgekehrt war.
„Und? Hat er dir den Tag freigegeben?“, erkundigte sich Winter nach dem Ausgang seines Treffens mit dem Hauptmann. Kalith nickte kurz in ihre Richtung.
„Auf dem Weg hierher hatte ich eine Vision“, kam er eilig auf das Wesentliche zu sprechen. „Razeema, eine alte Mitstreiterin, muss sie mir gesandt haben.“
Als er von dem Spinnennetz berichtete, runzelte Nimoroth die Stirn.
„Ich denke, ich weiß, was das zu bedeuten hat“, sagte er. „Erinnerst du dich? Razeema wirkte ihre Zauber über Shars Schattengewebe. Wenn ich deine Vision richtig deute, dann steht das silberne Spinnennetz für Mystras magisches Gewebe…“
„ Und das schwarze für Shars Schattengewebe“, ergänzte der Elfenritter.
Kalith, der wie die meisten Elfen in den Grundlangen der Magie ausgebildet war, wusste, dass Mystras Gewebe das Medium darstellte, über das Magier und Priester ihre Zauber wirkten. Shar, die Göttin der Dunkelheit und Mystras erbitterte Rivalin, hatte eine schattenhafte Kopie des magischen Gewebes erschaffen, um Zugriff auf das Portfolio der Magie zu erhalten und ihre Anhänger dem Einflussgebiet ihrer Konkurrentin zu entziehen. Es war möglich, das Schattengewebe auch ohne Shars Führung anzuzapfen, doch das erforderte einen starken Willen und große magische Begabung.
Kalith runzelte die Stirn.
„Das würde bedeuten, dass jemand versucht, das magische Gewebe zu zerstören...“, deutete er Razeemas Vision.
„Shar wäre die einzige, die daraus einen Vorteil ziehen würde“, erkannte Hades. „Wenn alle Zauberwirker ihrer magischen Kräfte entledigt würden, so hätten Shars Schergen gegenüber ihren Feinden einen entscheidenden Vorteil.“
„Vielleicht ist es Shar schon gelungen, das Gewebe anzugreifen“, warf Winter ein. „Denkt an die magietoten Zonen in der Anauroch und den Talländern.“
„Da ist noch etwas“, gab Kalith mit sorgenvollem Blick zu bedenken. „Mit der Vision sandte mir Razeema eine Art Hilferuf: Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“
„Ein Halbgott?“ Die anderen tauschten alarmierte Blicke.
„Nimoroth hat eine Theorie dazu, wer dieser Auftraggeber sein könnte, von dem in Oleanders Aufzeichnungen die Rede ist“, klärte Winter Kalith auf, der den ersten Teil ihrer Unterhaltung verpasst hatte.
„Ich meine irgendwo davon gelesen zu haben“, bestätigte Nimoroth. Seine Bemühungen, den Seelenquell zu finden, an dessen Rettung die Gruppe vor vielen Jahren gescheitert war, hatten sich zu einer regelrechten Manie entwickelt, die ihn in Kontakt mit allerlei obskurem planetarem Wissen brachte. „Demnach ist Lord Volumvax Sciagraph ein Halbgott, der von Shar in eine Taschendimension zwischen Schattenebene und materieller Ebene verbannt wurde: eben jene Adumbral Calyx“,
„Wir nehmen an, dass Lord Oleander in Sundabar einen Zugang zu dieser Zwischenebene gefunden hat“, ergriff Grimwardt das Wort. „Und dass ihn dieses Wissen das Leben gekostet hat.“
„Dann heißt unser nächstes Ziel wohl Sundabar“, seufzte Kalith.
Das bedeutete vor allem eines: jede Menge Zwerge.
Boltor
Kurz darauf vor den Stadttoren von Sundabar, Silbermarken.
Boltor kratzte sich den kahlen Schädel und fuhr sich durch den langen, zotteligen Bart, als er sich daran zu erinnern versuchte, was, beim Barte des Moradin, er eigentlich hier tat. Wie war er hierher gekommen? Und was wollte er hier? Der Zwerg tat, was er in Augenblicken des Gedächtnisverlusts immer zu tun pflegte: Er legte eine Pause ein und nahm einen kräftigen Zug aus seinem nimmerleeren Humpen, jenem magischen Füllhorn, das jedes alkoholische Getränk zu erschaffen vermochte, das Boltor ersann, und ihm schon bei so mancher Trinkwette einen Geldsegen beschert hatte.
Der Gedankenfluss des Zwergs wurde jäh unterbrochen, als neben ihm ein weißäugiger Riese aus dem Nichts tauchte. Der dunkelhäutige Gigant, der bequem über die Stadtmauer hätte spucken können, maß gut sechzehn Humpen (und war damit mehr als doppelt so groß wie ein durchschnittlich gebauter Mensch). Ein rotbärtiger Menschenkrieger (in Anbetracht der veränderten Größenverhältnisse mochte es sich auch um einen Riesenzwergen handeln), eine normalgroße Menschenfrau und ein Spitzohr tauchten ebenso unverhofft auf.
Boltor betrachtete stirnrunzelnd seinen Humpen. Hatte er die Stelle mit dem Kaninchenloch verpasst oder war das Zeug stärker als es schmeckte?
Immerhin schien er nicht der einzige zu sein, der nicht alle Tage von einem Trupp Titanen belagert wurde: Pfeilsalven prassten aus Richtung der Stadtmauer auf die Fremden ein und Torwächter begannen die Wehrbrücke hochzuziehen, um dem Sturmkommando den Zugang zur Stadt zu verwehren.
„Lass die Geisel frei, Riese!“, tönte es von der Stadtmauer.
„Welche Geisel?“, fragte der Riese verdutzt. „Und welcher Riese?“
„Na du, Ameisenhirn“, knurrte Boltor. „Und die Geisel bin dann wohl ich. Du hast es gehört. Schwirr ab oder es hackt was!“
„Auf mir liegt ein Schutzgebet, das mich so groß macht“, dröhnte Bleichauge und erhob beschwichtigend die Hände. „Und wir hegen nicht die Absicht, jemanden zu entführen. Im Gegenteil: Wir sind hier, um diese Stadt vor Unheil zu bewahren.“
„Das einzige Unheil, das ich hier sehe, misst sechzehn Humpen und glotzt mich aus blinden weißen Augen an“, keifte der Zwerg.
„Ich bin nicht blind“, erwiderte der Riese in einem leicht arroganten Tonfall, der überhaupt nicht nach Riese klang. „Nicht mehr. Die Augen verdanke ich einer denkwürdigen Begegnung mit einem Untoten.“
Nach einer Weile wurde die Wehrbrücke heruntergelassen und eine Menschenfrau mit harten, humorlosen Gesichtszügen ritt, eskortiert von einem Trupp zwergischer Eberreiter, aus den Stadttoren. An der Spitze der Eskorte erkannte Boltor …. seine Cousine Erdmute! Die Zwergin mit den feuerroten Rastazöpfen war Schildherrin der Steinschilde, Sundabars Zwergenwache, die in ständigem Streit mit dem menschlichen Ritterorden der Schildsar lag. Wenn es nach Erdmute gegangen wäre, so hätten sich die Zwerge des Unterheims wohl niemals mit den Menschen der Oberstadt verbündet, um Sundabar gegen die Teufelssaat vom Grat der Welt zu verteidigen. Nun, da er sie sah, erinnerte sich Boltor auch wieder, weshalb er hier war. Erdmute hatte ihn – das schwarze Schaf der Familie – doch tatsächlich eingeladen, sie zu besuchen!
Die Menschenfrau – ihr Glaubensamulett wies sie als Tyrpriesterin aus – unterzog den falschen Riesen und seine Begleiter einem magischen Verhör. Mit einem Nicken gab sie schließlich Entwarnung und bedeutete Erdmute, den Trupp in die Stadt zu geleiten.
„Was hast du dieses Mal ausgefressen?“, raunte die Kommandantin ihm zu, als sie an Boltor vorbei ritt. „Wieso bist du hier? Willst du mich wieder einmal blamieren?“
„Häh?“ Baltor sah aus seinen kleinen rotgeränderten Augen zu ihr auf. „Du hast mich doch eingeladen!“
„Das war vor drei Wochen!“, schalt ihn seine Cousine. „Zum Clanstreffen. Hast wohl wieder zu tief in deinen Humpen geschaut, du elender Trunkenbold!“
„Hau rein!“, erinnerte Boltor sie an das alte Clanmotto.
„Geh fott!“, konterte Erdmute mit einem Leitsatz der Steinschilde.
Vier verständnislose Augenpaare waren auf die beiden Zwerge gerichtet.
Winter
Kurz darauf in Sundabar.
Auf dem Weg ins Unterheim führte Schildherrin Erdmute die Gruppe in die Taverne Zur Trompete. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, empfing sie ein ohrenbetäubender Krach, der von einer Gruppe zwergischer Trommler herrührte. Die Kommandantin, die erklärte, dass es sich um eine „Thur-desk“-Aufführung handele, schien den Lärm für eine Art musikalische Kunstform zu halten. Zu Winters Leidwesen ließen sie und ihr Cousin, der ohnehin bereits hackedicht zu sein schien, es sich nicht nehmen, auf einen Schluck Zwergenschnaps zu bleiben.
„Hau rein!“, sagte Boltor schon wieder und erhob seinen Zauberhumpen.
„Geh fott!“, erwiderte die Schildherrin und die beiden stießen an.
Kaliths gequältem Gesichtsausdruck und Hades’ steifer Unbewegtheit entnahm Winter, dass sie nicht die einzige war, die ihre erste Begegnung mit der zwergischen Kultur als ein traumatisches Ereignis in Erinnerung behalten würde. Allein Grimwardt war fast enttäuscht, als Erdmute dem Wirt ein paar Münzen zuwarf und sie durch den zweiten Eingang der Taverne in den zwergischen Teil der Stadt führte.
Der Geräuschpegel nahm kaum ab, als sie das Unterheim betraten: Überall wurde gehämmert und geklopft und das Glühen, das aus den Schmieden drang, war die einzige Lichtquelle im ewigen Dunkel des Unterreichs. Während die Gefährten durch ein Gewirr von unterirdischen Säulengängen und Versammlungshallen irrten, die sie tiefer und tiefer ins Erdreich führten, erklärte Erdmute ihnen, dass das Immerfeuer einen magischen Knotenpunkt darstelle.
„Früher war der Vulkansee umgeben von Schmiedemeistern, die seine Magie nutzten, um in dem Feuersee die besten Waffen Faerûns herzustellen“, erklärte sie mit unverhohlenem Stolz. „Doch seit das Immerfeuer vor einigen Jahren über die Ufer trat und die Umgebung verwüstete, sind sie einer nach dem anderen ins Unterheim abgewandert.“
„Ist Euch in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Hades, wie immer auf ihre Mission bedacht. „Irgendeine Veränderung des Vulkansees?“
„Seitdem die Zwerge das Immerfeuer verlassen haben, kommt hier kaum noch jemand hin“, sagte die Schildherrin. „Doch seht selbst. Wir sind da.“
Sie waren schon seit einiger Zeit auf keine Zwergenbehausungen mehr gestoßen und das Hämmern und Klopfen war ebenfalls verklungen. Ein fiebriges Glühen leuchtete ihnen vom Ende des Ganges entgegen. Die Gefährten betraten eine Höhle von gigantischen Ausmaßen, in deren Mitte ein mit Magma gefüllter Spalt klaffte. Die traurigen Ruinen von erkalteter Lava überzogener Schmieden hoben sich dunkel gegen das Rot des Feuerscheins ab, der aus der Erdspalte drang. Als sie näher trat, erkannte Winter, dass sich an der breitesten Stelle des Vulkansees ein Strudel gebildet hatte, der die Magmamassen schwerfällig in die Tiefe sog. Als sie versuchte, ihren magischen Blick auf das Immerfeuer anzuwenden, erkannte die Diebesmeisterin zudem, dass die Magie an diesem Ort verrückt spielte. Eine unsichtbare Macht schien den Vulkansee zu manipulieren.
„Was ist das?“, fragte Kalith, der noch eine weitere Entdeckung gemacht hatte. „Ich dachte, dieser Ort sei unbewohnt?“
Winter folgte dem Blick des Elfen und erblickte zwischen den Schmiederuinen am Ufer des Feuersees ein turmartiges Gebäude, das den Anschein machte, als hätten Kinder Stockwerke wie Bauklötze übereinander geschichtet und dann beim Fortrennen angerempelt, sodass das wacklige Konstrukt jeden Augenblick einzustürzen drohte. Ein Lichtkegel, der aus der Pagode drang, die das Gebäude abschloss, geisterte wie das Leuchtfeuer eines Leuchtturms über den Vulkansee.
„Ach das“, sagte Erdmute abfällig. „Das ist bloß der Turm des irren Wuschkins.“
„Der irre Wuschkin?“
Die Schildherrin schnaubte. „Komischer Kauz. War einst ein angesehener Magier. Naja, bevor er irre wurde und dieses Ding da baute, um seine abstrusen Experimente durchzuführen.“
„Können wir mit ihm sprechen?“, wollte Winter wissen. Wenn er ein Magier war, konnte er ihnen womöglich sagen, was es mit dem Strudel und der unbändigen Magie hier unten auf sich hatte. Die Diebesmeisterin war sich sicher, das diese Dinge etwas mit dem Portal auf die Schattenebene zu tun hatten, das sie hier vermuteten.
„Versuchen könnt ihr’s“, meinte Erdmute.
Als auf ihr Klopfen niemand antwortete, hämmerte die Zwergin mit ihrem Schild gegen die Tür und befahl Wuschkin sich zu zeigen. Ein hageres Männchen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Zwerg aufwies, lugte hinter der Tür hervor. Auf seiner Schulter saß ein hässliches Katzentier, das aussah wie aus verschiedenen Exemplaren seiner Art zusammengenäht und auch der Magier selbst schien mehr als einmal zum Opfer seiner eigenen, misslungenen Experimente geworden zu sein. Nach wiederholter Zusicherung, dass sie nur mit ihm reden wollten, ließ Meister Wuschkin die Gruppe schließlich ein und führte sie hinkend in einen kleinen Wohnraum, der dem Anschein nach auch als Labor diente. So war der Tisch übersät mit Fledermausdung, Rattenschwänzen und anderen Zauberkomponenten und in einem Einmachglas auf dem Regal dümpelte ein eingelegtes Tierhirn vor sich hin. Als Winter begann ihre Fragen an ihn zu richten, zuckte der Zwerg zusammen wie ein verschrecktes Kaninchen.
„Das Immerfeuer?“, fragte er mit furchtgeweiteten Augen. „N-nein, ich weiß nicht, was dieser Strudel zu bedeuten hat.“
„Habt Ihr Euch denn niemals gefragt, was…“
Wuschkin schüttelte den Kopf, noch ehe Winter die Frage gestellt hatte.
„Was hat es mit dem Licht auf dem Turm auf sich?“, schaltete sich nun Hades in die Diskussion ein.
„L-licht?“, stotterte Wuschkin. „Welches Licht?“
„Raus mit der Sprache.“ Hades hatte sich offenbar für eine Strategieänderung entschlossen. „Wir wissen von dem Portal.“
„P-p-p-portal?“, quiekte der Magier.
Winter seufzte. Es war ganz offensichtlich, dass der Zwerg nicht freiwillig mit der Sprache herausrücken würde. Während sie noch überlegte, ob sie ihn wohl mit einer Bezauberung zum Reden bringen konnte, holte Boltor, der besoffene Zwerg, plötzlich zum Schlag aus. Seine lähmende Faust traf den Magier genau zwischen die Augen. Wuschkin erstarrte wie schockgefroren und kippte um.
Boltor zuckte mit den Schultern.
„Der Kerl ging mir auf den Geist“, knurrte er. „Dachte, ich verkürze die Diskussion. Fesseln wir ihn und machen uns dann selbst auf die Suche nach eurem Portal.“
„Wo habt ihr das gelernt?“, wunderte sich Grimwardt, während er sich daran machte, Boltors Vorschlag in die Tat umzusetzen. Winter war offenbar nicht die einzige, die den schmuddeligen Trunkenbold unterschätzt hatte.
„Mönchskloster“, sagte der Zwerg kurz angebunden. „Bevor die mich rausgeworfen haben.“ Zur Erklärung erhob er seinen Humpen, prostete Grimwardt zu und nahm einen kräftigen Schluck.
Die Durchsuchung des Turms blieb bis auf die Entdeckung eines seltenen und äußerst wertvollen Lehrbuchs über die Mysterien des Schattengewebes, das als billiger Schundroman getarnt war, erfolglos. Auch Winters Versuch, auf magische Weise in der Mitte des Vulkansees nach einem Ebenenportal zu suchen schlug fehl. Zu allem Überfluss entwischte ihnen schließlich auch noch der irre Wuschkin, den sie gefesselt in seinem Labor zurück gelassen hatten, ohne zu bedenken, dass die unbändige Magie dem Schattenadepten nichts anhaben konnte. Ratlos und ein wenig entmutigt brauchte Winter schließlich ihre letzte Schriftrolle auf, um im Turm selbst nach einem versteckten Portal zu suchen.
Diesmal hatte sie Glück: der Zauber führte die Gefährten in die Pagode im obersten Stockwerk. Ein Großteil des kleinen Säulenpavillions wurde von einer riesigen Lampe eingenommen, die von zahlreichen Linsen begrenzt wurde. Ein drehbarer Untergrund hielt die Lampe in ständiger Bewegung, was den rotierenden Lichtkegel erzeugte, den sie von unten gesehen hatten. In einer versteckten Bodenvertiefung unter der Lampe fand Winter eine große schwarze Linse. Dank des Erkenntniszaubers wusste sie, dass durch das Einsetzen der Linse in die Lampenhalterung ein Portal auf die Adumbral Calyx geöffnet würde. Doch kaum hatte sie die Linse berührt, um sie aus der Bodenvertiefung zu nehmen, wurden die vier Statuen, die das Dach der Pagode trugen, plötzlich lebendig und erhoben ihre steinernen Fäuste gegen die Eindringlinge.
Der Platzmangel machte den ausbrechenden Kampf schwierig. Winter wirkte einen Flugzauber, um den Angriffen der Steingolems zu entgehen, während Boltor der Zwerg seine magischen Stiefel einsetzte, um aus der Luft anzugreifen. Hades, Kalith und Grimwardt jedoch schränkte die Enge des Raumes in ihrer Beweglichkeit ein. Hades musste seinen Schutzzauber fallenlassen, um überhaupt in den Raum zu passen. Dazu brachte jeder erfolgreiche Angriff das Dach zum Wanken, das auf den abgeflachten Köpfen der steinernen Konstrukte lastete. Aus diesem Grund traute sich Winter auch nicht, ihren mächtigsten Zauber, einen Auflösungsstrahl, gegen die Golems einzusetzen, denn der Einsturz des Daches würde das Portal unweigerlich zerstören. Zu ihrem Ärger griff schließlich auch noch Wuschkin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, in den Kampf ein. Ein Feuerball, den der Magier in der Mitte des Laternenraums zündete, traf Grimwardt mit voller Wucht und zwang den mächtigen Krieger in die Knie. Doch ehe Winter sich den Schurken vorknöpfen konnte, war Wuschkin auch schon wieder verschwunden. Endlich knickte auch der letzte der vier Golems ein. Das Dach knarrte bedrohlich unter den verlagerten Gewichtsverhältnissen und die Gefährten machten sich eilig daran, die schwarze Linse in die Halterung über der Laterne einzusetzen.
Dann wurde es dunkel.
Hades
Adumbral Calyx, kurz darauf.
Hades spürte, wie ihn etwas streifte. Ein rotierender Strahl, kälter als Eis und schwärzer als die Finsternis, die ihn umgab. Beißender Schmerz. Keuchend ging der Streiter des Kelemvor in die Knie.
„Flach auf den Boden werfen!“
Blind befolgte er Winters Befehl. Dann hörte er sie aufschreien.
„Grim!“
Hades robbte auf Winter zu. Auf dem Weg stieß er gegen ihren Bruder, der reglos am Boden lag. Der hünenhafte Krieger schulterte den Tempuspriester und folgte Winters Anweisungen, die ihn durch eine Bodenklappe aus der Reichweite des Schattenstrahls lotste. Hades stolperte eine Sprossenleiter hinunter und landete in einem Treppenhaus, das spärlich vom Licht einer Fackel beleuchtet war.
„Was war das?“, keuchte der Richter. „Woher wusstet Ihr von der Klappe im Boden?“
„Weil wir wieder in dem Lampenraum waren“, murmelte Winter. „Durch meine magische Dunkelsicht konnte ich ihn sehen. Derselbe Ort, dieselbe Aussicht auf das Immerfeuer, nur düsterer, undefinierter. Der Strahl, der Euch getroffen hat, war eine Schattenversion des Leuchtfeuers aus Wuschkins Turm.“
„Verstehe.“
Demnach war die Schattenebene eine Art Parallelwelt zur materiellen Ebene. Höchst bemerkenswert.
Hades kniete sich zu Grimwardt und sprach ein Gebet.
Richter der Verdammten, wenn es noch nicht an der Zeit ist, ihn zu dir zu nehmen, erhöre mich und schick diesen Krieger zu uns zurück.
Grimwardt öffnete die Augen und grummelte etwas Unverständliches, das ein Wort des Danks sein mochte. Während die Gefährten die Treppen hinab stiegen, klärte Winter ihren Bruder flüsternd darüber auf, was mit ihm geschehen war. Das Treppenhaus endete vor einer unverschlossenen Tür. Hades trat als erster ein.
Sie waren im Labor eines schwarzen Magiers gelandet. Dampfende Reagenzgläser enthielten magische Substanzen, die den Raum in dämmriges Zwielicht tauchten, halblebendige Kreaturen dümpeln in Einmachgläsern vor sich hin und in einem deckenhohen Bottich, der mit schwarzer Schattenmaterie gefüllt war, wurde eine grässliche Kreatur herangezüchtet. Sie schien sich noch nicht auf eine Gestalt festgelegt zu haben, doch jede ihrer Formen war ein Abbild des puren Horrors. Erst auf den zweiten Blick erspähte Hades den Wächter der finsteren Arbeitsstätte: Eingerollt in einer Ecke des Labors harrte die schattenhafte Silhouette eines Drachens, nicht größer als ein Pferd. Als Hades den Raum betrat, wachte er auf und zwei strahlende, tellergroße gelbe Augen richteten sich auf die Eindringlinge. Der Schattendrache zischte etwas in einer alten, kehligen Sprache. Die Worte ließen Boltor das Blut in den Adern gefrieren und der Zwerg kauerte sich furchterfüllt in eine Ecke.
Dann begann der Kampf.
Herr, gewähre mir deine göttliche Einsicht.
Hades schloss seine Hand um das Heft der Sonnenklinge Styx und fokussierte die göttliche Energie, die durch seinen Körper rann.
„Auf mein Kommando, stürmt!“, rief er dabei, bereit einen vernichtenden Sturm gegen den Schattenwächter anzuführen. Doch der Drache war schneller. Mit einem Zischen breitete er seine Flügel aus, stob in die Luft und spie den Gefährten seinen eisigen Atem entgegen. Hades spürte, wie der Drachenodem an seiner Lebenskraft zehrte, doch noch ärgerlicher war der Umstand, dass die veränderte Position des Gegners einen Sturmangriff mit vereinten Kräften vereitelte. Um den Drachen in der Luft zu erreichen, musste der Richter erst das Gebet sprechen, das ihm Kelemvors überirdische Größe und Stärke verlieh. Als er endlich zum Zug kam, war die Gunst des Augenblicks längst verflogen. Hades überließ die Bewegungen seines Körpers Kelemvors göttlicher Führung, doch der Richter der Toten schien an diesem Tag wenig gewillt, den Drachen seinem Urteilsspruch zu unterziehen: Immer wieder gelang es dem schattenhaften Wächter, die Augen seiner Gegner zu täuschen und ihre Angriffe ins Leere zu lenken. Zwei Geister, Todesalben, die wahrscheinlich der Kampfeslärm herbeigelockt hatte, waren an der Ostseite des Raums aufgetaucht und hielten Grimwardt in Schach. Dennoch schien der Drache einzusehen, dass er gegen die Übermacht seiner Gegner keine Chance hatte und teleportierte sich davon, ehe Hades ihm den Todesstoß versetzen konnte. Die Todesalben waren schnell besiegt, doch es war ein unbefriedigender Sieg.
„Wir sollten uns zurückziehen“, erkannte Winter, während sie dem verängstigte Zwergen aufhalf, dessen Nase sofort wieder in seinem Humpen verschwand, als versuche er seine verlorene Würde auf dem Grund seines nimmerleeren Füllhorns wieder zu finden . „Wir wissen zu wenig über die Schattenebene und ihre Gefahren. Lasst uns morgen nach der Gerichtverhandlung zurückkommen.“
Hades musste sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Dieser Kampf hätte nicht so sehr an ihren Kräften zehren dürfen. Der Drache mochte ein achtbarer Gegner sein, doch er hatte bereits gegen weitaus mächtigere Feinde den Sieg davongetragen. Wenn dieser Ort tatsächlich von einem Halbgott regiert wurde, würde es nicht ausreichen, mit halber Kraft in den Kampf zu ziehen. Ihnen blieb keine andere Wahl als der Rückzug, selbst wenn sie dadurch das Überraschungsmoment einbüßen mussten.
Winter
Die Gewölbekammern von Silbrigmond, am nächsten Morgen.
Als die Gefährten das Foyer der Bibliothek betraten, gerieten sie in einen Strudel von Gelehrten, Studenten und Deneir-Bibliothekaren, die sich aufgeregt lamentierend um ein Nachrichtenportal auf der Galerie scharrten.
„Was ist denn passiert?“, wandte sich Winter an einen der Herumstehenden.
„Ihr wisst es noch nicht?“, entgegnete der Angesprochene. „Gestern Abend tauchte am See der Schatten eine antimagische Zone auf, die sich inzwischen über ganz Anauroch verbreitet hat. Eine zweite entstand heute Morgen im Schattental. Niemand weiß, wer dahinter steckt oder wie so etwas möglich ist… eine magietote Zone von solchen Ausmaßen!“
Winter stutzte. Eine magietote Zone in der Wüste von Anauroch? Das ließ die Tagebucheinträge des Lord Oleander in einem ganz neuen Licht erscheinen. Doch darum würden sie sich später kümmern. Zunächst galt es, Doriens Anwalt, der, wie sie von seiner Haushälterin erfahren hatten, um diese Zeit im Foyer seinen allmorgendlichen Tee einzunehmen pflegte, über die neuen Entwicklungen zu informieren und ihm eine Abschrift des Tagebuchs zukommen zu lassen, um für die morgige Verhandlung gerüstet zu sein.
Der Anwalt entpuppte sich als achtbarer älterer Herr, der nichts in der Welt so sehr schätzte wie eine Tasse guten Tees. Ihm schien zwar weniger Doriens Kopf als Lucindas Gold am Herzen zu liegen, doch nachdem er die Aufzeichnungen des Fürsten gelesen und sich den Bericht der Gefährten angehört hatte, schien er immerhin in Erwägung zu ziehen, dass sein Mandant tatsächlich unschuldig war. Winter konnte nur hoffen, dass ihn dieser Gedanke bei der Verhandlung am nächsten Tag ein wenig aus seiner schläfrigen Geruhsamkeit reißen würde.
„Was steht als nächstes an?“, fragte Hades, nachdem der Anwalt gegangen war.
Im selben Moment fuhr Grimwardt zusammen.
„Grim, was hast du?“
„Die Brosche.“
„Welche Brosche?“
„Sie ist erloschen! Die Abtei ist in Gefahr.“ Der Abteivogt erhob sich so abrupt, dass er beinahe seinen Stuhl umgerissen hätte. „Winter, du musst mich auf der Stelle…“
„Grimwardt, ich kann dich nicht zurück teleportieren“, sagte Winter und ergriff beschwichtigend seinen Arm. „Es muss an der magietoten Zone liegen. Wahrscheinlich hat sie sich inzwischen auf das Schlachtental ausgeweitet, sodass…“
Winter erschrak. Wenn sie die Abtei bereits erreicht hatte, so musste die magielose Zone auch die Kleinstadt Ashabenfurt im Misteltal bereits überzogen haben. Ashabenfurt, wo ihre Eltern ein kleines Gasthaus und einen Mietstall unterhielten und wohin sie Scarlet und ihre Großeltern gebracht hatte, um sie vor Drake zu schützen…. Winter schluckte. Der Wegfall der Magie würde unweigerlich Plünderer und Banditen auf den Plan rufen, die die Gelegenheit beim Schopfe packen und sich die Schutzlosigkeit der Talländer zu Nutze machen würden.
„Was sollen wir tun?“, fragte sie mit belegter Stimme.
„Beginnen wir mit den Tagebuchaufzeichnungen“, schlug Hades vor, um die Geschwister von ihren Sorgen abzulenken.
Zumindest was Oleanders Aufzeichnungen anging, hatte Drake sie nicht getäuscht. In seinem Tagebuch schilderte der Fürst den Verlauf seiner letzten Harfner-Mission, die ihn auf die Spur einer Elfe gebracht hatte, die Silbrigmonds Adelskreise für einen Halbdämon namens Lord Volumvax Sciagraph ausspioniert hatte. Als sie herausgefunden hatte, dass Oleander ihr auf die Schliche gekommen war, hatte sie ihm einen Meuchelmörder auf den Hals gehetzt, doch der Fürst war dem Anschlag entkommen. Aus Aufzeichnungen, die die Elfe bei sich trug, war hervorgegangen, dass ihr Auftraggeber mit dem Prinzen Hadhrune von Umbra in Verbindung stand. Ein weiterer Hinweis hatte Oleander schließlich in die Nachbarstadt Sundabar geführt. Sein letzter Eintrag lag etwa einen Zehntag zurück:
Sundabar, 13. Tag des Tarsakh
Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Die Zwerge des Unterheims erzählen, dass der Vulkansee in letzter Zeit angestiegen ist. Gleich morgen früh werde ich zum Immerfeuer hinunter gehen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Was immer der Fürst dort, am Vulkansee von Sundabar, gefunden hatte, es hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Irgendwie musste er es ihm gelungen sein, sich verwundet zurück nach Silbrigmond zu schleppen, wo ihn seine Gemahlin gesund gepflegt hatte… bis zu jener Nacht vor zwei Tagen, als Drake das Ehepaar aufgespürt hatte…
Bestand ein Zusammenhang zwischen dem, was mit dem Immerfeuer von Sundabar geschah, und den magietoten Zonen im Osten? Immerhin schienen alle Wege zu Hadhrune zu führen, dem jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra. Doch was war es, wonach die Umbranten der Anauroch trachteten? Und welche Rolle spielte der Halbdämon?
Ihnen würde keine andere Wahl bleiben als nach Sundabar zu reisen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was ihre Freunde in den Talländern bedrohte.
Doch zunächst galt es ein weiteres Gruppenmitglied zu rekrutieren…
Kalith
Myth Drannor, kurz darauf.
Nichts als schwarze Leere und ein Spinnennetz aus silbernen Fäden. Doch da ist noch etwas. Etwas, das im Schatten lauert. Körperlos, fast unsichtbar. Schwarzer Nebel, der wabernd aus dem Nichts kriecht. Schleichend legt er sich um das silberne Gewebe und frisst sich durch die Knoten. Die Silberfäden reißen. Dann ein zweites Spinnennetz, das hinter dem ersten zum Vorschein kommt. Aber dieses ist schwarz. Schwärzer als die Nacht, die es umgibt.
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er ihr Gesicht.
„Hilf uns, Kalith“, sagt sie. „Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“
Kalith schrak auf und taumelte gegen einen Baumstamm.
Razeema? Was…?
Der Elfenritter rieb sich die Schläfen, um die Vision abzuschütteln, die ihn auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Hauptmann Fflar ereilt hatte. Dann machte er sich eilig auf den Rückweg zu Nimoroth. Der Druide hatte mit der Renovierung eines alten Baumhauskomplexes vor den Stadttoren begonnen, der wie geschaffen schien für seine Tempelschule. Als Kalith an der Baustelle ankam, war sein Cousin gerade in ein Gespräch mit den Neuankömmlingen vertieft. Die Fedaykin-Geschwister und ihr neuer Gefährte hatten Kalith am Vormittag überrascht, als er von einer Außenmission im Auftrag der Königin zurückgekehrt war.
„Und? Hat er dir den Tag freigegeben?“, erkundigte sich Winter nach dem Ausgang seines Treffens mit dem Hauptmann. Kalith nickte kurz in ihre Richtung.
„Auf dem Weg hierher hatte ich eine Vision“, kam er eilig auf das Wesentliche zu sprechen. „Razeema, eine alte Mitstreiterin, muss sie mir gesandt haben.“
Als er von dem Spinnennetz berichtete, runzelte Nimoroth die Stirn.
„Ich denke, ich weiß, was das zu bedeuten hat“, sagte er. „Erinnerst du dich? Razeema wirkte ihre Zauber über Shars Schattengewebe. Wenn ich deine Vision richtig deute, dann steht das silberne Spinnennetz für Mystras magisches Gewebe…“
„ Und das schwarze für Shars Schattengewebe“, ergänzte der Elfenritter.
Kalith, der wie die meisten Elfen in den Grundlangen der Magie ausgebildet war, wusste, dass Mystras Gewebe das Medium darstellte, über das Magier und Priester ihre Zauber wirkten. Shar, die Göttin der Dunkelheit und Mystras erbitterte Rivalin, hatte eine schattenhafte Kopie des magischen Gewebes erschaffen, um Zugriff auf das Portfolio der Magie zu erhalten und ihre Anhänger dem Einflussgebiet ihrer Konkurrentin zu entziehen. Es war möglich, das Schattengewebe auch ohne Shars Führung anzuzapfen, doch das erforderte einen starken Willen und große magische Begabung.
Kalith runzelte die Stirn.
„Das würde bedeuten, dass jemand versucht, das magische Gewebe zu zerstören...“, deutete er Razeemas Vision.
„Shar wäre die einzige, die daraus einen Vorteil ziehen würde“, erkannte Hades. „Wenn alle Zauberwirker ihrer magischen Kräfte entledigt würden, so hätten Shars Schergen gegenüber ihren Feinden einen entscheidenden Vorteil.“
„Vielleicht ist es Shar schon gelungen, das Gewebe anzugreifen“, warf Winter ein. „Denkt an die magietoten Zonen in der Anauroch und den Talländern.“
„Da ist noch etwas“, gab Kalith mit sorgenvollem Blick zu bedenken. „Mit der Vision sandte mir Razeema eine Art Hilferuf: Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“
„Ein Halbgott?“ Die anderen tauschten alarmierte Blicke.
„Nimoroth hat eine Theorie dazu, wer dieser Auftraggeber sein könnte, von dem in Oleanders Aufzeichnungen die Rede ist“, klärte Winter Kalith auf, der den ersten Teil ihrer Unterhaltung verpasst hatte.
„Ich meine irgendwo davon gelesen zu haben“, bestätigte Nimoroth. Seine Bemühungen, den Seelenquell zu finden, an dessen Rettung die Gruppe vor vielen Jahren gescheitert war, hatten sich zu einer regelrechten Manie entwickelt, die ihn in Kontakt mit allerlei obskurem planetarem Wissen brachte. „Demnach ist Lord Volumvax Sciagraph ein Halbgott, der von Shar in eine Taschendimension zwischen Schattenebene und materieller Ebene verbannt wurde: eben jene Adumbral Calyx“,
„Wir nehmen an, dass Lord Oleander in Sundabar einen Zugang zu dieser Zwischenebene gefunden hat“, ergriff Grimwardt das Wort. „Und dass ihn dieses Wissen das Leben gekostet hat.“
„Dann heißt unser nächstes Ziel wohl Sundabar“, seufzte Kalith.
Das bedeutete vor allem eines: jede Menge Zwerge.
Boltor
Kurz darauf vor den Stadttoren von Sundabar, Silbermarken.
Boltor kratzte sich den kahlen Schädel und fuhr sich durch den langen, zotteligen Bart, als er sich daran zu erinnern versuchte, was, beim Barte des Moradin, er eigentlich hier tat. Wie war er hierher gekommen? Und was wollte er hier? Der Zwerg tat, was er in Augenblicken des Gedächtnisverlusts immer zu tun pflegte: Er legte eine Pause ein und nahm einen kräftigen Zug aus seinem nimmerleeren Humpen, jenem magischen Füllhorn, das jedes alkoholische Getränk zu erschaffen vermochte, das Boltor ersann, und ihm schon bei so mancher Trinkwette einen Geldsegen beschert hatte.
Der Gedankenfluss des Zwergs wurde jäh unterbrochen, als neben ihm ein weißäugiger Riese aus dem Nichts tauchte. Der dunkelhäutige Gigant, der bequem über die Stadtmauer hätte spucken können, maß gut sechzehn Humpen (und war damit mehr als doppelt so groß wie ein durchschnittlich gebauter Mensch). Ein rotbärtiger Menschenkrieger (in Anbetracht der veränderten Größenverhältnisse mochte es sich auch um einen Riesenzwergen handeln), eine normalgroße Menschenfrau und ein Spitzohr tauchten ebenso unverhofft auf.
Boltor betrachtete stirnrunzelnd seinen Humpen. Hatte er die Stelle mit dem Kaninchenloch verpasst oder war das Zeug stärker als es schmeckte?
Immerhin schien er nicht der einzige zu sein, der nicht alle Tage von einem Trupp Titanen belagert wurde: Pfeilsalven prassten aus Richtung der Stadtmauer auf die Fremden ein und Torwächter begannen die Wehrbrücke hochzuziehen, um dem Sturmkommando den Zugang zur Stadt zu verwehren.
„Lass die Geisel frei, Riese!“, tönte es von der Stadtmauer.
„Welche Geisel?“, fragte der Riese verdutzt. „Und welcher Riese?“
„Na du, Ameisenhirn“, knurrte Boltor. „Und die Geisel bin dann wohl ich. Du hast es gehört. Schwirr ab oder es hackt was!“
„Auf mir liegt ein Schutzgebet, das mich so groß macht“, dröhnte Bleichauge und erhob beschwichtigend die Hände. „Und wir hegen nicht die Absicht, jemanden zu entführen. Im Gegenteil: Wir sind hier, um diese Stadt vor Unheil zu bewahren.“
„Das einzige Unheil, das ich hier sehe, misst sechzehn Humpen und glotzt mich aus blinden weißen Augen an“, keifte der Zwerg.
„Ich bin nicht blind“, erwiderte der Riese in einem leicht arroganten Tonfall, der überhaupt nicht nach Riese klang. „Nicht mehr. Die Augen verdanke ich einer denkwürdigen Begegnung mit einem Untoten.“
Nach einer Weile wurde die Wehrbrücke heruntergelassen und eine Menschenfrau mit harten, humorlosen Gesichtszügen ritt, eskortiert von einem Trupp zwergischer Eberreiter, aus den Stadttoren. An der Spitze der Eskorte erkannte Boltor …. seine Cousine Erdmute! Die Zwergin mit den feuerroten Rastazöpfen war Schildherrin der Steinschilde, Sundabars Zwergenwache, die in ständigem Streit mit dem menschlichen Ritterorden der Schildsar lag. Wenn es nach Erdmute gegangen wäre, so hätten sich die Zwerge des Unterheims wohl niemals mit den Menschen der Oberstadt verbündet, um Sundabar gegen die Teufelssaat vom Grat der Welt zu verteidigen. Nun, da er sie sah, erinnerte sich Boltor auch wieder, weshalb er hier war. Erdmute hatte ihn – das schwarze Schaf der Familie – doch tatsächlich eingeladen, sie zu besuchen!
Die Menschenfrau – ihr Glaubensamulett wies sie als Tyrpriesterin aus – unterzog den falschen Riesen und seine Begleiter einem magischen Verhör. Mit einem Nicken gab sie schließlich Entwarnung und bedeutete Erdmute, den Trupp in die Stadt zu geleiten.
„Was hast du dieses Mal ausgefressen?“, raunte die Kommandantin ihm zu, als sie an Boltor vorbei ritt. „Wieso bist du hier? Willst du mich wieder einmal blamieren?“
„Häh?“ Baltor sah aus seinen kleinen rotgeränderten Augen zu ihr auf. „Du hast mich doch eingeladen!“
„Das war vor drei Wochen!“, schalt ihn seine Cousine. „Zum Clanstreffen. Hast wohl wieder zu tief in deinen Humpen geschaut, du elender Trunkenbold!“
„Hau rein!“, erinnerte Boltor sie an das alte Clanmotto.
„Geh fott!“, konterte Erdmute mit einem Leitsatz der Steinschilde.
Vier verständnislose Augenpaare waren auf die beiden Zwerge gerichtet.
Winter
Kurz darauf in Sundabar.
Auf dem Weg ins Unterheim führte Schildherrin Erdmute die Gruppe in die Taverne Zur Trompete. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, empfing sie ein ohrenbetäubender Krach, der von einer Gruppe zwergischer Trommler herrührte. Die Kommandantin, die erklärte, dass es sich um eine „Thur-desk“-Aufführung handele, schien den Lärm für eine Art musikalische Kunstform zu halten. Zu Winters Leidwesen ließen sie und ihr Cousin, der ohnehin bereits hackedicht zu sein schien, es sich nicht nehmen, auf einen Schluck Zwergenschnaps zu bleiben.
„Hau rein!“, sagte Boltor schon wieder und erhob seinen Zauberhumpen.
„Geh fott!“, erwiderte die Schildherrin und die beiden stießen an.
Kaliths gequältem Gesichtsausdruck und Hades’ steifer Unbewegtheit entnahm Winter, dass sie nicht die einzige war, die ihre erste Begegnung mit der zwergischen Kultur als ein traumatisches Ereignis in Erinnerung behalten würde. Allein Grimwardt war fast enttäuscht, als Erdmute dem Wirt ein paar Münzen zuwarf und sie durch den zweiten Eingang der Taverne in den zwergischen Teil der Stadt führte.
Der Geräuschpegel nahm kaum ab, als sie das Unterheim betraten: Überall wurde gehämmert und geklopft und das Glühen, das aus den Schmieden drang, war die einzige Lichtquelle im ewigen Dunkel des Unterreichs. Während die Gefährten durch ein Gewirr von unterirdischen Säulengängen und Versammlungshallen irrten, die sie tiefer und tiefer ins Erdreich führten, erklärte Erdmute ihnen, dass das Immerfeuer einen magischen Knotenpunkt darstelle.
„Früher war der Vulkansee umgeben von Schmiedemeistern, die seine Magie nutzten, um in dem Feuersee die besten Waffen Faerûns herzustellen“, erklärte sie mit unverhohlenem Stolz. „Doch seit das Immerfeuer vor einigen Jahren über die Ufer trat und die Umgebung verwüstete, sind sie einer nach dem anderen ins Unterheim abgewandert.“
„Ist Euch in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Hades, wie immer auf ihre Mission bedacht. „Irgendeine Veränderung des Vulkansees?“
„Seitdem die Zwerge das Immerfeuer verlassen haben, kommt hier kaum noch jemand hin“, sagte die Schildherrin. „Doch seht selbst. Wir sind da.“
Sie waren schon seit einiger Zeit auf keine Zwergenbehausungen mehr gestoßen und das Hämmern und Klopfen war ebenfalls verklungen. Ein fiebriges Glühen leuchtete ihnen vom Ende des Ganges entgegen. Die Gefährten betraten eine Höhle von gigantischen Ausmaßen, in deren Mitte ein mit Magma gefüllter Spalt klaffte. Die traurigen Ruinen von erkalteter Lava überzogener Schmieden hoben sich dunkel gegen das Rot des Feuerscheins ab, der aus der Erdspalte drang. Als sie näher trat, erkannte Winter, dass sich an der breitesten Stelle des Vulkansees ein Strudel gebildet hatte, der die Magmamassen schwerfällig in die Tiefe sog. Als sie versuchte, ihren magischen Blick auf das Immerfeuer anzuwenden, erkannte die Diebesmeisterin zudem, dass die Magie an diesem Ort verrückt spielte. Eine unsichtbare Macht schien den Vulkansee zu manipulieren.
„Was ist das?“, fragte Kalith, der noch eine weitere Entdeckung gemacht hatte. „Ich dachte, dieser Ort sei unbewohnt?“
Winter folgte dem Blick des Elfen und erblickte zwischen den Schmiederuinen am Ufer des Feuersees ein turmartiges Gebäude, das den Anschein machte, als hätten Kinder Stockwerke wie Bauklötze übereinander geschichtet und dann beim Fortrennen angerempelt, sodass das wacklige Konstrukt jeden Augenblick einzustürzen drohte. Ein Lichtkegel, der aus der Pagode drang, die das Gebäude abschloss, geisterte wie das Leuchtfeuer eines Leuchtturms über den Vulkansee.
„Ach das“, sagte Erdmute abfällig. „Das ist bloß der Turm des irren Wuschkins.“
„Der irre Wuschkin?“
Die Schildherrin schnaubte. „Komischer Kauz. War einst ein angesehener Magier. Naja, bevor er irre wurde und dieses Ding da baute, um seine abstrusen Experimente durchzuführen.“
„Können wir mit ihm sprechen?“, wollte Winter wissen. Wenn er ein Magier war, konnte er ihnen womöglich sagen, was es mit dem Strudel und der unbändigen Magie hier unten auf sich hatte. Die Diebesmeisterin war sich sicher, das diese Dinge etwas mit dem Portal auf die Schattenebene zu tun hatten, das sie hier vermuteten.
„Versuchen könnt ihr’s“, meinte Erdmute.
Als auf ihr Klopfen niemand antwortete, hämmerte die Zwergin mit ihrem Schild gegen die Tür und befahl Wuschkin sich zu zeigen. Ein hageres Männchen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Zwerg aufwies, lugte hinter der Tür hervor. Auf seiner Schulter saß ein hässliches Katzentier, das aussah wie aus verschiedenen Exemplaren seiner Art zusammengenäht und auch der Magier selbst schien mehr als einmal zum Opfer seiner eigenen, misslungenen Experimente geworden zu sein. Nach wiederholter Zusicherung, dass sie nur mit ihm reden wollten, ließ Meister Wuschkin die Gruppe schließlich ein und führte sie hinkend in einen kleinen Wohnraum, der dem Anschein nach auch als Labor diente. So war der Tisch übersät mit Fledermausdung, Rattenschwänzen und anderen Zauberkomponenten und in einem Einmachglas auf dem Regal dümpelte ein eingelegtes Tierhirn vor sich hin. Als Winter begann ihre Fragen an ihn zu richten, zuckte der Zwerg zusammen wie ein verschrecktes Kaninchen.
„Das Immerfeuer?“, fragte er mit furchtgeweiteten Augen. „N-nein, ich weiß nicht, was dieser Strudel zu bedeuten hat.“
„Habt Ihr Euch denn niemals gefragt, was…“
Wuschkin schüttelte den Kopf, noch ehe Winter die Frage gestellt hatte.
„Was hat es mit dem Licht auf dem Turm auf sich?“, schaltete sich nun Hades in die Diskussion ein.
„L-licht?“, stotterte Wuschkin. „Welches Licht?“
„Raus mit der Sprache.“ Hades hatte sich offenbar für eine Strategieänderung entschlossen. „Wir wissen von dem Portal.“
„P-p-p-portal?“, quiekte der Magier.
Winter seufzte. Es war ganz offensichtlich, dass der Zwerg nicht freiwillig mit der Sprache herausrücken würde. Während sie noch überlegte, ob sie ihn wohl mit einer Bezauberung zum Reden bringen konnte, holte Boltor, der besoffene Zwerg, plötzlich zum Schlag aus. Seine lähmende Faust traf den Magier genau zwischen die Augen. Wuschkin erstarrte wie schockgefroren und kippte um.
Boltor zuckte mit den Schultern.
„Der Kerl ging mir auf den Geist“, knurrte er. „Dachte, ich verkürze die Diskussion. Fesseln wir ihn und machen uns dann selbst auf die Suche nach eurem Portal.“
„Wo habt ihr das gelernt?“, wunderte sich Grimwardt, während er sich daran machte, Boltors Vorschlag in die Tat umzusetzen. Winter war offenbar nicht die einzige, die den schmuddeligen Trunkenbold unterschätzt hatte.
„Mönchskloster“, sagte der Zwerg kurz angebunden. „Bevor die mich rausgeworfen haben.“ Zur Erklärung erhob er seinen Humpen, prostete Grimwardt zu und nahm einen kräftigen Schluck.
Die Durchsuchung des Turms blieb bis auf die Entdeckung eines seltenen und äußerst wertvollen Lehrbuchs über die Mysterien des Schattengewebes, das als billiger Schundroman getarnt war, erfolglos. Auch Winters Versuch, auf magische Weise in der Mitte des Vulkansees nach einem Ebenenportal zu suchen schlug fehl. Zu allem Überfluss entwischte ihnen schließlich auch noch der irre Wuschkin, den sie gefesselt in seinem Labor zurück gelassen hatten, ohne zu bedenken, dass die unbändige Magie dem Schattenadepten nichts anhaben konnte. Ratlos und ein wenig entmutigt brauchte Winter schließlich ihre letzte Schriftrolle auf, um im Turm selbst nach einem versteckten Portal zu suchen.
Diesmal hatte sie Glück: der Zauber führte die Gefährten in die Pagode im obersten Stockwerk. Ein Großteil des kleinen Säulenpavillions wurde von einer riesigen Lampe eingenommen, die von zahlreichen Linsen begrenzt wurde. Ein drehbarer Untergrund hielt die Lampe in ständiger Bewegung, was den rotierenden Lichtkegel erzeugte, den sie von unten gesehen hatten. In einer versteckten Bodenvertiefung unter der Lampe fand Winter eine große schwarze Linse. Dank des Erkenntniszaubers wusste sie, dass durch das Einsetzen der Linse in die Lampenhalterung ein Portal auf die Adumbral Calyx geöffnet würde. Doch kaum hatte sie die Linse berührt, um sie aus der Bodenvertiefung zu nehmen, wurden die vier Statuen, die das Dach der Pagode trugen, plötzlich lebendig und erhoben ihre steinernen Fäuste gegen die Eindringlinge.
Der Platzmangel machte den ausbrechenden Kampf schwierig. Winter wirkte einen Flugzauber, um den Angriffen der Steingolems zu entgehen, während Boltor der Zwerg seine magischen Stiefel einsetzte, um aus der Luft anzugreifen. Hades, Kalith und Grimwardt jedoch schränkte die Enge des Raumes in ihrer Beweglichkeit ein. Hades musste seinen Schutzzauber fallenlassen, um überhaupt in den Raum zu passen. Dazu brachte jeder erfolgreiche Angriff das Dach zum Wanken, das auf den abgeflachten Köpfen der steinernen Konstrukte lastete. Aus diesem Grund traute sich Winter auch nicht, ihren mächtigsten Zauber, einen Auflösungsstrahl, gegen die Golems einzusetzen, denn der Einsturz des Daches würde das Portal unweigerlich zerstören. Zu ihrem Ärger griff schließlich auch noch Wuschkin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, in den Kampf ein. Ein Feuerball, den der Magier in der Mitte des Laternenraums zündete, traf Grimwardt mit voller Wucht und zwang den mächtigen Krieger in die Knie. Doch ehe Winter sich den Schurken vorknöpfen konnte, war Wuschkin auch schon wieder verschwunden. Endlich knickte auch der letzte der vier Golems ein. Das Dach knarrte bedrohlich unter den verlagerten Gewichtsverhältnissen und die Gefährten machten sich eilig daran, die schwarze Linse in die Halterung über der Laterne einzusetzen.
Dann wurde es dunkel.
Hades
Adumbral Calyx, kurz darauf.
Hades spürte, wie ihn etwas streifte. Ein rotierender Strahl, kälter als Eis und schwärzer als die Finsternis, die ihn umgab. Beißender Schmerz. Keuchend ging der Streiter des Kelemvor in die Knie.
„Flach auf den Boden werfen!“
Blind befolgte er Winters Befehl. Dann hörte er sie aufschreien.
„Grim!“
Hades robbte auf Winter zu. Auf dem Weg stieß er gegen ihren Bruder, der reglos am Boden lag. Der hünenhafte Krieger schulterte den Tempuspriester und folgte Winters Anweisungen, die ihn durch eine Bodenklappe aus der Reichweite des Schattenstrahls lotste. Hades stolperte eine Sprossenleiter hinunter und landete in einem Treppenhaus, das spärlich vom Licht einer Fackel beleuchtet war.
„Was war das?“, keuchte der Richter. „Woher wusstet Ihr von der Klappe im Boden?“
„Weil wir wieder in dem Lampenraum waren“, murmelte Winter. „Durch meine magische Dunkelsicht konnte ich ihn sehen. Derselbe Ort, dieselbe Aussicht auf das Immerfeuer, nur düsterer, undefinierter. Der Strahl, der Euch getroffen hat, war eine Schattenversion des Leuchtfeuers aus Wuschkins Turm.“
„Verstehe.“
Demnach war die Schattenebene eine Art Parallelwelt zur materiellen Ebene. Höchst bemerkenswert.
Hades kniete sich zu Grimwardt und sprach ein Gebet.
Richter der Verdammten, wenn es noch nicht an der Zeit ist, ihn zu dir zu nehmen, erhöre mich und schick diesen Krieger zu uns zurück.
Grimwardt öffnete die Augen und grummelte etwas Unverständliches, das ein Wort des Danks sein mochte. Während die Gefährten die Treppen hinab stiegen, klärte Winter ihren Bruder flüsternd darüber auf, was mit ihm geschehen war. Das Treppenhaus endete vor einer unverschlossenen Tür. Hades trat als erster ein.
Sie waren im Labor eines schwarzen Magiers gelandet. Dampfende Reagenzgläser enthielten magische Substanzen, die den Raum in dämmriges Zwielicht tauchten, halblebendige Kreaturen dümpeln in Einmachgläsern vor sich hin und in einem deckenhohen Bottich, der mit schwarzer Schattenmaterie gefüllt war, wurde eine grässliche Kreatur herangezüchtet. Sie schien sich noch nicht auf eine Gestalt festgelegt zu haben, doch jede ihrer Formen war ein Abbild des puren Horrors. Erst auf den zweiten Blick erspähte Hades den Wächter der finsteren Arbeitsstätte: Eingerollt in einer Ecke des Labors harrte die schattenhafte Silhouette eines Drachens, nicht größer als ein Pferd. Als Hades den Raum betrat, wachte er auf und zwei strahlende, tellergroße gelbe Augen richteten sich auf die Eindringlinge. Der Schattendrache zischte etwas in einer alten, kehligen Sprache. Die Worte ließen Boltor das Blut in den Adern gefrieren und der Zwerg kauerte sich furchterfüllt in eine Ecke.
Dann begann der Kampf.
Herr, gewähre mir deine göttliche Einsicht.
Hades schloss seine Hand um das Heft der Sonnenklinge Styx und fokussierte die göttliche Energie, die durch seinen Körper rann.
„Auf mein Kommando, stürmt!“, rief er dabei, bereit einen vernichtenden Sturm gegen den Schattenwächter anzuführen. Doch der Drache war schneller. Mit einem Zischen breitete er seine Flügel aus, stob in die Luft und spie den Gefährten seinen eisigen Atem entgegen. Hades spürte, wie der Drachenodem an seiner Lebenskraft zehrte, doch noch ärgerlicher war der Umstand, dass die veränderte Position des Gegners einen Sturmangriff mit vereinten Kräften vereitelte. Um den Drachen in der Luft zu erreichen, musste der Richter erst das Gebet sprechen, das ihm Kelemvors überirdische Größe und Stärke verlieh. Als er endlich zum Zug kam, war die Gunst des Augenblicks längst verflogen. Hades überließ die Bewegungen seines Körpers Kelemvors göttlicher Führung, doch der Richter der Toten schien an diesem Tag wenig gewillt, den Drachen seinem Urteilsspruch zu unterziehen: Immer wieder gelang es dem schattenhaften Wächter, die Augen seiner Gegner zu täuschen und ihre Angriffe ins Leere zu lenken. Zwei Geister, Todesalben, die wahrscheinlich der Kampfeslärm herbeigelockt hatte, waren an der Ostseite des Raums aufgetaucht und hielten Grimwardt in Schach. Dennoch schien der Drache einzusehen, dass er gegen die Übermacht seiner Gegner keine Chance hatte und teleportierte sich davon, ehe Hades ihm den Todesstoß versetzen konnte. Die Todesalben waren schnell besiegt, doch es war ein unbefriedigender Sieg.
„Wir sollten uns zurückziehen“, erkannte Winter, während sie dem verängstigte Zwergen aufhalf, dessen Nase sofort wieder in seinem Humpen verschwand, als versuche er seine verlorene Würde auf dem Grund seines nimmerleeren Füllhorns wieder zu finden . „Wir wissen zu wenig über die Schattenebene und ihre Gefahren. Lasst uns morgen nach der Gerichtverhandlung zurückkommen.“
Hades musste sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Dieser Kampf hätte nicht so sehr an ihren Kräften zehren dürfen. Der Drache mochte ein achtbarer Gegner sein, doch er hatte bereits gegen weitaus mächtigere Feinde den Sieg davongetragen. Wenn dieser Ort tatsächlich von einem Halbgott regiert wurde, würde es nicht ausreichen, mit halber Kraft in den Kampf zu ziehen. Ihnen blieb keine andere Wahl als der Rückzug, selbst wenn sie dadurch das Überraschungsmoment einbüßen mussten.