Kapitel IX: Die Ruinen von Oreme
Winter
Vier Tage später, Oase Biradoon, Nordwesten von Anauroch.
„Das ist Wucher“, empörte sich Winter.
„250 Gold pro Kopf und Tag“, beharrte der Karawanenführer. „Ist letztes Angebot. Alif Ben Kanaan ist bester Wüstenführer in Anauroch. Weiß, wie man Zhentarim-Zölle umgehen kann. Kennt alle Oasen auf Weg nach Oreme. Ist gefährlich in Oreme. Wüste hat eigenen Willen dort. Und viele Geenies und Asherati.“
„Ashe… was?“
„Sanddiebe. Sehr gefährlich. Verstecken sich nachts im Sand, um Karawanen zu überfallen. Braucht ihr guten Führer, wenn ihr nach Oreme wollt.“
„1000 Gold pauschal.“ Winter verschränkte stur die Arme vor der Brust. Sie traute dem kleinen Beduinen mit dem geschäftstüchtigen Grinsen nicht. Mochten die Götter wissen, auf welche Umwege er sie führte, nur um noch den ein oder anderen Tagessatz für sich herauszuschlagen. „Die Hälfte als Anzahlung.“
Alif Ben Kanaan rümpfte pikiert die Nase und wandte sich ab, um seinem Kamel den Hals zu kraulen und Winter zu verstehen zu geben, welche Beleidigung ihr Angebot für ihn war. Sie schnaubte, als sie den blasierten Blick des gelangweilt vor sich hin schmatzenden Tiers auffing, und stapfte davon. Grimwardt folgte seiner Schwester, die auf einen der Tee-Pavillons zusteuerte, die die kleine Handelsenklave am Rande der Biradoon-Oase säumten. Vor dem Zelt speiste eine Gruppe von D‘Tairig, die ein seltsames schwarzes Gebräu aus kleinen Bechern schlürfte. Unter den Männern befand sich ein weiterer Kamelführer. Doch der alte Beduine, dessen Gesicht so schrumpelig war wie die schwarzen Früchte in seiner Essschale, sah nicht einmal auf, als Winter ihn ansprach. Sie wollte ihm gerade mit einer bissigen Bemerkung zu verstehen geben, was sie von seinem Kundenumgang hielt, als Grimwardt ihr mit einer mäßigenden Geste die Hand auf die Schulter legte.
„Hättet Ihr wohl Interesse an einem Auftrag, wenn ich ihn Euch unterbreiten würde?“, wandte er sich an den Nomaden.
Mit einer Mischung aus stiller Würde und Ehrerbietigkeit erhob sich der Alte und verneigte sich vor dem Tempuspriester. Winter seufzte. Großartig. Offenbar ging es gegen die Ehre des Alten mit einer Frau zu verhandeln. Nein, hier würde sie nicht viel ausrichten können. Also zurück zu Alif und den anderen. Die Verhandlung mit dem jüngeren Karawanenführer hatte inzwischen eine bizarre Wendung genommen: Statt auf den geschäftstüchtigen Beduinen traf Winter auf einen fluchenden Schluckspecht, der sich mit der Verbissenheit eines Wahnsinnigen darum bemühte, Boltors nimmerleeren Humpen zu bezwingen.
„Das ist Betrug!“, schimpfte er lallend. „Dumme Humpen ist niemals leer! Ist magische Humpen!“
„In einer magietoten Zone? Wie das?“ , konterte Faust, der das Schauspiel mit verschränkten Armen und einem siegessicheren Schmunzeln beobachtete. „Gib’s zu: Du hast es einfach nicht drauf.“
„Sieht so aus, als ob wir die Wette gewonnen hätten.“ Boltor schnalzte mit der Zunge. „1000 Gold für Hin- und Rückweg, Kamele inklusive.“
Winter schmunzelte und warf einen hastigen Blick über die Schulter: Gut. Grimwardt war noch ins Gespräch mit dem Alten vertieft. Besser, sie ließen diese kleine List ihm gegenüber unerwähnt. Ihr Bruder konnte furchtbar kleinlich sein, wenn es um unorthodoxe Handlungsstrategien ging.
Nachdem der Handel geschlossen war, zog es die Männer in das Teehaus am Rand der Nomadensiedlung, während Winter Miu dabei half, ein wenig abseits der Beduinenzelte ihr Lager aufzuschlagen. Sie hatten gerade den letzten Zeltnagel im Boden versenkt, als Faust mit einer verschleierten Beduinin im Schlepptau zurückkehrte. Miu zuckte mit keiner Wimper, doch der bloße Anblick der keuchen jungen Karaturianerin schien den Kämpfer in die Defensive zu zwingen.
„Sie soll nur für mich tanzen!“, verteidigte er sich mit dem treuherzigen Blick eines Straßenjungen, der gerade, als er herzhaft in einen ehrlich verdienten Apfel beißen will, innehält, weil der Obstladenbesitzer ihn mit misstrauischer Miene beäugt. „Ehrlich! Es heißt, die muss man gesehen haben… die Bauchtänze der D’Tairig.“
Miu bedachte seine Beteuerungen mit einem ihrer duldsam-stoischen Blicke, doch Winter entging nicht das leise Schmunzeln, das sie hinter vorgehaltener Hand verbarg, als Faust mit seiner Begleiterin im Zelt verschwunden war. Auch Winter musste lachen. Doch es war ein verhaltenes Lachen und als ihr das auffiel, überkam sie eine merkwürdig schwermütige Stimmung. Seufzend ließ sie sich vor dem Zelt nieder, grub die Zehen in den Sand und ließ ihren Blick über die Dünen gleiten. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie gedankenverloren mir einem kleinen magischen Kompass spielte, den Grax, der Halbork-Barde aus Heinos Zirkustruppe, ihr zum Geschenk gemacht hatte.
Vor ihrer Abreise aus Myth Drannor hatte sie den Zirkusartisten darum gebeten, eine Ballade zu verfassen. Eine Ballade zu Ehren Doriens. Grimwardt hatte verächtlich geschnaubt und etwas von „Lug und Trug“ gemurmelt, als sie ihm die erste Strophe vorgetragen hatte. Zugegeben, es gehörte ein wenig Fantasie dazu, Dorien in Grax‘ „Ritter voll Tugend und Glanz“ wiederzuerkennen. Und auch die Schilderung seines „o furchtlosen Ringens mit dem rasenden Rachegott“ trug nicht unbedingt zur Authentizität der Ballade bei. Doch strahlende Ritter und furchtlose Ringkämpfe waren der Stoff, aus dem Heldenepen gemacht waren, und Winter war entschlossen, Dorien unsterblich zu machen.
Scarlet und ihre Großeltern hatte sie mit Razeemas Hilfe nach Silbrigmond gebracht. Die Halbdrow war später nach Myth Drannor zurückgekehrt, um den Elfen bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen. Kalith war ebenfalls zurückgeblieben, um seiner Heimat im Kampf gegen die Allianz beizustehen. Der Rest der Gruppe hatte sich auf den Weg zur Kerzenburg gemacht, um Erkundigungen zu den Gründerrassen und dem Schöpfungsritual der Nesserrollen einzuholen.
Drei Tage lang hatten sie die Bibliothek durchforstet. Die historischen Schriften eines Autors, der sich selbst der „Weltenseher“ nannte, hatten sie schließlich auf die Spur der Sarrukh gebracht. Das Echsenvolk, eine der Gründerrassen, war vor vielen tausenden Jahren in einer Stadt namens Oreme im heutigen Gebiet der Anauroch beheimatet gewesen. Einem Auserwählten unter den Sarrukh hatten die Götter einen Schluck aus dem Kelch des Amaunator gewährt, der ihn mit göttlicher Einsicht in die Mysterien der Magie erfüllte. Dieses Wissen schrieb der Auserwählte nieder, und so entstand die erste Version der Nesserrollen. Als das Reich der Sarrukh zerfiel, verschanzten sich die sechzig mächtigsten Zauberwirker der Stadt mit den Schriftrollen in den Katakomben von Oreme, um ihre Körper in Leichname zu verwandeln und so der Vernichtung zu entgehen. Noch heute, so schrieb der Weltenseher, ruhten sie dort unter den Ruinen von Oreme. Einer der sechzig jedoch war für 10 000 Jahren zum Wächter der Grabstätte ernannt worden. Es musste jener Wächter gewesen sein, der die Schriftrollen unter den Menschen von Nesserril verbreitet hatte. Und er war es auch, den die Gefährten hier in der Anauroch zu finden hofften. Denn wenn es jemanden gab, der um das Geheimnis ihrer Zerstörung wusste, dann war er es.
Grimwardt
In der Wüste, fünf Tage später.
„Sicher, dass ich den Betttopf heute stecken lassen kann?“, fragte Faust mit einem breiten Grinsen.
„Ist die komische grüne Färbung um die Nase bei euch Menschen normal?“, stimmte Boltor in den Spottgesang mit ein.
„Sollen wir vielleicht ein wenig langsamer reiten?“ Selbst Winter ließ es sich nicht nehmen, den großen Bruder auf die Schippe zu nehmen.
Grimwardt schnaubte griesgrämig in seinen Bart hinein. Seit ihm die Hitze und das ständige Ruckeln und Wanken am ersten Tag der Reise ein wenig auf den Magen geschlagen waren, wollten die Sticheleien und Seitenhiebe einfach nicht abreißen. Noch so ein geistreicher Kommentar und irgendwem würde das Lachen gehörig vergehen! Die eintönige Umgebung und die kärgliche Versorgung trugen auch nicht gerade dazu bei, Grimwardts grantige Laune zu heben. Was würde er jetzt nicht für ein gutes, deftiges Heldenmahl geben. Außerdem hatte er seit fünf Tagen nichts weiter gesehen als endlose Dünen und das knochige Hinterteil des Leitkamels.
„Dort hinten ist es.“ Die Worte des beduinischen Wüstenführers ließen Grimwardt aufblicken. „Das ist Oreme.“
Sie hatten eine mächtige Düne erklommen. In einiger Entfernung erspähte der Kriegspriester ein gigantisches Ruinenfeld, das in einer Talsenke am Rande eines ausgetrockneten Flussbetts gelegen war. Von der Zeit zersetzte Torbögen und Gebäudetrümmer malten dunkle, grotesk vergrößerte Schatten in den Wüstensand. Als sie näher kamen, erkannte Grimwardt, dass die sandfarbenen Überreste der Sarrukh-Stadt intakter waren als es aus der Ferne den Anschein hatte: Die Gerippe von Turmspitzen und Dachgiebeln, die aus dem Sand stachen, ließen vermuten, dass große Teile Oremes unter dem Sand erhalten geblieben waren. Nachdem sie die Kamele am Rande des Trümmerfelds zurückgelassen hatten, machten sich die Gefährten daran, die Ruinen zu erkunden.
„Irgendwo muss es einen Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt geben“, sagte Faust.
„Na großartig“, murmelte Winter. „Und wie sollen wir den ohne Magie finden?“
„So wie wir es früher auch getan haben“, brummte Grimwardt. „Wir suchen!“
Alif hob den Kopf und kniff die Augen zusammen.
„Was ist?“, knurrte Faust, der dem Wüstenführer nicht über den Weg traute. Der Kämpfer hatte seit ihrer Abreise aus Biradoon ein wachsames Auge auf den Beduinen gehabt.
„Ist nicht richtig“, murmelte Alif. „Dort hinten war Düne. Muss eine… Vorsicht!“
Zu spät gewahrte Grimwardt den Schatten der Wanderdüne, die sich mit der Arglist eines lauernden Assassinen hinter der Gruppe aufgetürmt hatte. Dann senkte sich Dunkelheit auf ihn herab und Sandkörner, die ihm in alle Poren drangen, raubten ihm die Luft zum Atmen. Vergeblich versuchte Grimwardt sich mit den Händen an die Oberfläche zu graben, während er spürte, wie der Druck der Sandmassen zunahm, die ihn unter sich zu begraben drohten. Seine Sinne begannen zu schwinden, doch ehe er das Bewusstsein verlor, packten ihn von oben kräftige Hände, um ihn an die Oberfläche zu zerren. Faust schlug ihm auf den Rücken und Grimwardt würgte spuckend und fluchend den Sand aus seinen Lungen. Seine Schwester, die schwer atmend neben ihm kniete, schien das gleiche Schicksal ereilt zu haben.
„Verfluchte Wüste“, keuchte der Kriegspriester mit knirschendem Sand zwischen den Zähnen.
„Das ist nicht Wüste“, murmelte Alif, dem die Sache mulmig zu werden schien. „Das ist Hexenwerk. Ist verflucht, diese Ort.“
Die Gefährten setzten ihre Suche nach einem Weg in den unterirdischen Teil der Stadt fort, doch in den ersten beiden Ruinen, die sie erkundeten, fanden sie nichts als Sand und Staub. Grimwardt hatte zudem das dumpfe Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Schatten am Rande seines Blickfelds, eilig verwischte Spuren im Sand – sie schienen nicht alleine zu sein. Als sie auf ein weiteres Turmskelett zusteuerten, stieß Alif plötzlich einen Warnschrei aus. Gerade noch rechtzeitig bemerkte Grimwardt, dass der Sand unter ihnen eine ungewöhnlich dunkle Färbung hatte.
Treibsand.
Der Priester bekam mit einer Hand Miu zu fassen, die beinahe in die tückische Falle getappt wäre. Boltor tänzelte geschickt zur Seite und Alif war abrupt stehen geblieben. Für Winter und Faust jedoch, die in der Mitte des feuchten Bereichs standen, kam die Warnung zu spät. Fausts massige Gestalt versank innerhalb eines Augenblicks in dem schlickigen Sandbad. Winter griff eilig nach Grimwardts freie Hand, doch der Sog, der sie in die Tiefe zog, war zu groß. Der Priester sah noch, wie seine Schwester eilig nach Luft schnappte, ehe der Wüstenschund sie mit einem schwerfälligen Glucksen verschlang.
Der Kleriker fackelte nicht lange und band sich ein Seil um die Hüfte, dessen Ende er Boltor zuwarf.
„Hol’ uns hoch, wenn ich daran ziehe“, befahl er schroff, holte tief Luft und sprang seiner Schwester nach. Blind ließ er sich von den zähflüssigen Massen in die Tiefe saugen in der Hoffnung aufgrund seiner Masse schneller zu sinken als Winter. Grimwardt hatte Glück: Schon nach wenigen Metern spürte er, wie er auf Widerstand stieß, umschlang Winters Hüfte und ließ sich von seinen Gefährten in die Höhe ziehen. Schwer atmend tauchten die Geschwister kurz darauf aus dem Sandschlund auf.
„Was ist mit Faust?“, keuchte Winter, kaum dass die anderen sie an Land gezogen hatten. Doch Grimwardt hatte bereits Anlauf genommen, um ein zweites Mal in den Sandsee zu tauchen. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, ehe er am Grund des Schlundes angelangt war und den Kämpfer zu fassen bekam. Keuchend wuchtete er den bewusstlosen Gefährten kurz darauf an Land. Fausts Pulsschlag war schwach, als Grimwardt sich über ihn beugte, doch der Krieger war zäh. Ein heilendes Gebet brachte ihn schnell wieder auf die Beine.
„Hehe“, machte Boltor mit dem seligen Grinsen eines Besoffenen und nahm noch einen Schluck aus seinem Humpen.
„Was?“, knurrte Faust, während er mit mäßigem Erfolg versuchte, sein Haar vom Sandschlick zu befreien.
„Ich sehe Hände im Sand.“
„Häh?“
Alif Ben Kanan wurde kreidebleich und stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus. Für die Dauer eines Augenblicks meinte Grimwardt zu sehen, wie sich lange, rostrote Finger um die Füße des Wüstenführers legten. Dann ein Ruck und Alif versank mit solcher Abruptheit im Sand als bestünde der Untergrund aus Wasser. Ungläubig starrten die Gefährten auf die Stelle, die seinen Schrei verschluckt hatte.
„Oh“, machte Boltor ernüchtert.
„Asherati“, murmelte Winter mit einem Schaudern. „Das müssen die Sanddiebe gewesen sein, von denen Alif sprach. Wir sollten aufpassen, wo wir hintreten.“
Um sich vor einem weiteren Hinterhalt zu schützen, breiteten die Gefährten eine der Zeltplanen unter ihren Füßen aus. Die Sicherheitsmaßnahme erschwerte das Vorankommen, sodass es bereits Nachmittag war, als sie endlich den Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt entdeckten. Eine Bodenluke führte eine steinerne Treppe hinunter in ein Labyrinth aus Korridoren und Hallen. Auch hier gab es Spuren im Sand und einmal meinte Grimwardt ein Kichern und das Aufblitzen pupillenloser gelber Augen zu gewahren. Doch sie drangen unbehelligt immer tiefer in das Labyrinth vor, bis sie schließlich eine Halle betraten, die im Gegensatz zum Rest der Stadt noch Spuren einer humanoiden Zivilisation aufwies. Wandmalereien beschrieben Szenen aus dem Alltagsleben einer Kultur von Reptilienmenschen und ein Thron aus grünem Smaragd, der in der Form einer geöffneten Klaue gearbeitet war, erhob sich in der Mitte des Raums.
„Ah, die Fremden sind angekommen“, ertönte eine keckernde Stimme.
Die Gefährten fuhren herum.
Faust
Hätte Faust die Kreatur beschreiben müssen, die ihnen aus dem Halbdunkel hinter dem Klauenthron entgegen gehumpelt kam, wäre ihm wohl als erstes der Vergleich zu einem knorrigen, windgepeitschten Steppengewächs in den Sinn gekommen, das allein durch Sturheit der Austrocknung trotzte. Der Leichnam des Sarrukh war etwa so groß wie der Zwerg und nicht einmal halb so breit – selbst wenn man den Buckel mitrechnete, der die knochige Gestalt niederzudrücken schien. Seine staubtrockenen Kieferknochen klapperten beim Sprechen und sein Unterkiefer war ein wenig versetzt zum Oberkiefer, was dem grinsenden Eidechsenschädel mit den starren, lidlosen Augen den irren Ausdruck eines Schwachsinnigen verlieh.
„Seid Ihr derjenige, der die Sanddiebe befehligt?“, knurrte Faust. „Was habt Ihr mit unserem Begleiter angestellt?“
„Ich befehlige die Wüste, mein junger, organischer Freund“, berichtigte ihn Schiefkiefer. „Und ihr mögt mich bei meinem Titel nennen. Ich bin König Oreme, Herr der Anauroch“, fügte er hoheitsvoll hinzu, während er mit einigem Ächzen und Klappern den Klauenthron erklomm, der wirkte, als könne er das dürre Gerippe jederzeit in seiner Handfläche zermalmen. Dann schüttelte er sich den Sandstaub von mindestens einem Jahrzehnt aus den königlichen Lumpen, was Grimwardt ein beherztes Niesen bescherte. „Ich sah euch kommen, doch ihr seid nicht hier, um die Gräber der Sechzig zu plündern. Der D’Tairig dagegen war ein wenig zu versessen auf die Schätze der Anauroch, doch die Asherati werden seiner Habgier einen Dämpfer verpasst haben.“
„Ihr saht uns kommen?“ Faust hob eine Augenbraue. „Wollt Ihr behaupten, dass Ihr die Zukunft sehen könnt…, Majestät?“, fügte er mit mildem Spott hinzu.
„Die Zukunft?“, eierte der Sarrukh. „Ich sehe Zukünfte, mein Junge. Doch es ist nicht schwierig, sie gegeneinander abzuwägen – geradezu anödend, will ich meinen. Der Geschichte gehen auf Dauer die Ideen aus. Ihr allerdings…“ Er sezierte die Gruppe mit seinen stierenden Augen und legte in einer ruckartigen, salamanderartigen Bewegung den Kopf in die Neige. „Ihr beabsichtigt den Schattenlord von Umbra herauszufordern und doch ist euer Tod nicht völlig eindeutig. Das ist… unüblich.“
„Ich nehme an, das ist eine gute Nachricht“, kommentierte Faust nüchtern die historiographischen Betrachtungen des Leichnams. „Vielleicht wollt Ihr die Sache ja noch ein wenig spannender machen, indem Ihr uns bei unserer Mission unterstützt?“
„Will ich das?“, sinnierte Schiefkiefer, doch Faust erkannte, dass er die Neugier des Alten geweckt hatte. Er berichtete von ihrer Suche nach dem Quess Ar Teranthvar und den Nachforschungen in der Kerzenburg, die sie hierher nach Oreme geführt hatten.
„Pah, die Nesserrollen“, schnaubte der Sarrukh hochmütig und wusch mit einer abfälligen Geste das mächtigste Artefakt der Weltgeschichte hinfort. „Nichts als die Kopie noch mächtigerer Magie. Die Rollen sind nichts weiter als ein kleines historisches Experiment meinerseits. Ich war es, der die Schriftrollen diesem kleinen Fischervolk unterjubelte, weil ich sehen wollte, wie sich die Magie auf den Verlauf ihrer Geschichte auswirkt. Äußerst enttäuschend – ihr Untergang stand schon nach wenigen Jahrzehnten fest.“
„Wisst Ihr, wie man ihn zerstören kann?“, fragte Winter. „Den Elfenbaum?“
„Natürlich weiß ich das“, erwiderte Oreme spitzfindig. „Aber es wäre doch langweilig, wenn ich euch das sagen würde.“
„Vielleicht ist dir ja nicht mehr so langweilig, wenn ich dir eine kostenlose Kieferbehandlung mit meinem Schlaghumpen verpasse“, knurrte der Zwerg angriffslustig.
Der Sarrukh schien diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
„Möglich“, sinnierte er, während er sich nachdenklich am Kinn zupfte. „Aber nicht sehr wahrscheinlich, mein kleiner trinkfester Freund.“ Dann verwarf er das Angebot und klatschte eilfertig in die Hände. „Auf, auf, strengt nur ein wenig eure blutreichen, unfossilen Hirne an. Die Antwort auf die Zerstörung eines Artefakts liegt in seiner Schöpfung.“
„Die Nesserrollen wurden verfasst, nachdem ein Sarrukh aus einem Kelch getrunken hatte, der ihm göttliche Einsicht verlieh“, erinnerte sich Winter. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht… müssen wir das Ritual ja umkehren.“
„Wie? Rückwärts trinken?“, knurrte Boltor, der wenig von Oremes Ratespiel zu halten schien. „Du meinst, wir reihern ’ne Runde gegen den Baum und der löst sich in Luft auf?“
„Ihr denkt zu weit, meine Freunde“, klapperte Schiefkiefer, dem das Rätselraten diebischen Spaß zu bereiten schien.
„Auf jeden Fall hat es etwas mit dem Kelch zu tun.“ Faust tat ihm den Gefallen und ging auf sein Spielchen ein.
„Warm!“
„Vielleicht müssen wir ebenfalls daraus trinken.“
„Kalt.“
„Den Inhalt verschütten?“
„Warm!“
„Über den Baum?“
„M-m-m…“
„Seine Wurzeln?“
Der Sarrukh klatschte freudig in die Hände und zog keckernd den Kopf ein, was ihm den Anschein einer schrulligen alten Schildkröte verlieh.
„Und ihr könnt uns doch gewiss sagen, wo wir diesen Kelch finden“, schmeichelte Winter.
„Das kann ich“, bestätigte der Sarrukh.
Erwartungsvolle Stille.
„Aber will ich das?“, fuhr er an sich selbst gewandt fort. „Welches Interesse sollte ich an der Zerstörung der Nesserrollen haben? Dieser Baum ist vielleicht das letzte, was von meiner Kultur übrig geblieben ist. Nur die Kopie einer Kopie, gewiss. Aber dennoch ein Stück Erinnerung. Nein“, entschied er schließlich. „Nein, ich glaube, dazu habe ich keine Lust.“
Boltor schnaubte. „Soll ich dir verraten, wozu meine linke Faust Lust hätte?“
„Langweilig“, urteilte König Oreme und der Zwerg musste frustriert feststellen, dass das exzentrische Urwesen gänzlich immun gegen seine Provokationen zu sein schien. „Das erkenne ich auch ohne hellseherische Fähigkeiten.“
„Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie wir…äh… zu Eurer Unterhaltung beitragen können“, testete Faust eine neue Strategie.
Und sie schien aufzugehen. Der Sarrukh klatschte in die Hände und bedachte Faust mit einem wohlwollenden Blick.
„Das“, lobte er, „ist ein ausbauungsfähiger Ansatz. Ich hätte da eine Idee.“ Ein glucksendes Lachen entrang sich seiner staubigen Kehle und er rieb sich in kindischer Vorfreude die Hände. „Ein Duell!“
„Ihr… wollt gegen mich kämpfen?“ Faust sah sich im Geiste bereits im Zweikampf mit einer buckelnden alten Eidechse und es war kein Bild, das er gerne in dem magischen Buch aus der Anderswelt verewigt sehen wollte, in dem eine unsichtbare Hand seine Taten niederschrieb.
„Nicht ich!“, klapperte der Sarrukh. „Nein, was ich meine ist ein epischer Zweikampf zwischen einem von euch und einem der Helden Faerûns. Der Ausgang nur schwer vorherzusehen. Wie der Kampf Fflar Melruths gegen den Dämonenfürst. Ah ja, das war Unterhaltung!“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
Schiefkiefer lachte keckernd.
„Drizzt Do’Urden.“
Fausts Herz machte einen Sprung und sein Grinsen wurde immer breiter, bis er selbst dem Sarrukh hätte Konkurrenz machen können.
Ja, ja, ja, ja!
Das war keine Bedingung, das war ein Traum! Einer seiner Kindheitsträume würde in Erfüllung gehen! Er würde gegen Drizzt Do’Urden, den Bezwinger des Balor Errtu, den Herausforderer der Drow-Göttin Lolth antreten!
„Sagt mir, wo ich ihn finde!“, bat er atemlos.
Der Sarrukh stieß eine Folge zischender, vokalloser Worte aus. Eine eigenartige Art von Macht schien dem wirren Kauderwelsch innezuwohnen, doch es waren nicht die Worte der bekannten Magie. Die Formel öffnete ein Tor, das sich wie ein Schlund hinter dem Thron des Sarrukh materialisierte. Das war keine Beschwörung oder Illusion. Es schien vielmehr, als habe der Leichnam mit seinen Worten die Realität selbst verändert.
„Wie ich sagte“, erklärte er (und diesmal hätte er wohl auch gegrinst, wenn es ihm nicht anatomisch unmöglich gewesen wäre, es nicht zu tun): „Die Nesserrollen sind nichts weiter als eine Kopie noch mächtigerer Magie.“
Winter
Vier Tage später, Oase Biradoon, Nordwesten von Anauroch.
„Das ist Wucher“, empörte sich Winter.
„250 Gold pro Kopf und Tag“, beharrte der Karawanenführer. „Ist letztes Angebot. Alif Ben Kanaan ist bester Wüstenführer in Anauroch. Weiß, wie man Zhentarim-Zölle umgehen kann. Kennt alle Oasen auf Weg nach Oreme. Ist gefährlich in Oreme. Wüste hat eigenen Willen dort. Und viele Geenies und Asherati.“
„Ashe… was?“
„Sanddiebe. Sehr gefährlich. Verstecken sich nachts im Sand, um Karawanen zu überfallen. Braucht ihr guten Führer, wenn ihr nach Oreme wollt.“
„1000 Gold pauschal.“ Winter verschränkte stur die Arme vor der Brust. Sie traute dem kleinen Beduinen mit dem geschäftstüchtigen Grinsen nicht. Mochten die Götter wissen, auf welche Umwege er sie führte, nur um noch den ein oder anderen Tagessatz für sich herauszuschlagen. „Die Hälfte als Anzahlung.“
Alif Ben Kanaan rümpfte pikiert die Nase und wandte sich ab, um seinem Kamel den Hals zu kraulen und Winter zu verstehen zu geben, welche Beleidigung ihr Angebot für ihn war. Sie schnaubte, als sie den blasierten Blick des gelangweilt vor sich hin schmatzenden Tiers auffing, und stapfte davon. Grimwardt folgte seiner Schwester, die auf einen der Tee-Pavillons zusteuerte, die die kleine Handelsenklave am Rande der Biradoon-Oase säumten. Vor dem Zelt speiste eine Gruppe von D‘Tairig, die ein seltsames schwarzes Gebräu aus kleinen Bechern schlürfte. Unter den Männern befand sich ein weiterer Kamelführer. Doch der alte Beduine, dessen Gesicht so schrumpelig war wie die schwarzen Früchte in seiner Essschale, sah nicht einmal auf, als Winter ihn ansprach. Sie wollte ihm gerade mit einer bissigen Bemerkung zu verstehen geben, was sie von seinem Kundenumgang hielt, als Grimwardt ihr mit einer mäßigenden Geste die Hand auf die Schulter legte.
„Hättet Ihr wohl Interesse an einem Auftrag, wenn ich ihn Euch unterbreiten würde?“, wandte er sich an den Nomaden.
Mit einer Mischung aus stiller Würde und Ehrerbietigkeit erhob sich der Alte und verneigte sich vor dem Tempuspriester. Winter seufzte. Großartig. Offenbar ging es gegen die Ehre des Alten mit einer Frau zu verhandeln. Nein, hier würde sie nicht viel ausrichten können. Also zurück zu Alif und den anderen. Die Verhandlung mit dem jüngeren Karawanenführer hatte inzwischen eine bizarre Wendung genommen: Statt auf den geschäftstüchtigen Beduinen traf Winter auf einen fluchenden Schluckspecht, der sich mit der Verbissenheit eines Wahnsinnigen darum bemühte, Boltors nimmerleeren Humpen zu bezwingen.
„Das ist Betrug!“, schimpfte er lallend. „Dumme Humpen ist niemals leer! Ist magische Humpen!“
„In einer magietoten Zone? Wie das?“ , konterte Faust, der das Schauspiel mit verschränkten Armen und einem siegessicheren Schmunzeln beobachtete. „Gib’s zu: Du hast es einfach nicht drauf.“
„Sieht so aus, als ob wir die Wette gewonnen hätten.“ Boltor schnalzte mit der Zunge. „1000 Gold für Hin- und Rückweg, Kamele inklusive.“
Winter schmunzelte und warf einen hastigen Blick über die Schulter: Gut. Grimwardt war noch ins Gespräch mit dem Alten vertieft. Besser, sie ließen diese kleine List ihm gegenüber unerwähnt. Ihr Bruder konnte furchtbar kleinlich sein, wenn es um unorthodoxe Handlungsstrategien ging.
Nachdem der Handel geschlossen war, zog es die Männer in das Teehaus am Rand der Nomadensiedlung, während Winter Miu dabei half, ein wenig abseits der Beduinenzelte ihr Lager aufzuschlagen. Sie hatten gerade den letzten Zeltnagel im Boden versenkt, als Faust mit einer verschleierten Beduinin im Schlepptau zurückkehrte. Miu zuckte mit keiner Wimper, doch der bloße Anblick der keuchen jungen Karaturianerin schien den Kämpfer in die Defensive zu zwingen.
„Sie soll nur für mich tanzen!“, verteidigte er sich mit dem treuherzigen Blick eines Straßenjungen, der gerade, als er herzhaft in einen ehrlich verdienten Apfel beißen will, innehält, weil der Obstladenbesitzer ihn mit misstrauischer Miene beäugt. „Ehrlich! Es heißt, die muss man gesehen haben… die Bauchtänze der D’Tairig.“
Miu bedachte seine Beteuerungen mit einem ihrer duldsam-stoischen Blicke, doch Winter entging nicht das leise Schmunzeln, das sie hinter vorgehaltener Hand verbarg, als Faust mit seiner Begleiterin im Zelt verschwunden war. Auch Winter musste lachen. Doch es war ein verhaltenes Lachen und als ihr das auffiel, überkam sie eine merkwürdig schwermütige Stimmung. Seufzend ließ sie sich vor dem Zelt nieder, grub die Zehen in den Sand und ließ ihren Blick über die Dünen gleiten. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie gedankenverloren mir einem kleinen magischen Kompass spielte, den Grax, der Halbork-Barde aus Heinos Zirkustruppe, ihr zum Geschenk gemacht hatte.
Vor ihrer Abreise aus Myth Drannor hatte sie den Zirkusartisten darum gebeten, eine Ballade zu verfassen. Eine Ballade zu Ehren Doriens. Grimwardt hatte verächtlich geschnaubt und etwas von „Lug und Trug“ gemurmelt, als sie ihm die erste Strophe vorgetragen hatte. Zugegeben, es gehörte ein wenig Fantasie dazu, Dorien in Grax‘ „Ritter voll Tugend und Glanz“ wiederzuerkennen. Und auch die Schilderung seines „o furchtlosen Ringens mit dem rasenden Rachegott“ trug nicht unbedingt zur Authentizität der Ballade bei. Doch strahlende Ritter und furchtlose Ringkämpfe waren der Stoff, aus dem Heldenepen gemacht waren, und Winter war entschlossen, Dorien unsterblich zu machen.
Scarlet und ihre Großeltern hatte sie mit Razeemas Hilfe nach Silbrigmond gebracht. Die Halbdrow war später nach Myth Drannor zurückgekehrt, um den Elfen bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen. Kalith war ebenfalls zurückgeblieben, um seiner Heimat im Kampf gegen die Allianz beizustehen. Der Rest der Gruppe hatte sich auf den Weg zur Kerzenburg gemacht, um Erkundigungen zu den Gründerrassen und dem Schöpfungsritual der Nesserrollen einzuholen.
Drei Tage lang hatten sie die Bibliothek durchforstet. Die historischen Schriften eines Autors, der sich selbst der „Weltenseher“ nannte, hatten sie schließlich auf die Spur der Sarrukh gebracht. Das Echsenvolk, eine der Gründerrassen, war vor vielen tausenden Jahren in einer Stadt namens Oreme im heutigen Gebiet der Anauroch beheimatet gewesen. Einem Auserwählten unter den Sarrukh hatten die Götter einen Schluck aus dem Kelch des Amaunator gewährt, der ihn mit göttlicher Einsicht in die Mysterien der Magie erfüllte. Dieses Wissen schrieb der Auserwählte nieder, und so entstand die erste Version der Nesserrollen. Als das Reich der Sarrukh zerfiel, verschanzten sich die sechzig mächtigsten Zauberwirker der Stadt mit den Schriftrollen in den Katakomben von Oreme, um ihre Körper in Leichname zu verwandeln und so der Vernichtung zu entgehen. Noch heute, so schrieb der Weltenseher, ruhten sie dort unter den Ruinen von Oreme. Einer der sechzig jedoch war für 10 000 Jahren zum Wächter der Grabstätte ernannt worden. Es musste jener Wächter gewesen sein, der die Schriftrollen unter den Menschen von Nesserril verbreitet hatte. Und er war es auch, den die Gefährten hier in der Anauroch zu finden hofften. Denn wenn es jemanden gab, der um das Geheimnis ihrer Zerstörung wusste, dann war er es.
Grimwardt
In der Wüste, fünf Tage später.
„Sicher, dass ich den Betttopf heute stecken lassen kann?“, fragte Faust mit einem breiten Grinsen.
„Ist die komische grüne Färbung um die Nase bei euch Menschen normal?“, stimmte Boltor in den Spottgesang mit ein.
„Sollen wir vielleicht ein wenig langsamer reiten?“ Selbst Winter ließ es sich nicht nehmen, den großen Bruder auf die Schippe zu nehmen.
Grimwardt schnaubte griesgrämig in seinen Bart hinein. Seit ihm die Hitze und das ständige Ruckeln und Wanken am ersten Tag der Reise ein wenig auf den Magen geschlagen waren, wollten die Sticheleien und Seitenhiebe einfach nicht abreißen. Noch so ein geistreicher Kommentar und irgendwem würde das Lachen gehörig vergehen! Die eintönige Umgebung und die kärgliche Versorgung trugen auch nicht gerade dazu bei, Grimwardts grantige Laune zu heben. Was würde er jetzt nicht für ein gutes, deftiges Heldenmahl geben. Außerdem hatte er seit fünf Tagen nichts weiter gesehen als endlose Dünen und das knochige Hinterteil des Leitkamels.
„Dort hinten ist es.“ Die Worte des beduinischen Wüstenführers ließen Grimwardt aufblicken. „Das ist Oreme.“
Sie hatten eine mächtige Düne erklommen. In einiger Entfernung erspähte der Kriegspriester ein gigantisches Ruinenfeld, das in einer Talsenke am Rande eines ausgetrockneten Flussbetts gelegen war. Von der Zeit zersetzte Torbögen und Gebäudetrümmer malten dunkle, grotesk vergrößerte Schatten in den Wüstensand. Als sie näher kamen, erkannte Grimwardt, dass die sandfarbenen Überreste der Sarrukh-Stadt intakter waren als es aus der Ferne den Anschein hatte: Die Gerippe von Turmspitzen und Dachgiebeln, die aus dem Sand stachen, ließen vermuten, dass große Teile Oremes unter dem Sand erhalten geblieben waren. Nachdem sie die Kamele am Rande des Trümmerfelds zurückgelassen hatten, machten sich die Gefährten daran, die Ruinen zu erkunden.
„Irgendwo muss es einen Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt geben“, sagte Faust.
„Na großartig“, murmelte Winter. „Und wie sollen wir den ohne Magie finden?“
„So wie wir es früher auch getan haben“, brummte Grimwardt. „Wir suchen!“
Alif hob den Kopf und kniff die Augen zusammen.
„Was ist?“, knurrte Faust, der dem Wüstenführer nicht über den Weg traute. Der Kämpfer hatte seit ihrer Abreise aus Biradoon ein wachsames Auge auf den Beduinen gehabt.
„Ist nicht richtig“, murmelte Alif. „Dort hinten war Düne. Muss eine… Vorsicht!“
Zu spät gewahrte Grimwardt den Schatten der Wanderdüne, die sich mit der Arglist eines lauernden Assassinen hinter der Gruppe aufgetürmt hatte. Dann senkte sich Dunkelheit auf ihn herab und Sandkörner, die ihm in alle Poren drangen, raubten ihm die Luft zum Atmen. Vergeblich versuchte Grimwardt sich mit den Händen an die Oberfläche zu graben, während er spürte, wie der Druck der Sandmassen zunahm, die ihn unter sich zu begraben drohten. Seine Sinne begannen zu schwinden, doch ehe er das Bewusstsein verlor, packten ihn von oben kräftige Hände, um ihn an die Oberfläche zu zerren. Faust schlug ihm auf den Rücken und Grimwardt würgte spuckend und fluchend den Sand aus seinen Lungen. Seine Schwester, die schwer atmend neben ihm kniete, schien das gleiche Schicksal ereilt zu haben.
„Verfluchte Wüste“, keuchte der Kriegspriester mit knirschendem Sand zwischen den Zähnen.
„Das ist nicht Wüste“, murmelte Alif, dem die Sache mulmig zu werden schien. „Das ist Hexenwerk. Ist verflucht, diese Ort.“
Die Gefährten setzten ihre Suche nach einem Weg in den unterirdischen Teil der Stadt fort, doch in den ersten beiden Ruinen, die sie erkundeten, fanden sie nichts als Sand und Staub. Grimwardt hatte zudem das dumpfe Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Schatten am Rande seines Blickfelds, eilig verwischte Spuren im Sand – sie schienen nicht alleine zu sein. Als sie auf ein weiteres Turmskelett zusteuerten, stieß Alif plötzlich einen Warnschrei aus. Gerade noch rechtzeitig bemerkte Grimwardt, dass der Sand unter ihnen eine ungewöhnlich dunkle Färbung hatte.
Treibsand.
Der Priester bekam mit einer Hand Miu zu fassen, die beinahe in die tückische Falle getappt wäre. Boltor tänzelte geschickt zur Seite und Alif war abrupt stehen geblieben. Für Winter und Faust jedoch, die in der Mitte des feuchten Bereichs standen, kam die Warnung zu spät. Fausts massige Gestalt versank innerhalb eines Augenblicks in dem schlickigen Sandbad. Winter griff eilig nach Grimwardts freie Hand, doch der Sog, der sie in die Tiefe zog, war zu groß. Der Priester sah noch, wie seine Schwester eilig nach Luft schnappte, ehe der Wüstenschund sie mit einem schwerfälligen Glucksen verschlang.
Der Kleriker fackelte nicht lange und band sich ein Seil um die Hüfte, dessen Ende er Boltor zuwarf.
„Hol’ uns hoch, wenn ich daran ziehe“, befahl er schroff, holte tief Luft und sprang seiner Schwester nach. Blind ließ er sich von den zähflüssigen Massen in die Tiefe saugen in der Hoffnung aufgrund seiner Masse schneller zu sinken als Winter. Grimwardt hatte Glück: Schon nach wenigen Metern spürte er, wie er auf Widerstand stieß, umschlang Winters Hüfte und ließ sich von seinen Gefährten in die Höhe ziehen. Schwer atmend tauchten die Geschwister kurz darauf aus dem Sandschlund auf.
„Was ist mit Faust?“, keuchte Winter, kaum dass die anderen sie an Land gezogen hatten. Doch Grimwardt hatte bereits Anlauf genommen, um ein zweites Mal in den Sandsee zu tauchen. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, ehe er am Grund des Schlundes angelangt war und den Kämpfer zu fassen bekam. Keuchend wuchtete er den bewusstlosen Gefährten kurz darauf an Land. Fausts Pulsschlag war schwach, als Grimwardt sich über ihn beugte, doch der Krieger war zäh. Ein heilendes Gebet brachte ihn schnell wieder auf die Beine.
„Hehe“, machte Boltor mit dem seligen Grinsen eines Besoffenen und nahm noch einen Schluck aus seinem Humpen.
„Was?“, knurrte Faust, während er mit mäßigem Erfolg versuchte, sein Haar vom Sandschlick zu befreien.
„Ich sehe Hände im Sand.“
„Häh?“
Alif Ben Kanan wurde kreidebleich und stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus. Für die Dauer eines Augenblicks meinte Grimwardt zu sehen, wie sich lange, rostrote Finger um die Füße des Wüstenführers legten. Dann ein Ruck und Alif versank mit solcher Abruptheit im Sand als bestünde der Untergrund aus Wasser. Ungläubig starrten die Gefährten auf die Stelle, die seinen Schrei verschluckt hatte.
„Oh“, machte Boltor ernüchtert.
„Asherati“, murmelte Winter mit einem Schaudern. „Das müssen die Sanddiebe gewesen sein, von denen Alif sprach. Wir sollten aufpassen, wo wir hintreten.“
Um sich vor einem weiteren Hinterhalt zu schützen, breiteten die Gefährten eine der Zeltplanen unter ihren Füßen aus. Die Sicherheitsmaßnahme erschwerte das Vorankommen, sodass es bereits Nachmittag war, als sie endlich den Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt entdeckten. Eine Bodenluke führte eine steinerne Treppe hinunter in ein Labyrinth aus Korridoren und Hallen. Auch hier gab es Spuren im Sand und einmal meinte Grimwardt ein Kichern und das Aufblitzen pupillenloser gelber Augen zu gewahren. Doch sie drangen unbehelligt immer tiefer in das Labyrinth vor, bis sie schließlich eine Halle betraten, die im Gegensatz zum Rest der Stadt noch Spuren einer humanoiden Zivilisation aufwies. Wandmalereien beschrieben Szenen aus dem Alltagsleben einer Kultur von Reptilienmenschen und ein Thron aus grünem Smaragd, der in der Form einer geöffneten Klaue gearbeitet war, erhob sich in der Mitte des Raums.
„Ah, die Fremden sind angekommen“, ertönte eine keckernde Stimme.
Die Gefährten fuhren herum.
Faust
Hätte Faust die Kreatur beschreiben müssen, die ihnen aus dem Halbdunkel hinter dem Klauenthron entgegen gehumpelt kam, wäre ihm wohl als erstes der Vergleich zu einem knorrigen, windgepeitschten Steppengewächs in den Sinn gekommen, das allein durch Sturheit der Austrocknung trotzte. Der Leichnam des Sarrukh war etwa so groß wie der Zwerg und nicht einmal halb so breit – selbst wenn man den Buckel mitrechnete, der die knochige Gestalt niederzudrücken schien. Seine staubtrockenen Kieferknochen klapperten beim Sprechen und sein Unterkiefer war ein wenig versetzt zum Oberkiefer, was dem grinsenden Eidechsenschädel mit den starren, lidlosen Augen den irren Ausdruck eines Schwachsinnigen verlieh.
„Seid Ihr derjenige, der die Sanddiebe befehligt?“, knurrte Faust. „Was habt Ihr mit unserem Begleiter angestellt?“
„Ich befehlige die Wüste, mein junger, organischer Freund“, berichtigte ihn Schiefkiefer. „Und ihr mögt mich bei meinem Titel nennen. Ich bin König Oreme, Herr der Anauroch“, fügte er hoheitsvoll hinzu, während er mit einigem Ächzen und Klappern den Klauenthron erklomm, der wirkte, als könne er das dürre Gerippe jederzeit in seiner Handfläche zermalmen. Dann schüttelte er sich den Sandstaub von mindestens einem Jahrzehnt aus den königlichen Lumpen, was Grimwardt ein beherztes Niesen bescherte. „Ich sah euch kommen, doch ihr seid nicht hier, um die Gräber der Sechzig zu plündern. Der D’Tairig dagegen war ein wenig zu versessen auf die Schätze der Anauroch, doch die Asherati werden seiner Habgier einen Dämpfer verpasst haben.“
„Ihr saht uns kommen?“ Faust hob eine Augenbraue. „Wollt Ihr behaupten, dass Ihr die Zukunft sehen könnt…, Majestät?“, fügte er mit mildem Spott hinzu.
„Die Zukunft?“, eierte der Sarrukh. „Ich sehe Zukünfte, mein Junge. Doch es ist nicht schwierig, sie gegeneinander abzuwägen – geradezu anödend, will ich meinen. Der Geschichte gehen auf Dauer die Ideen aus. Ihr allerdings…“ Er sezierte die Gruppe mit seinen stierenden Augen und legte in einer ruckartigen, salamanderartigen Bewegung den Kopf in die Neige. „Ihr beabsichtigt den Schattenlord von Umbra herauszufordern und doch ist euer Tod nicht völlig eindeutig. Das ist… unüblich.“
„Ich nehme an, das ist eine gute Nachricht“, kommentierte Faust nüchtern die historiographischen Betrachtungen des Leichnams. „Vielleicht wollt Ihr die Sache ja noch ein wenig spannender machen, indem Ihr uns bei unserer Mission unterstützt?“
„Will ich das?“, sinnierte Schiefkiefer, doch Faust erkannte, dass er die Neugier des Alten geweckt hatte. Er berichtete von ihrer Suche nach dem Quess Ar Teranthvar und den Nachforschungen in der Kerzenburg, die sie hierher nach Oreme geführt hatten.
„Pah, die Nesserrollen“, schnaubte der Sarrukh hochmütig und wusch mit einer abfälligen Geste das mächtigste Artefakt der Weltgeschichte hinfort. „Nichts als die Kopie noch mächtigerer Magie. Die Rollen sind nichts weiter als ein kleines historisches Experiment meinerseits. Ich war es, der die Schriftrollen diesem kleinen Fischervolk unterjubelte, weil ich sehen wollte, wie sich die Magie auf den Verlauf ihrer Geschichte auswirkt. Äußerst enttäuschend – ihr Untergang stand schon nach wenigen Jahrzehnten fest.“
„Wisst Ihr, wie man ihn zerstören kann?“, fragte Winter. „Den Elfenbaum?“
„Natürlich weiß ich das“, erwiderte Oreme spitzfindig. „Aber es wäre doch langweilig, wenn ich euch das sagen würde.“
„Vielleicht ist dir ja nicht mehr so langweilig, wenn ich dir eine kostenlose Kieferbehandlung mit meinem Schlaghumpen verpasse“, knurrte der Zwerg angriffslustig.
Der Sarrukh schien diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
„Möglich“, sinnierte er, während er sich nachdenklich am Kinn zupfte. „Aber nicht sehr wahrscheinlich, mein kleiner trinkfester Freund.“ Dann verwarf er das Angebot und klatschte eilfertig in die Hände. „Auf, auf, strengt nur ein wenig eure blutreichen, unfossilen Hirne an. Die Antwort auf die Zerstörung eines Artefakts liegt in seiner Schöpfung.“
„Die Nesserrollen wurden verfasst, nachdem ein Sarrukh aus einem Kelch getrunken hatte, der ihm göttliche Einsicht verlieh“, erinnerte sich Winter. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht… müssen wir das Ritual ja umkehren.“
„Wie? Rückwärts trinken?“, knurrte Boltor, der wenig von Oremes Ratespiel zu halten schien. „Du meinst, wir reihern ’ne Runde gegen den Baum und der löst sich in Luft auf?“
„Ihr denkt zu weit, meine Freunde“, klapperte Schiefkiefer, dem das Rätselraten diebischen Spaß zu bereiten schien.
„Auf jeden Fall hat es etwas mit dem Kelch zu tun.“ Faust tat ihm den Gefallen und ging auf sein Spielchen ein.
„Warm!“
„Vielleicht müssen wir ebenfalls daraus trinken.“
„Kalt.“
„Den Inhalt verschütten?“
„Warm!“
„Über den Baum?“
„M-m-m…“
„Seine Wurzeln?“
Der Sarrukh klatschte freudig in die Hände und zog keckernd den Kopf ein, was ihm den Anschein einer schrulligen alten Schildkröte verlieh.
„Und ihr könnt uns doch gewiss sagen, wo wir diesen Kelch finden“, schmeichelte Winter.
„Das kann ich“, bestätigte der Sarrukh.
Erwartungsvolle Stille.
„Aber will ich das?“, fuhr er an sich selbst gewandt fort. „Welches Interesse sollte ich an der Zerstörung der Nesserrollen haben? Dieser Baum ist vielleicht das letzte, was von meiner Kultur übrig geblieben ist. Nur die Kopie einer Kopie, gewiss. Aber dennoch ein Stück Erinnerung. Nein“, entschied er schließlich. „Nein, ich glaube, dazu habe ich keine Lust.“
Boltor schnaubte. „Soll ich dir verraten, wozu meine linke Faust Lust hätte?“
„Langweilig“, urteilte König Oreme und der Zwerg musste frustriert feststellen, dass das exzentrische Urwesen gänzlich immun gegen seine Provokationen zu sein schien. „Das erkenne ich auch ohne hellseherische Fähigkeiten.“
„Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie wir…äh… zu Eurer Unterhaltung beitragen können“, testete Faust eine neue Strategie.
Und sie schien aufzugehen. Der Sarrukh klatschte in die Hände und bedachte Faust mit einem wohlwollenden Blick.
„Das“, lobte er, „ist ein ausbauungsfähiger Ansatz. Ich hätte da eine Idee.“ Ein glucksendes Lachen entrang sich seiner staubigen Kehle und er rieb sich in kindischer Vorfreude die Hände. „Ein Duell!“
„Ihr… wollt gegen mich kämpfen?“ Faust sah sich im Geiste bereits im Zweikampf mit einer buckelnden alten Eidechse und es war kein Bild, das er gerne in dem magischen Buch aus der Anderswelt verewigt sehen wollte, in dem eine unsichtbare Hand seine Taten niederschrieb.
„Nicht ich!“, klapperte der Sarrukh. „Nein, was ich meine ist ein epischer Zweikampf zwischen einem von euch und einem der Helden Faerûns. Der Ausgang nur schwer vorherzusehen. Wie der Kampf Fflar Melruths gegen den Dämonenfürst. Ah ja, das war Unterhaltung!“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
Schiefkiefer lachte keckernd.
„Drizzt Do’Urden.“
Fausts Herz machte einen Sprung und sein Grinsen wurde immer breiter, bis er selbst dem Sarrukh hätte Konkurrenz machen können.
Ja, ja, ja, ja!
Das war keine Bedingung, das war ein Traum! Einer seiner Kindheitsträume würde in Erfüllung gehen! Er würde gegen Drizzt Do’Urden, den Bezwinger des Balor Errtu, den Herausforderer der Drow-Göttin Lolth antreten!
„Sagt mir, wo ich ihn finde!“, bat er atemlos.
Der Sarrukh stieß eine Folge zischender, vokalloser Worte aus. Eine eigenartige Art von Macht schien dem wirren Kauderwelsch innezuwohnen, doch es waren nicht die Worte der bekannten Magie. Die Formel öffnete ein Tor, das sich wie ein Schlund hinter dem Thron des Sarrukh materialisierte. Das war keine Beschwörung oder Illusion. Es schien vielmehr, als habe der Leichnam mit seinen Worten die Realität selbst verändert.
„Wie ich sagte“, erklärte er (und diesmal hätte er wohl auch gegrinst, wenn es ihm nicht anatomisch unmöglich gewesen wäre, es nicht zu tun): „Die Nesserrollen sind nichts weiter als eine Kopie noch mächtigerer Magie.“