Kapitel IV: Engelstränen
Winter
Eine Stunde später auf dem Ästetenplateau
Der Palast der Familie Shantilea war ein pompöses, achteckiges Glashaus mit zahlreichen Erkern und Türmen. Wie alle Gebäude der Stadt wirkte es kalt trotz des vielen Lichts - wie ein Spiegel der Seele seiner Bewohner. Von Lana hatten die Gefährten erfahren, dass die Shantileas eines der ältesten und einflussreichsten Häuser der Stadt waren. Die Familie brüstete sich damit, ihre Wurzeln bis zu dem Archon zurückverfolgen zu können, der der Legende nach das Volk der Avariel begründet hatte. Fürstin Mathalaya, die seit Jahrhunderten verbissen nach dem Thron des Coronals strebte, war die mächtigste Verfechterin des Kastensystems und eine erklärte Feindin der ungeflügelten Rebellen. Der Tränenball in ihrem Hause leitete traditionell ein dreitägiges Fest zum Gedenken an den Gründer Immerschwinges ein.
„Halt! Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, Fremde!“ Verwirrt hob Winter den Kopf. Die Worte waren in gebrochener Gemeinsprache mit starkem elfischem Akzent gesprochen worden. Der junge Avariel, der ihnen mit dieser wenig schmeichelhaften Begrüßung aufwartete, versperrte den Gefährten schwebend und mit gezücktem Schwert den Weg zum Eingangsportal des Palasts. Sein blanker Schädel glänzte elfenbeinern im Mondschein und in seinen Augenwinkeln glitzerten künstliche Tränen. Die prächtigen, schneeweißen Schwingen hatte er zu ihrer vollen Breite entfaltet und aus seinen goldenen Augen musterte er die Gefährten mit unverhohlener Abscheu. Wäre sein Gesicht nicht verzerrt gewesen von jener Maske aus Hass und Arroganz, so hätte Winter über seine Schönheit nur staunen können. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie und ihre Gefährten von fünf weiteren Avariel umzingelt waren. Sie alle hatten kahl rasierte Schädel und Tränen in den Augenwinkeln, wenn ihre Flügel auch nicht mit dem strahlenden Glanz des Anführers konkurrieren konnten. Dieser begann die Gefährten auf Elfisch zu beschimpfen, während die Ballgäste, die von allen Seiten herbei geströmt kamen, stehen blieben und mit verhaltener Neugier die Konfrontation verfolgten.
Nachdem er sich den Wortschwall des Goldäugigen eine zeitlang mit versteinerter Miene angehört hatte, rief Nimoroth ihm etwas in seiner Muttersprache zu. Es folgte ein hitziger Wortwechsel, der damit endete, dass Goldauge vor Nimoroth ausspuckte, sein Schwert in die Scheide steckte und davon flog. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich.
„Was war denn das?“, fragte Winter.
„Er hat uns zum Kampf herausgefordert“, erwiderte Nimoroth mit düsterer Miene.
„Und?“
„Ich habe zugesagt“, erklärte der Elf. „Morgen gegen Mittag in der Arena auf der Bürgerebene.“
„Das war ein Fehler“, bemerkte Fürst Elijas, der die Konfrontation mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Warum?“
„Das war Silead Shantilea, der Sohn der Fürstin“, erwiderte Elijas. „Der kahlrasierte Schädel soll daran erinnern, von wem er abstammt, doch ihm haftet wenig Engelsgleiches an. Er ist ein skrupelloser Bandenführer; selbst seine Mutter hat sich öffentlich von ihm distanziert. Er ist bekannt dafür, dass er politische Machtkämpfe in der Arena austrägt. Bei vier Mann gegen einen kann er nur gewinnen. Unter Avariel gilt nur ein Kampf Mann zu Mann als fairer Kampf.“
„Auch gut“, knurrte Grimwardt. „Treten wir eben einzeln gegen ihn an.“
Elijas zuckte gleichgültig mit den Schultern und überreichte den Palastwachen die Einladungen. Die Gefährten folgten ihm in ein Atrium, das fünf Galerien und eine riesige Tanzfläche umfasste. In der Mitte erhob sich ein gläserner Baum, der bis unter die kristallene Kuppel des Palasts reichte. Kaum hatten sie Platz genommen, erschien auf der obersten Galerie der Coronal an der Seite seiner jungen Gemahlin. Doch obgleich er aus Rücksicht auf die Besucher davon absah seine Eingangsrede auf Elfisch zu verlesen, schenkte Winter seinen Worten wenig Beachtung. Ihr Augenmerk war auf die Galerie unter ihm gerichtet, wo die Herrin des Hauses, Fürstin Mathalaya Shantilea, Platz genommen hatte: Ihre Flügel waren ebenso schneeweiß wie die ihres hitzköpfigen Sohnes, ihre Augen golden, ihr Haar silbrig-weiß und ihre Gesichtszüge so ebenmäßig wie aus Stein gemeißelt. Winter fiel zudem auf, dass die junge Gemahlin des Coronals dieselben celestischen Merkmale aufwies.
„Die Familienoberhäupter der Shantileas pflegen untereinander zu heiraten, um die celestische Blutlinie nicht zu verunreinigen“, erklärte Elijas, der ihrem Blick gefolgt war, mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. „Silead und seine Schwester Vanya, die Frau des Coronals, sind das Resultat dieser Tradition.“
Winter blinzelte.
„Seht… ihr das auch“, fragte sie irritiert. Die anderen folgten verständnislos ihrem Blick.
„Ich meine den Kerl, der gerade mit blankem Schwert auf den König zufliegt.“
Der Abend wurde immer skurriler.
Elijas runzelte die Stirn, dann sprang er alarmiert auf und stieß einen Warnruf aus.
Er ist unsichtbar, durchzuckte Winter in diesem Moment die Erkenntnis. Durch eine magische Manipulation ihrer Augen war sie in der Lage Unsichtbares zu sehen.
Doch es war zu spät. Der Unsichtbare hatte die oberste Galerie bereits erreicht und nun schienen ihn auch die anderen sehen zu können. Ehe irgendwer reagieren konnte, hatte der Eindringling die Gemahlin des Coronals gepackt und hielt sie wie ein Schild vor sich, während er ihr drohend sein Schwert unter die Kehle hielt. Dolche wurden gezückt und Fürstin Mathalya rief nach den Wachen, doch niemand wagte etwas zu unternehmen. Winter reagierte schnell. Flüsternd sprach sie die magischen Worte eines Versetzungstricks und tauschte Platz und Aussehen mit der Geisel des Eindringlings. Dieser schien nichts zu bemerken. Seine blitzenden dunklen Augen flackerten spöttisch und seine eindrucksvollen Schwingen vibrierten leicht, als er seine Blicke über die Ballgesellschaft gleiten ließ. Der Coronal stand mit hilflos geballten Fäusten an Winters Seite und zischte einige Worte auf Elfisch. Winter horchte auf, als sie den Namen Thanduin aus seinem Mund vernahm.
Thanduin, der Rebellenführer.
Was folgte war ein weiteres Beispiel elfischer Selbstinszenierung.
„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert“, rief Thanduin an die Ballgesellschaft gewandt, „welch ungewöhnliche Gäste heute Abend hier sind.“ Er nickte in die Richtung von Winters Freunden. „Freunde aus Myth Drannor, es tut mir aufrichtig leid, dass dies der erste Eindruck ist, den Ihr von der Stadt der Gläsernen Gesänge bekommen sollt. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch von all dem Lug und Trug nicht die Augen verschließen lasst. Die Einweihung des Portals nach Cormanthyr ist alles andere als eine Annäherung der Avariel an die guten Völker von Faerûn. Wusstet ihr, dass das geplante Portal nur in eine Richtung passierbar ist? Nun ratet mal in welche!“
Mit diesen Worten ließ der Rebellenführer von Winter ab und verschwand, wieder unsichtbar, in einem der Gänge, die von der Galerie abzweigten. Winter hörte, wie Fürstin Mathalaya mit klarer Stimme einen Befehl gab und sogleich wurde der Raum von Wachen gestürmt, die sich an die Fersen des Flüchtigen hefteten.
Nachdem Winter ihr Verwechslungsspiel aufgeklärt hatte und die Gäste sich von dem Schock erholt hatten, wurde das Essen serviert. Fürst Elijas, dem plötzlich sehr daran gelegen schien, sich den Fragen seiner Gäste zu entziehen, entschuldigte sich noch vor der Vorspeise und verließ den Tisch, um sich anderen Gesprächen zuzuwenden. Den Gefährten war das nur Recht. Es gab viel zu besprechen. In wenigen Worten setzten sie Kalith über ihren eigentlichen Auftrag und die Todesklaue in Kenntnis. Die einseitige Öffnung des Portals warf neue Fragen auf. Grimwardt befürchtete, dass von hier aus ein Angriff auf Myth Drannor seinen Ursprung nehmen könnte. Irgendwer erschaffte eine Armee aus Untoten und Myth Drannor schien ein plausibles Angriffsziel. Doch wer profitierte davon? Die Rebellen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Regierung zu erpressen? Die Isolationisten, die von Anfang an gegen die Portalöffnung gewesen waren? Oder gab es eine dritte Partei, die noch nicht in Erscheinung getreten war? In jedem Fall musste die Herrscherin von Myth Drannor von der möglichen Gefahr unterrichtet werden.
Der Abend verlief schleppend. Ein Gespräch mit dem Coronal brachte den Gefährten keine neuen Erkenntnisse bis auf die, dass der Herrscher von Immerschwinge ein Schwächling und Zauderer war, der viel reden konnte ohne ein Wort zu sagen. Dorien war auch keine große Hilfe, da er es vorzog, sich auf der Tanzfläche mit diversen Avariel-Damen zu vergnügen, anstatt seinen Freunden bei ihren Ermittlungen zur Hand zu gehen. Sogar Grimwardt hatte eine Eroberung an Land gezogen. Amüsiert beobachtete Winter die steifen Tanzversuche ihres Bruders und die skeptisch-unbehagliche Miene, die er im Gespräch mit seiner geflügelten Tanzpartnerin an den Tag legte.
Dann wurde sie von Kalith abgelenkt, der ihr eine interessante Beobachtung mitteilte: Während des Auftritts des Rebellenführers hatte einer der Diener Elijas Avalior eine Nachricht zugesteckt. Ein Beweis dafür, dass der verschlossene Fürst mit den Rebellen im Bunde war? Winter wollte es genau wissen und stibitzte kurzerhand besagte Nachricht. Dank eines magischen Tricks, der es ihr erlaubte ihre Diebeskünste auch auf die Distanz anzuwenden, gelang es ihr sogar, den Zettel wieder unbemerkt in den Falten von Elijas’ Toga verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne dass sie sich von Nimoroth den Inhalt hätte übersetzen lassen.
„Morgen Abend zur zehnten Stunde an der Alten Miene“, las Nimoroth vor. „Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen.“
„Ich schätze, Elijas ist nicht der einzige, der morgen um zehn eine Verabredung hat“, sagte Winter nicht ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit.
Der Abend hielt noch eine unangenehme Überraschung für Winter und ihre Freunde bereit, als sie bei der Rückkehr in Doriens Villa dieselbe von einer durchweg betrunkenen und größtenteils erotisierten Feiergesellschaft bevölkert vorfanden. Diverse Möbelstücke hatten unter den Auswirkungen der fatalen Mischung von Silberwein mit Aphrodisiakum zu leiden gehabt, sodass Doriens zehnköpfige Dienerschaft einem hätte leid tun können, hätte es sich bei dem Pulk eifriger Butler und Zofen nicht durchweg um magische Konstrukte gehandelt. Der Herr des Hauses, der Elijas’ Warnungen bezüglich der psychotischen Wirkung von Silberwein offenbar in den Wind geschlagen hatte, hatte sich mit zwei Avarieldamen in den Badethermen der Villa verschanzt.
Da der Hexenmeister an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen war, war es an Winter Nimoroth nach Myth Drannor zu begleiten, um Ilsevele Miritar von der möglichen Bedrohung des Elfenhofs und der geplanten einseitigen Öffnung des Portals zu unterrichten. Um den Mythal zu umgehen, wechselten sie zunächst von Doriens Villa aus die Ebene (was ihnen einen ungeplanten Aufenthalt im Mondsee bescherte) und teleportierten dann zur Stadt. Die Wachen am Tor verweigerten ihnen jedoch zu so später Stunde den Eintritt und zeigten sich recht unbeeindruckt von der Warnung - was nicht zuletzt an der wenig würdevollen Erscheinung ihrer pudelnassen Überbringer liegen mochte…
Nimoroth
Am nächsten Tag in der Arena
Ein traditioneller Klingensänger-Wettstreit bestand aus drei Runden. In der ersten Runde wurde allein mit Waffengewalt, in der zweiten nur mit Magie gekämpft. In der dritten Runde schließlich galt es, Kriegskunst und arkane Magie zu einem einheitlichen Kampfstil zu vereinen. Die Gefährten hatten sich mit dem Arenenmeister darauf geeinigt, dass sie einzeln gegen Silead antreten würden.
Grimwardt war als erster an der Reihe. Das Amphitheater, welches als Austragungsort diente, war bis auf die letzte Bank besetzt. Da der Kronrat Ausschreitungen zwischen Engelstränen und Sympathisanten der Rebellen befürchtete, waren auf den Tribünen Valendár-Wachen postiert. Weder Fürst Elijas noch die Mitglieder des Kronrats waren irgendwo zu sehen; offenbar wollte sich niemand der offiziell Neutralen am heutigen Tag auf diesem heißen politischen Pflaster sehen lassen. Wer hier war, der war entweder für oder gegen die Öffnung des Portals und die Forderungen der Rebellen. Dass die Gefährten als vermeintliche Gesandte Myth Drannors offiziell nichts mit den Rebellen verband, schien niemanden zu kümmern: Die Fremden traten gegen Silead Shantilea, den Anführer der Engelstränen, an und wandten sich damit gegen alles, was die Rebellen verabscheuten.
Trommelwirbel kündigte den Kampf an und die Gefährten wurden aus einer Versenkung im Boden in die Arena gezogen, während Silead mit ausgebreiteten Schwingen von der Decke herab schwebte. Nimoroth kam nicht umhin die verächtliche Symbolik in dieser Raumanordnung zu bemerken, beließ es aber bei einem stummen Kopfschütteln.
Der Kampf begann.
Wie ein Fels in der Brandung harrte Grimwardt, sein Turmschild erhoben und die Axt fest im Griff, der Angriffe seines Gegners, der im Sturzflug auf ihn hinab stürzte. Ein höhnisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Avariel breit, als sein erster magisch verstärkter Schwerthieb Grimwardt bereits ins Wanken brachte. Der Tempuspriester schien weniger Glück zu haben – Sileads magische Spiegelbilder bereiteten ihm ernsthafte Schwierigkeiten. Dennoch bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fleck. Der Hohn des Klingensängers, der Zauber um Zauber verprasste, um seine Angriffe zu verstärken, verwandelte sich schon bald in frustrierte Ungläubigkeit. Sein Gegner, den er nach dem ersten Angriff bereits abgeschrieben hatte, leistete erbitterten Widerstand. Dann ein letzter zorniger Angriff… und Grimwardt fiel.
„Schweinehund“, entfuhr es Winter. Sie half ihrem Bruder auf die Beine und stellte sich dem Klingensänger. Nimoroth hielt den Atem an. Es stand 1:0 für den Herausforderer. Winter durfte jetzt kein Fehler unterlaufen. Nimoroth fürchtete das launige Gemüt seiner Mitstreiterin. Umso größer war seine Verblüffung, als bereits Winters erster Zauber, ein Blitzgewitter sengender Strahlen, die sie in rasender Abfolge auf Silead abfeuerte, seine Niederlage besiegelte: Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Avariel gegen die Bande und raubte ihm das Bewusstsein. Offenbar hatte Grimwardt ganze Arbeit geleistet: Der Avariel musste all seine Schutzzauber im Kampf gegen den zähen Priester verprasst haben. Winter brauchte einen Augenblick, um ihren schnellen Sieg zu begreifen, bevor sie sich vom Applaus der Menge berauschen ließ.
Nun war Nimoroth an der Reihe. Da das magische Feld, welches die Arena umgab, verhinderte, dass Arenenkämpfe tatsächlich blutig endeten, dauerte es nicht lange, bis Silead wieder auf den Beinen war. Die Erkenntnis von einer Menschenfrau besiegt worden zu sein, trieb den selbstgefälligen jungen Avariel zur Weißglut. Aller Hohn war von ihm abgefallen und nichts als blanker Hass starrte Nimoroth aus goldenen Augen entgegen. Silead preschte vor, doch Nimoroth war schneller. Mit irrsinniger Wucht stürmte er gegen seinen Gegner an und rang ihn zu Boden. Der Kampf war zu Ende noch ehe er so recht begonnen hatte. Nimoroth verkniff sich ein Grinsen, als er dem am Boden liegenden Silead die Hand reichte. Der Avariel warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und spuckte vor ihm aus.
Doch gegen den aufbrausenden Applaus vermochte er nichts auszurichten.
Winter
Eine Stunde später auf dem Ästetenplateau
Der Palast der Familie Shantilea war ein pompöses, achteckiges Glashaus mit zahlreichen Erkern und Türmen. Wie alle Gebäude der Stadt wirkte es kalt trotz des vielen Lichts - wie ein Spiegel der Seele seiner Bewohner. Von Lana hatten die Gefährten erfahren, dass die Shantileas eines der ältesten und einflussreichsten Häuser der Stadt waren. Die Familie brüstete sich damit, ihre Wurzeln bis zu dem Archon zurückverfolgen zu können, der der Legende nach das Volk der Avariel begründet hatte. Fürstin Mathalaya, die seit Jahrhunderten verbissen nach dem Thron des Coronals strebte, war die mächtigste Verfechterin des Kastensystems und eine erklärte Feindin der ungeflügelten Rebellen. Der Tränenball in ihrem Hause leitete traditionell ein dreitägiges Fest zum Gedenken an den Gründer Immerschwinges ein.
„Halt! Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, Fremde!“ Verwirrt hob Winter den Kopf. Die Worte waren in gebrochener Gemeinsprache mit starkem elfischem Akzent gesprochen worden. Der junge Avariel, der ihnen mit dieser wenig schmeichelhaften Begrüßung aufwartete, versperrte den Gefährten schwebend und mit gezücktem Schwert den Weg zum Eingangsportal des Palasts. Sein blanker Schädel glänzte elfenbeinern im Mondschein und in seinen Augenwinkeln glitzerten künstliche Tränen. Die prächtigen, schneeweißen Schwingen hatte er zu ihrer vollen Breite entfaltet und aus seinen goldenen Augen musterte er die Gefährten mit unverhohlener Abscheu. Wäre sein Gesicht nicht verzerrt gewesen von jener Maske aus Hass und Arroganz, so hätte Winter über seine Schönheit nur staunen können. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie und ihre Gefährten von fünf weiteren Avariel umzingelt waren. Sie alle hatten kahl rasierte Schädel und Tränen in den Augenwinkeln, wenn ihre Flügel auch nicht mit dem strahlenden Glanz des Anführers konkurrieren konnten. Dieser begann die Gefährten auf Elfisch zu beschimpfen, während die Ballgäste, die von allen Seiten herbei geströmt kamen, stehen blieben und mit verhaltener Neugier die Konfrontation verfolgten.
Nachdem er sich den Wortschwall des Goldäugigen eine zeitlang mit versteinerter Miene angehört hatte, rief Nimoroth ihm etwas in seiner Muttersprache zu. Es folgte ein hitziger Wortwechsel, der damit endete, dass Goldauge vor Nimoroth ausspuckte, sein Schwert in die Scheide steckte und davon flog. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich.
„Was war denn das?“, fragte Winter.
„Er hat uns zum Kampf herausgefordert“, erwiderte Nimoroth mit düsterer Miene.
„Und?“
„Ich habe zugesagt“, erklärte der Elf. „Morgen gegen Mittag in der Arena auf der Bürgerebene.“
„Das war ein Fehler“, bemerkte Fürst Elijas, der die Konfrontation mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Warum?“
„Das war Silead Shantilea, der Sohn der Fürstin“, erwiderte Elijas. „Der kahlrasierte Schädel soll daran erinnern, von wem er abstammt, doch ihm haftet wenig Engelsgleiches an. Er ist ein skrupelloser Bandenführer; selbst seine Mutter hat sich öffentlich von ihm distanziert. Er ist bekannt dafür, dass er politische Machtkämpfe in der Arena austrägt. Bei vier Mann gegen einen kann er nur gewinnen. Unter Avariel gilt nur ein Kampf Mann zu Mann als fairer Kampf.“
„Auch gut“, knurrte Grimwardt. „Treten wir eben einzeln gegen ihn an.“
Elijas zuckte gleichgültig mit den Schultern und überreichte den Palastwachen die Einladungen. Die Gefährten folgten ihm in ein Atrium, das fünf Galerien und eine riesige Tanzfläche umfasste. In der Mitte erhob sich ein gläserner Baum, der bis unter die kristallene Kuppel des Palasts reichte. Kaum hatten sie Platz genommen, erschien auf der obersten Galerie der Coronal an der Seite seiner jungen Gemahlin. Doch obgleich er aus Rücksicht auf die Besucher davon absah seine Eingangsrede auf Elfisch zu verlesen, schenkte Winter seinen Worten wenig Beachtung. Ihr Augenmerk war auf die Galerie unter ihm gerichtet, wo die Herrin des Hauses, Fürstin Mathalaya Shantilea, Platz genommen hatte: Ihre Flügel waren ebenso schneeweiß wie die ihres hitzköpfigen Sohnes, ihre Augen golden, ihr Haar silbrig-weiß und ihre Gesichtszüge so ebenmäßig wie aus Stein gemeißelt. Winter fiel zudem auf, dass die junge Gemahlin des Coronals dieselben celestischen Merkmale aufwies.
„Die Familienoberhäupter der Shantileas pflegen untereinander zu heiraten, um die celestische Blutlinie nicht zu verunreinigen“, erklärte Elijas, der ihrem Blick gefolgt war, mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. „Silead und seine Schwester Vanya, die Frau des Coronals, sind das Resultat dieser Tradition.“
Winter blinzelte.
„Seht… ihr das auch“, fragte sie irritiert. Die anderen folgten verständnislos ihrem Blick.
„Ich meine den Kerl, der gerade mit blankem Schwert auf den König zufliegt.“
Der Abend wurde immer skurriler.
Elijas runzelte die Stirn, dann sprang er alarmiert auf und stieß einen Warnruf aus.
Er ist unsichtbar, durchzuckte Winter in diesem Moment die Erkenntnis. Durch eine magische Manipulation ihrer Augen war sie in der Lage Unsichtbares zu sehen.
Doch es war zu spät. Der Unsichtbare hatte die oberste Galerie bereits erreicht und nun schienen ihn auch die anderen sehen zu können. Ehe irgendwer reagieren konnte, hatte der Eindringling die Gemahlin des Coronals gepackt und hielt sie wie ein Schild vor sich, während er ihr drohend sein Schwert unter die Kehle hielt. Dolche wurden gezückt und Fürstin Mathalya rief nach den Wachen, doch niemand wagte etwas zu unternehmen. Winter reagierte schnell. Flüsternd sprach sie die magischen Worte eines Versetzungstricks und tauschte Platz und Aussehen mit der Geisel des Eindringlings. Dieser schien nichts zu bemerken. Seine blitzenden dunklen Augen flackerten spöttisch und seine eindrucksvollen Schwingen vibrierten leicht, als er seine Blicke über die Ballgesellschaft gleiten ließ. Der Coronal stand mit hilflos geballten Fäusten an Winters Seite und zischte einige Worte auf Elfisch. Winter horchte auf, als sie den Namen Thanduin aus seinem Mund vernahm.
Thanduin, der Rebellenführer.
Was folgte war ein weiteres Beispiel elfischer Selbstinszenierung.
„Ein Vögelchen hat mir gezwitschert“, rief Thanduin an die Ballgesellschaft gewandt, „welch ungewöhnliche Gäste heute Abend hier sind.“ Er nickte in die Richtung von Winters Freunden. „Freunde aus Myth Drannor, es tut mir aufrichtig leid, dass dies der erste Eindruck ist, den Ihr von der Stadt der Gläsernen Gesänge bekommen sollt. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch von all dem Lug und Trug nicht die Augen verschließen lasst. Die Einweihung des Portals nach Cormanthyr ist alles andere als eine Annäherung der Avariel an die guten Völker von Faerûn. Wusstet ihr, dass das geplante Portal nur in eine Richtung passierbar ist? Nun ratet mal in welche!“
Mit diesen Worten ließ der Rebellenführer von Winter ab und verschwand, wieder unsichtbar, in einem der Gänge, die von der Galerie abzweigten. Winter hörte, wie Fürstin Mathalaya mit klarer Stimme einen Befehl gab und sogleich wurde der Raum von Wachen gestürmt, die sich an die Fersen des Flüchtigen hefteten.
Nachdem Winter ihr Verwechslungsspiel aufgeklärt hatte und die Gäste sich von dem Schock erholt hatten, wurde das Essen serviert. Fürst Elijas, dem plötzlich sehr daran gelegen schien, sich den Fragen seiner Gäste zu entziehen, entschuldigte sich noch vor der Vorspeise und verließ den Tisch, um sich anderen Gesprächen zuzuwenden. Den Gefährten war das nur Recht. Es gab viel zu besprechen. In wenigen Worten setzten sie Kalith über ihren eigentlichen Auftrag und die Todesklaue in Kenntnis. Die einseitige Öffnung des Portals warf neue Fragen auf. Grimwardt befürchtete, dass von hier aus ein Angriff auf Myth Drannor seinen Ursprung nehmen könnte. Irgendwer erschaffte eine Armee aus Untoten und Myth Drannor schien ein plausibles Angriffsziel. Doch wer profitierte davon? Die Rebellen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Regierung zu erpressen? Die Isolationisten, die von Anfang an gegen die Portalöffnung gewesen waren? Oder gab es eine dritte Partei, die noch nicht in Erscheinung getreten war? In jedem Fall musste die Herrscherin von Myth Drannor von der möglichen Gefahr unterrichtet werden.
Der Abend verlief schleppend. Ein Gespräch mit dem Coronal brachte den Gefährten keine neuen Erkenntnisse bis auf die, dass der Herrscher von Immerschwinge ein Schwächling und Zauderer war, der viel reden konnte ohne ein Wort zu sagen. Dorien war auch keine große Hilfe, da er es vorzog, sich auf der Tanzfläche mit diversen Avariel-Damen zu vergnügen, anstatt seinen Freunden bei ihren Ermittlungen zur Hand zu gehen. Sogar Grimwardt hatte eine Eroberung an Land gezogen. Amüsiert beobachtete Winter die steifen Tanzversuche ihres Bruders und die skeptisch-unbehagliche Miene, die er im Gespräch mit seiner geflügelten Tanzpartnerin an den Tag legte.
Dann wurde sie von Kalith abgelenkt, der ihr eine interessante Beobachtung mitteilte: Während des Auftritts des Rebellenführers hatte einer der Diener Elijas Avalior eine Nachricht zugesteckt. Ein Beweis dafür, dass der verschlossene Fürst mit den Rebellen im Bunde war? Winter wollte es genau wissen und stibitzte kurzerhand besagte Nachricht. Dank eines magischen Tricks, der es ihr erlaubte ihre Diebeskünste auch auf die Distanz anzuwenden, gelang es ihr sogar, den Zettel wieder unbemerkt in den Falten von Elijas’ Toga verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne dass sie sich von Nimoroth den Inhalt hätte übersetzen lassen.
„Morgen Abend zur zehnten Stunde an der Alten Miene“, las Nimoroth vor. „Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen.“
„Ich schätze, Elijas ist nicht der einzige, der morgen um zehn eine Verabredung hat“, sagte Winter nicht ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit.
Der Abend hielt noch eine unangenehme Überraschung für Winter und ihre Freunde bereit, als sie bei der Rückkehr in Doriens Villa dieselbe von einer durchweg betrunkenen und größtenteils erotisierten Feiergesellschaft bevölkert vorfanden. Diverse Möbelstücke hatten unter den Auswirkungen der fatalen Mischung von Silberwein mit Aphrodisiakum zu leiden gehabt, sodass Doriens zehnköpfige Dienerschaft einem hätte leid tun können, hätte es sich bei dem Pulk eifriger Butler und Zofen nicht durchweg um magische Konstrukte gehandelt. Der Herr des Hauses, der Elijas’ Warnungen bezüglich der psychotischen Wirkung von Silberwein offenbar in den Wind geschlagen hatte, hatte sich mit zwei Avarieldamen in den Badethermen der Villa verschanzt.
Da der Hexenmeister an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen war, war es an Winter Nimoroth nach Myth Drannor zu begleiten, um Ilsevele Miritar von der möglichen Bedrohung des Elfenhofs und der geplanten einseitigen Öffnung des Portals zu unterrichten. Um den Mythal zu umgehen, wechselten sie zunächst von Doriens Villa aus die Ebene (was ihnen einen ungeplanten Aufenthalt im Mondsee bescherte) und teleportierten dann zur Stadt. Die Wachen am Tor verweigerten ihnen jedoch zu so später Stunde den Eintritt und zeigten sich recht unbeeindruckt von der Warnung - was nicht zuletzt an der wenig würdevollen Erscheinung ihrer pudelnassen Überbringer liegen mochte…
Nimoroth
Am nächsten Tag in der Arena
Ein traditioneller Klingensänger-Wettstreit bestand aus drei Runden. In der ersten Runde wurde allein mit Waffengewalt, in der zweiten nur mit Magie gekämpft. In der dritten Runde schließlich galt es, Kriegskunst und arkane Magie zu einem einheitlichen Kampfstil zu vereinen. Die Gefährten hatten sich mit dem Arenenmeister darauf geeinigt, dass sie einzeln gegen Silead antreten würden.
Grimwardt war als erster an der Reihe. Das Amphitheater, welches als Austragungsort diente, war bis auf die letzte Bank besetzt. Da der Kronrat Ausschreitungen zwischen Engelstränen und Sympathisanten der Rebellen befürchtete, waren auf den Tribünen Valendár-Wachen postiert. Weder Fürst Elijas noch die Mitglieder des Kronrats waren irgendwo zu sehen; offenbar wollte sich niemand der offiziell Neutralen am heutigen Tag auf diesem heißen politischen Pflaster sehen lassen. Wer hier war, der war entweder für oder gegen die Öffnung des Portals und die Forderungen der Rebellen. Dass die Gefährten als vermeintliche Gesandte Myth Drannors offiziell nichts mit den Rebellen verband, schien niemanden zu kümmern: Die Fremden traten gegen Silead Shantilea, den Anführer der Engelstränen, an und wandten sich damit gegen alles, was die Rebellen verabscheuten.
Trommelwirbel kündigte den Kampf an und die Gefährten wurden aus einer Versenkung im Boden in die Arena gezogen, während Silead mit ausgebreiteten Schwingen von der Decke herab schwebte. Nimoroth kam nicht umhin die verächtliche Symbolik in dieser Raumanordnung zu bemerken, beließ es aber bei einem stummen Kopfschütteln.
Der Kampf begann.
Wie ein Fels in der Brandung harrte Grimwardt, sein Turmschild erhoben und die Axt fest im Griff, der Angriffe seines Gegners, der im Sturzflug auf ihn hinab stürzte. Ein höhnisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Avariel breit, als sein erster magisch verstärkter Schwerthieb Grimwardt bereits ins Wanken brachte. Der Tempuspriester schien weniger Glück zu haben – Sileads magische Spiegelbilder bereiteten ihm ernsthafte Schwierigkeiten. Dennoch bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fleck. Der Hohn des Klingensängers, der Zauber um Zauber verprasste, um seine Angriffe zu verstärken, verwandelte sich schon bald in frustrierte Ungläubigkeit. Sein Gegner, den er nach dem ersten Angriff bereits abgeschrieben hatte, leistete erbitterten Widerstand. Dann ein letzter zorniger Angriff… und Grimwardt fiel.
„Schweinehund“, entfuhr es Winter. Sie half ihrem Bruder auf die Beine und stellte sich dem Klingensänger. Nimoroth hielt den Atem an. Es stand 1:0 für den Herausforderer. Winter durfte jetzt kein Fehler unterlaufen. Nimoroth fürchtete das launige Gemüt seiner Mitstreiterin. Umso größer war seine Verblüffung, als bereits Winters erster Zauber, ein Blitzgewitter sengender Strahlen, die sie in rasender Abfolge auf Silead abfeuerte, seine Niederlage besiegelte: Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Avariel gegen die Bande und raubte ihm das Bewusstsein. Offenbar hatte Grimwardt ganze Arbeit geleistet: Der Avariel musste all seine Schutzzauber im Kampf gegen den zähen Priester verprasst haben. Winter brauchte einen Augenblick, um ihren schnellen Sieg zu begreifen, bevor sie sich vom Applaus der Menge berauschen ließ.
Nun war Nimoroth an der Reihe. Da das magische Feld, welches die Arena umgab, verhinderte, dass Arenenkämpfe tatsächlich blutig endeten, dauerte es nicht lange, bis Silead wieder auf den Beinen war. Die Erkenntnis von einer Menschenfrau besiegt worden zu sein, trieb den selbstgefälligen jungen Avariel zur Weißglut. Aller Hohn war von ihm abgefallen und nichts als blanker Hass starrte Nimoroth aus goldenen Augen entgegen. Silead preschte vor, doch Nimoroth war schneller. Mit irrsinniger Wucht stürmte er gegen seinen Gegner an und rang ihn zu Boden. Der Kampf war zu Ende noch ehe er so recht begonnen hatte. Nimoroth verkniff sich ein Grinsen, als er dem am Boden liegenden Silead die Hand reichte. Der Avariel warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und spuckte vor ihm aus.
Doch gegen den aufbrausenden Applaus vermochte er nichts auszurichten.