Kapitel II: Die Krypta des Baelnorn
Nimoroth
Kurz darauf in Myth Drannor
Die Elfenstadt Myth Drannor war einst berühmt gewesen für ihre atemberaubende Architektur und ihr kulturelles Vermächtnis. Doch nach der Verwüstung der Stadt durch die Armeen der Finsternis hatten Myth Drannor und der Elfenhof sechshundert Jahre lang in Ruinen gelegen – ein Eldorado für todesmutige Grabräuber und waghalsige Abenteurer. Erst acht Jahre war es her, dass sich im Zuge des Elfenkreuzzuges Elfen aus Immerdar hier niedergelassen hatten. Doch der Wiederaufbau der Stadt würde noch Jahre in Anspruch nehmen: Noch immer gab es zahlreiche Stadtviertel, in denen die Magie aufgrund des zerstörten Mythals, der die Stadt einst als Schutzschild umgeben hatte, verrückt spielte oder gar nicht funktionierte. Da architektonische Arbeiten in diesen Gebieten äußerst schwierig waren, lagen die meisten Gebäude hier noch immer in Schutt und Asche. Zudem gab es auch heute noch ungesicherte Portale. Um das liederliche Gezücht zu bekämpfen, das sich in den ungesicherten Gebieten von Myth Drannor herumtrieb, oder auch um noch etwas von den vielen versunkenen Schätzen der Hauptstadt von Cormanthyr abzustauben, bevor alles wieder in den Besitz der Elfen überging, waren aus ganz Faerûn Abenteuergruppen angereist. Die Regierung der Stadt um Fürstin Ilsevele Miritar war dankbar für jede Hilfe, hatte sie selbst doch wenig Zeit sich um den Wiederaufbau der Stadt zu kümmern. Schließlich lauerten im Norden bereits die Zhentarim, die der Wiedererrichtung einer elfischen Nation in ihrem Einflussgebiet wenig zugetan waren. Und auch die Menschenstädte des Mondsees und der Talländer blickten mit Misstrauen in Richtung des Elfenhofs.
Whispers Braustube lag am Rande eines Ruinengebiets. Das Wirtshaus, das einen großen, rustikalen Schankraum und eine Galerie umfasste, war bis auf den letzten Winkel besetzt. Und obgleich die Mehrzahl der Kundschaft elfischer Herkunft war, konnte Nimoroth auch zahlreiche Menschen und sogar den ein oder anderen Halbling unter den Gästen ausmachen. Wie in Abenteurerkneipen üblich wurde gelacht, getrunken, lamentiert, musiziert und Karten gespielt was das Zeug hielt. Die Wirtin war eine kleine grünhäutige Elfe (Nimoroth meinte auch ein wenig Nymphenblut und vielleicht sogar etwas von einer Seeelfe in ihr zu sehen) mit sehr eigenwilliger, zu Berge stehender Haarfrisur, die flink wie ein Eichhörnchen zwischen den Gästen umherwuselte, Bestellungen aufnahm, Essensberge auf winzigen Servierbrettern balancierte, mit dem ein oder anderen Besucher schäkerte und dazwischen noch die Zeit fand, einen Streit zu schlichten, der sich zwischen zwei konkurrierenden Abenteurergruppen anbahnte. Kaum hatten Nimoroth und seine Gefährten sich am letzten freien Tisch niedergelassen, war sie auch schon zur Stelle, um die Bestellung aufzunehmen. Als sie Grimwardt erblickte, stutzte sie.
„Ihr habt eine Nachricht für uns?“, tippte Nimoroth. Offenbar hatte er ihren Blick richtig gedeutet, denn die Elfe nickte eifrig und begann die zahlreichen Taschen und Beutelchen, die sie um die zierliche Hüfte trug, nach der Mitteilung zu durchsuchen.
„So muss es sein“, antwortete die quirlige Wirtin. „Ein großer, rotbärtiger Krieger und ein Waldelf, so hat er euch beschrieben. Wartet – hier ist die Nachricht.“
„Wer ist ‚er’?“, fragte Nimoroth, während die anderen die Pergamentrolle in Augenschein nahmen, die Whisper ihnen über den Tisch reichte. Sie enthielt einen Ring und den Ausschnitt einer Stadtkarte.
„Ein Mensch; hat seinen Namen nicht genannt“, erklärte Whisper, während sie den Nachbartisch abräumte und gleichzeitig ein Tablett mit Metkrügen, die der Küchenjunge zur Abholung auf die Theke gestellt hatte, per Magierhand durch den Raum lenkte. „Sehr blasses Gesicht, weißes Haar, dunkle Kleidung. Sagt euch das etwas?“
„Drake!“, riefen die vier Gefährten wie aus einem Mund. Der zwielichtige Schurke, der ihnen vor zehn Jahren schon einmal einen schweren Verlust zugefügt hatte, bevor die Umstände ihn zu einem ihrer Gefährten gemacht hatten, war seinem Handwerk offensichtlich treu geblieben.
„Dieser Schweinehund“, entfuhr es Winter. „Wenn ich den zu fassen bekomme...“
Der Kartenausschnitt aus der Pergamentrolle enthielt die Wegbeschreibung zu einer alten Tempelruine und die Anweisung, dort nach „der Krypta des Baelnorn“ zu suchen. Den Ring, den Drake der Karte beigefügt hatte, identifizierte Winter mit Hilfe ihres magischen Monokels als einen Sklavenring. Der Träger eines Sklavenrings stand in telepathischer Verbindung zum Träger eines mit ihm verbundenen Rings, des Meisterrings. Wurde seinen Anweisungen nicht Folge geleistet, so konnte der „Meister“ dem „Sklaven“ über den Ring Züchtigungen in Form von magischen Schocks zuteil werden lassen. Da niemand besonders erpicht darauf war, Drake diese Genugtuung zu verschaffen, steckte Grimwardt den Ring ein.
„Lasst uns diese Krypta suchen und herausfinden, was Drake will“, sagte Nimoroth, der es nicht mehr länger ertrug, tatenlos herum zu sitzen. Jede Minute, die verging, brachte Nyrael ihrem Ende ein Stück näher.
Grimwardt
Wenig später im Ruinenviertel
Von dem Trümmerhügel, auf dem Grimwardt harrte, war zu erkennen, dass der Tempel, der einst auf dem Platz gestanden hatte, gigantisch gewesen sein musste. Die marmornen Mauerreste, das aufwendige Bodenmosaik und die Überreste von Pfeilergruppen, die noch aus dem Boden ragten, ließen nur erahnen, welche Pracht diesen Mauern einst innegewohnt haben musste. Das Bemerkenswerteste an dieser Ruine jedoch war ihr Zentrum: Hier ragte der gigantische, verkohlte Baumstumpf einer Trauerweide aus dem Boden, deren Zweige die Gebetshalle einst wie eine riesige Kuppel umschlossen haben mussten. Das Wurzelgeflecht des toten Baumes durchzog die Halle wie ein obskuren Adergeflecht und Grimwardt spürte, dass etwas Unheimliches von diesen Wurzeln ausging: Sie waren knochenbleich und stachen aus der Erde wie die Arme eines Ertrinkenden.
„Ein todloser Baum“, erklärte Nimoroth, der lautlos neben Grimwardt getreten war.
„Todlos?“, grummelte Grimwardt. „Du meinst, ein untoter Baum?“
Auf Nimoroths Gesicht stahl sich eines dieser elfischen Lächeln. „Nicht alles, was nach dem Tod nicht die Schwelle überschreitet, ist böse. Dieser Baum hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
„Kommt schnell her, ich habe etwas gefunden!“, rief in diesem Moment Winter, die zusammen mit Dorien die Ruine erkundet hatte. Grimwardt beobachtete von seinem Hügel aus, wie seine Schwester sich vor der Weide zu Boden kniete und konzentriert über eine der mächtigen Wurzeln strich. Dann sprang sie plötzlich zurück. Wie eine riesige verwundete Schlange wuchtete sich die Wurzel schwerfällig aus der Erde, bis sie einen Torbogen gebildet hatte, unter dem bequem zwei Menschen Platz fanden.
„Scheint so, als hätte sie herausgefunden, was seine Aufgabe ist“, brummte Grimwardt, schulterte seine Axt und schlenderte den Hang hinunter. Bei Winter angelangt, griff er in seine Tasche und brachte den Sklavenring zum Vorschein.
„Denke, es ist an der Zeit, herauszufinden, was Drake von uns will“, meinte er und streifte sich den eisernen Ring über den Finger, bevor irgendwer protestieren konnte.
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hörte er Drakes spöttische Stimme in seinem Kopf. „Ich dachte schon, ich hätte die Anweisung ‚Streift mich über’ besser in den Ring gravieren lassen sollen, um sicher zu gehen, dass wir uns verstehen.“
„Was willst du?“, fragte Grimwardt ruhig.
„Grimwardt Fedaykin“, lachte Drake. „Du verlierst wie immer nicht viele Worte.“ Aus irgendeinem Grund stellte Grimwardt sich den Albino auf einem Diwan liegend vor, die Beine von sich gestreckt und ein Glas Wein in der Hand.
„Wo ist eigentlich der fünfte im Bunde?“, fragte Drake. „Ich dachte, Kalith lebt hier in Myth Drannor? Ich hätte es bevorzugt, die ganze Gruppe zu… rekrutieren. Dumm nur, dass mir in Kaliths Fall das Druckmittel fehlte…“
Weil du seine Familie bereits umgebracht hast, Witzbold, dachte Grimwardt.
„Was willst du?“, fragte er, entschlossen sich von Drakes Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Warum sucht ihr nicht die Krypta und findet es heraus?“
„Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich denke, dass da unten irgendein Untoter auf uns wartet, der etwas besitzt, was du haben willst. Und da du gegen Untote nicht viel ausrichten kannst, brauchst du unsere Hilfe.“
Grimwardt schloss aus Drakes Schweigen, dass er nicht ganz falsch lag.
„Weißt du, Drake“, fügte er nüchtern hinzu. „Du hättest auch einfach fragen können!“ Er selbst hatte sich immer gut mit Drake verstanden… Allerdings waren es auch nicht seine Eltern, die der Schuft ermordet hatte.
Drake lachte leise. „Darauf wärt ihr niemals eingegangen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Findet die Krypta.“
Die Verbindung brach ab.
Grimwardt zuckte mit den Schultern und trat als erster durch das Wurzelportal. Für einen Augenblick überkam ihn Schwindel und ein Gefühl, als verliere er den Boden unter den Füßen. Dann Dunkelheit. Kurz darauf enthüllte Doriens Lichtzauber einen engen Erdtunnel, der von den Wurzeln der todlosen Weide fast vollständig versperrt wurde. Doch als Grimwardt mit seiner Axt nach den Wurzeln schlagen wollte, wischen sie vor ihm zurück und gaben den Weg frei. Offenbar hatte das Portal sie tief ins Erdreich geführt. Der Tunnel endete nach wenigen Schritten vor einer morschen Tür, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschein in den Gang fiel. Hinter der Tür befand sich eine Grabkammer mit zehn Sarkophagen. Aus einem seitlich angrenzenden Raum schien ein gleißend heller Lichtkegel in den Raum hinein. Die Sarkophage, die von dem Licht berührt wurden, waren unversehrt. Jene jedoch, die außerhalb des Lichtkegels lagen, waren geplündert und entweiht worden. Das verkohlte Skelett eines Humanoiden vermittelte den Gefährten eine Ahnung davon, was mit Grabräubern geschehen war, die ihr Glück an den anderen Sarkophagen versucht hatten.
Sie sahen einander ratlos an. Grimwardt zuckte mit den Schultern und hielt den kleinen Finger seiner linken Hand ins Licht. Ein Finger war entbehrlich. Doch nichts geschah. Grimwardt spürte im Gegenteil sogar eine angenehme Wärme durch seinen Körper strömen. Entschlossen trat er vor. Und tatsächlich: Er wurde von einem angenehmen Schauer überkommen, der seinen Geist belebe und seine Sinne schärfte.
„Darum braucht Drake also unsere Dienste“, murmelte Nimoroth. „Das Licht hätte seine niederträchtigen Absichten erkannt und ihm den Zutritt verwehrt.“
Die Lichtquelle war ein geweihter Altar im hinteren Teil des Raumes. Nimoroth konnte die Symbole und Runen darauf Corellon Larethian, dem Göttervater der Seldarine, zuordnen. In der Mitte des Raumes erhob sich ein weiterer Sarkophag, feiner gearbeitet als jene im Vorraum. Den Grabdeckel zierte ein Relief des Verstorbenen: das friedliche Bild eines Sonnenelfen mit edlen Gesichtszügen, der in prunkvolle Roben gewandet war. „Eoleth Keluvin“ lautete die elfische Grabinschrift.
Ein leises, spöttisches Lachen mischte sich in Grimwardts Gedanken.
„Eoleth Keluvin“, sagte Drake. „Ein Elfenmagier, begraben in einem geweihten Grab. Und du hast Recht, Grimwardt. Er besitzt etwas, das ihm nicht gehört. Ein Drowartefakt, genannt die Todesklaue. Und nun sag mir, Grimwardt“, fügte er sarkastisch hinzu. „Hättet ihr mir hierbei geholfen, wenn ich euch nett darum gebeten hätte?“
Grimwardt gab ein unverständliches Grummeln von sich und gab Drakes Worte an die anderen weiter. Dann sagte er mit düsterer Entschlossenheit: „Ich werde diesen Ort nicht entweihen.“
Winter drehte sich jäh zu ihm herum.
„Grim! Es geht um Scarlet!“
„Nichts wird mich dazu bringen, zum Grabräuber zu werden“, erklärte Grimwardt mit Nachdruck. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sie nicht widerrufen. Die anderen starrten ihn betreten an. Ihnen allen war klar, dass Nimoroth allein mit der Hilfe der beiden Hexenmeister den Deckel des Grabes nicht würde lüften können.
„Also schön“, schnaubte Winter und funkelte ihn böse an. „Wenn du uns nicht helfen willst, dann werde ich eben einen Weg finden müssen, da hineinzugelangen.“ Mit ähnlicher Entschlossenheit wie ihr Bruder, gepaart mit einer erheblichen Portion Trotz, stieg sie auf das Grab und legte sich flach darauf.
„Was hast du vor?“, grummelte Grimwardt. „Willst du dich in das Ding hinein teleportieren?“
„Genau das habe ich vor!“, schnappte Winter. „Ich gehe da rein und hole mir diese dumme Artefakt.“
Gesagt, getan.
Nimoroth riss seinen Krummsäbel aus der Scheide und Dorien erhob seinen Zauberstecken. Gespenstige Stille. Dann plötzlich ein ohrenbetäubendes Bersten und Grimwardt konnte gerade noch der Sargplatte ausweichen, die von einer unsichtbaren Kraft in die Höhe geschleudert und dann zur Seite geschmettert wurde.
Nimoroth
Eoleth Keluvin stand aufrecht in seinem eigenen Sarg. Seine bleichen, pupillenlosen Augen waren auf Winter gerichtet, die vor ihm kauerte, und seine ausdruckslosen Lippen formten magische Worte. Die einstmals prächtigen Samtroben des Elfenmagiers hingen ihm in Fetzen vom Leib und seine Haut spannte sich wie Pergament über die knirschenden Knochen.
Ein Baelnorn. Ein Elfenleichnam.
Am rechten Arm trug Eoleth einen schwarz glänzenden Panzerhandschuh aus einem organisch wirkenden Material, das sich in Ringen um sein knochiges Handgelenk wand. Dies musste die Todesklaue sein, von der Drake gesprochen hatte. Verblüfft starrte Nimoroth das Artefakt an: Die Klaue an Eoleths Handgelenk erinnerte ihn an einen Gegenstand, den er einst am Arm einer fanatischen Drow-Priesterin gesehen hatte, die er mir seiner alten Abenteuergruppe im Unterreich bekämpft hatte. Im Augenblick ihres Todes hatte sich die Priesterin samt der Klaue aus ihrem Turm teleportiert. Eoleths Panzerhandschuh war identisch mit jenem Artefakt, das sie damals nicht hatten bergen können, mit der Ausnahme, dass dieser Gegensand von einer in Silber gefassten Obsidianspinne geziert wurde.
Blinzelnd lenkte Nimoroth seine Aufmerksamkeit von dem rätselhaften Artefakt auf seinen Träger. Im Gegensatz zu anderen Untoten roch Eoleth nicht nach Verwesung und Verfall. Nimoroth hatte nichts anderes erwartet: Baelnorns waren heilige Wesen, von den Seldarine gesegnet und auf ewig einer Aufgabe auf der Erde verschrieben. Was ihn jedoch verwunderte war die völlige Geruchlosigkeit dieses Wesens.
Irgendetwas stimmte nicht.
Doch Nimoroth blieb keine Zeit, sich darüber klar zu werden, was der fehlende Eigengeruch des Leichnams zu bedeuten hatte. Der Magier hatte eine Salve magischer Geschosse auf Winter abgefeuert und wurde nun seinerseits von Dorien unter Beschuss genommen. Nimoroth flüsterte die göttliche Formel, die seine Muskeln anschwellen ließ und seine Kampfinstinkte schärfte, und preschte vor. Ein einziger Angriff reichte aus, den Magier zu Fall zu bringen. Doch anstatt besiegt in sein Grab zurück zu sinken, löste sich Eoleth samt seiner Ausrüstung in Luft auf als hätte es ihn niemals gegeben.
„Weshalb trachtet ihr nach der Klaue der Spinnenkönigin?“, fragte eine eisige Stimme und Nimoroth fuhr mit gezücktem Säbel herum. Eoleth Keluvin schwebte, umgeben von einem energetischen Schutzfeld, das in allen Farben des Regenbogens schimmerte, vor dem Eingang der Grabkammer und die Strahlen des Lichts von Arvandor brachen sich myriadenfach in seinen weißen blicklosen Augen. Nimoroth nahm seinen Duft auf: Er roch nach den Gestaden des gepriesenen Landes. Sie hatten nichts weiter als eine Projektion besiegt.
Mit demütig gesenktem Haupt schilderte Nimoroth dem Baelnorn ihr Dilemma: Um seine Geliebte und die Tochter seiner Freunde aus den Klauen eines hinterhältigen Erpressers zu befreien, mussten sie diesem die Todesklaue liefern.
Eoleths tote Augen blieben unbewegt.
„Die Klaue ist bis zu meiner Zerstörung an mich gebunden“, sagte er. „Selbst wenn ich wollte, so könnte ich sie nicht ablegen, denn es ist meine heilige Aufgabe, sie vor jenen zu schützen, die durch sie unsägliches Leid über Toril bringen könnten. Der Träger dieses Zeugnisses nekromantischer Schaffenskraft vermag diese Welt innerhalb weniger Jahre mit seinen untoten Dienern zu überziehen. Ich habe Lolths dunkle Macht am eigenen Leibe erfahren“, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. „Mehr als 400 Jahre muss es her sein, dass ich die Straßen Myth Drannors in sterblicher Gestalt durchwandelte. Damals erhielt ich die Aufgabe, eine Drowpriesterin zu verfolgen, die die Todesklaue einsetzen wollte, um die Welt unter der Sonne in Lolths Namen zurückzuerobern.“
„Ihr sagt, es ist ein Artefakt der Spinnenkönigin?“, fragte Nimoroth Stirn runzelnd. „Seid ihr euch dessen gewiss?“ Die Drowpriesterin, die sie damals im Unterreich bekämpft hatten, war Anhängerin einer anderen Göttin gewesen. Sie hatte Kiaransalee, die dunkelelfische Göttin des Untodes, verehrt.
„So ist es.“
„Was wisst ihr von einer zweiten Klaue?“
Der Baelnorn neigte den Kopf; seine blicklosen Augen blieben unbewegt.
„Ich weiß nur von dieser einen Klaue. Ich verfolgte ihre Trägerin bis ins Unterreich. Doch der entscheidende Kampf brachte auch mich an die Schwelle des Todes. Kurz bevor meine Sinne mich verließen, legte ich das Artefakt an. Ich konnte die Klaue nicht im Unterreich zurücklassen, wo sie über kurz oder lang nur wieder den Dunkelelfen in die Hände gefallen wäre. Die dunkle Macht des Artefakts rettete mir das Leben, doch mein Geist war zu schwach, um den Einflüsterungen der Klaue zu widerstehen und so wurde ich als ihr Träger zu Lolths Diener, einzig darauf bedacht meine Brut zu vergrößern. Meine Missetaten blieben nicht unbemerkt und Myth Drannor sandte seine Elfenritter gegen mich und meine untoten Konsorten aus. Sie bezwangen mich und als ich wieder ich selbst war, gaben die Seldarine mir die Chance Buße zu tun für meine Verbrechen. In Gestalt eines Baelnorns bannten sie mich in diese Krypta. Und hier werde ich auf Ewigkeiten bleiben, um zu beschützen, was mir anvertraut wurde. Ihr seht also“, wandte sich Eoleth wieder an Nimoroth: „Dieses Artefakt kann in den Händen eines jeden Sterblichen zur Gefahr werden. Mein Herz ist von Mitleid erfüllt für euch und jene, die ihr zu schützen versucht. Doch selbst das Leben zweier Sterblicher macht das Grauen nicht wett, das dieses Artefakt anzurichten vermag.“
Nimoroth seufzte schwer und verfluchte Drake im Stillen. Nein, ihnen würde kein anderer Ausweg bleiben als gegen den Wächter der Todesklaue zu kämpfen, so sehr ihm diese Vorstellung auch zuwider war. Grimwardt indessen war nicht dazu zu bewegen, gegen sein Gewissen zu handeln und diesen heiligen Ort zu entweihen. Mit düsterer Miene kehrte er seinen Gefährten den Rücken und verließ die Grabkammer. Nimoroth schüttelte traurig den Kopf. Er selbst hatte den Glauben daran, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, vor acht Jahren in den Katakomben von Westtor verloren. Es gab zu viel Unglück auf Faerûn. Alles, was er tun konnte, war jene zu schützen, die er liebte.
Entschlossen packte er seine Waffe fester und flüsterte einen Flugzauber. Bevor Eoleth reagieren konnte, schwang er sich in die Lüfte und griff den schwebenden Magier im Sturzflug an. Sein magischer Säbel schnitt mühelos durch das vielfarbige Schutzschild, das den Baelnorn umgab und fügte ihm eine schwere Wunde zu, doch im selben Moment durchfuhr Nimoroth brennende Hitze und er taumelte betäubt einige Schritte zurück. Winter und Dorien versuchten dem Magier mit Angriffszaubern beizukommen. Als diese an dem Regenbogenschild abprallten, änderten sie ihre Taktik und versuchten Nimoroth mit ihren Zaubern zu schützen. Als nächstes spürte Nimoroth Eoleths leeren Blick auf sich, als der Magier einen Bannzauber wirkte, der Nimoroth seiner göttlichen Verstärkungen beraubte und seinen Flugzauber beendete. Während er fiel, durchfuhren ihn elektrische Stöße, die seine Glieder unkontrolliert zucken und ihn vor Schmerz aufschreien ließen.
„Ihr Elenden“, flüsterte Eoleth und aus seinen gespreizten Fingern schoss ein Kegel bunter Strahlen. Das letzte, was Nimoroth sah, war Grimwardt, der mit erhobener Axt aus dem Nebenraum gestürzt kam. Selbst die eherne Entschlossenheit des Tempuskriegers zerfiel wie Staub im Wind, wenn es darum ging, seine Schwester zu retten.
Dann erstarrte Nimoroths Geist, als ein grüner Strahl ihn traf und in Stein verwandelte.
Grimwardt
Teils fluchend, teils um Vergebung bittend, rammte Grimwardt seine Axt in den ungeschützten Körper des Magiers. Eoleths blicklose Augen weiteten sich, als er in die Arme des Priesters sank.
„Bringt die Klaue… zurück“, keuchte er, während sein untoter Körper dem Verfall anheim fiel, den göttliche Magie über all die Jahre aufgehalten hatte. Am Ende blieb nichts als Staub und die vermaledeite Klaue. Als der Baelnorn starb, erlosch das Licht von Arvandor und ein Riss spaltete den Altar. Dunkelheit senkte sich über die Höhle des Baelnorn.
„Wir haben sie“, knurrte Grimwardt an Drake gewandt. „Was nun?“
„Lauft weiter nach Osten und betretet das letzte intakte Haus im Ruinengebiet. Erster Stock, erste Tür auf der linken Seite.“
Grimwardt fuhr sich über den Bart. Die ganze Aktion stank zum Himmel.
„Wenn du das Ding haben willst“, knurrte er düster: „Dann komm und hol es dir aus meinen kalten, toten Händen!“ Mit diesen Worten machte er Anstalten sich die Klaue überzustreifen, doch Winter griff hastig ein und entrang das Artefakt dem Griff ihres Bruders.
„Nicht, Grim! Hast du nicht gehört, was der Elfenleichnam gesagt hat? Die Klaue würde dich beherrschen wie ihn! Wir müssen eine andere Lösung finden. Soll Drake das Ding haben. Fürs erste. Sicher will er es an irgendwen verkaufen. Wir machen den Käufer ausfindig und holen es uns wieder.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
Da sich der Aufenthaltsort von Artefakten nicht durch Erkenntniszauber ermitteln ließ, versteckten die Gefährten einen Kiesel und einen Tintenklecks, zwei Dinge von denen sie hofften, dass sie unauffällig genug waren und sich dennoch zurückverfolgen ließen, im Innern der Klaue. Grimwardt warf sich den versteinerten Nimoroth über die Schulter und sie machten sich auf den Weg zu dem Übergabeort, den Drake ihnen genannt hatte. Im ersten Stock der Ruine fanden sie eine magische Truhe mit arkanen Motiven vor, die an diesem trostlosen Ort seltsam fehl am Platze wirkte. Der Deckel stand offen. Gemäß Drakes Anweisungen legten sie das Artefakt in die Truhe. Kaum hatten sie den Deckel zugeklappt, erbebte die Truhe kurz und verschwand dann ohne einen Laut.
„Zufrieden?“, knurrte Grimwardt. „Also wo sind die Geisel?“
„Fragt in Whispers Braustube nach einer Nachricht… und Grimwardt…“ Drake lachte spöttisch. „Danke für die gute Zusammenarbeit.“
Wie sie kurz darauf feststellten, war bei Whisper tatsächlich eine zweite Nachricht für sie abgegeben worden. Darin nannte Drake den Ort, an dem er Scarlet und Nyrael festhielt: ein kleines, spärlich eingerichtetes Dachzimmer in einem der magietoten Gebiete der Stadt. Die Antimagie, die durch den zerstörten Mythal bedingt war, musste Winters Ortungszauber in die Irre geführt haben.
Als Grimwardt mit den anderen in dem Zimmer eintraf, fanden sie Nimoroths Lebensgefährtin in tiefer Bewusstlosigkeit vor: Ihre Haut und ihr moosgrünes Haar waren gelb verfärbt und vertrocknet wie die vergilbten Blätter eines sterbenden Baumes. Die kleine Scarlet, die verunsichert und befremdet zu den Füßen der sterbenden Fremden saß, sprang von Erleichterung überwältigt auf, kaum dass sie den Raum betreten hatten, und flog erst ihrer Mutter und dann ihrem Onkel in die Arme. Dorien, den sie erst seit einigen Monaten kannte, begrüßte sie verhaltener. Nicht ohne Stolz bemerkte Grimwardt, dass seine Nichte keine einzige Träne vergossen zu haben schien. Doch Zeit für ausgiebige Umarmungen blieb nicht. Die Dryade musste dringend zu ihrem Lebensbaum zurückgebracht werden. Behutsam nahm Dorien sie in die Arme und teleportierte alle, nachdem sie den magietoten Bereich verlassen hatte, in die Sternwälder. Kaum hatten sie die Dryade mit dem Rücken gegen ihren Lebensbaum gebettet, erholte sie sich sichtbar. Ihre Augenlider flackerten.
„Irgendjemand sollte Nimoroth dringend entzaubern“, murmelte Grimwardt, der ächzend die schwere Steinstatue von seinem Rücken wuchtete. „Sonst trifft die Kleine der Schlag, kaum dass sie aufwacht.“
Da sie genug mächtige Magierfreunde in Tiefwasser und Umgebung hatten, wussten sie, an wen sie sich in solchen Fällen zu wenden hatten.
Nimoroth
Kurz darauf in Myth Drannor
Die Elfenstadt Myth Drannor war einst berühmt gewesen für ihre atemberaubende Architektur und ihr kulturelles Vermächtnis. Doch nach der Verwüstung der Stadt durch die Armeen der Finsternis hatten Myth Drannor und der Elfenhof sechshundert Jahre lang in Ruinen gelegen – ein Eldorado für todesmutige Grabräuber und waghalsige Abenteurer. Erst acht Jahre war es her, dass sich im Zuge des Elfenkreuzzuges Elfen aus Immerdar hier niedergelassen hatten. Doch der Wiederaufbau der Stadt würde noch Jahre in Anspruch nehmen: Noch immer gab es zahlreiche Stadtviertel, in denen die Magie aufgrund des zerstörten Mythals, der die Stadt einst als Schutzschild umgeben hatte, verrückt spielte oder gar nicht funktionierte. Da architektonische Arbeiten in diesen Gebieten äußerst schwierig waren, lagen die meisten Gebäude hier noch immer in Schutt und Asche. Zudem gab es auch heute noch ungesicherte Portale. Um das liederliche Gezücht zu bekämpfen, das sich in den ungesicherten Gebieten von Myth Drannor herumtrieb, oder auch um noch etwas von den vielen versunkenen Schätzen der Hauptstadt von Cormanthyr abzustauben, bevor alles wieder in den Besitz der Elfen überging, waren aus ganz Faerûn Abenteuergruppen angereist. Die Regierung der Stadt um Fürstin Ilsevele Miritar war dankbar für jede Hilfe, hatte sie selbst doch wenig Zeit sich um den Wiederaufbau der Stadt zu kümmern. Schließlich lauerten im Norden bereits die Zhentarim, die der Wiedererrichtung einer elfischen Nation in ihrem Einflussgebiet wenig zugetan waren. Und auch die Menschenstädte des Mondsees und der Talländer blickten mit Misstrauen in Richtung des Elfenhofs.
Whispers Braustube lag am Rande eines Ruinengebiets. Das Wirtshaus, das einen großen, rustikalen Schankraum und eine Galerie umfasste, war bis auf den letzten Winkel besetzt. Und obgleich die Mehrzahl der Kundschaft elfischer Herkunft war, konnte Nimoroth auch zahlreiche Menschen und sogar den ein oder anderen Halbling unter den Gästen ausmachen. Wie in Abenteurerkneipen üblich wurde gelacht, getrunken, lamentiert, musiziert und Karten gespielt was das Zeug hielt. Die Wirtin war eine kleine grünhäutige Elfe (Nimoroth meinte auch ein wenig Nymphenblut und vielleicht sogar etwas von einer Seeelfe in ihr zu sehen) mit sehr eigenwilliger, zu Berge stehender Haarfrisur, die flink wie ein Eichhörnchen zwischen den Gästen umherwuselte, Bestellungen aufnahm, Essensberge auf winzigen Servierbrettern balancierte, mit dem ein oder anderen Besucher schäkerte und dazwischen noch die Zeit fand, einen Streit zu schlichten, der sich zwischen zwei konkurrierenden Abenteurergruppen anbahnte. Kaum hatten Nimoroth und seine Gefährten sich am letzten freien Tisch niedergelassen, war sie auch schon zur Stelle, um die Bestellung aufzunehmen. Als sie Grimwardt erblickte, stutzte sie.
„Ihr habt eine Nachricht für uns?“, tippte Nimoroth. Offenbar hatte er ihren Blick richtig gedeutet, denn die Elfe nickte eifrig und begann die zahlreichen Taschen und Beutelchen, die sie um die zierliche Hüfte trug, nach der Mitteilung zu durchsuchen.
„So muss es sein“, antwortete die quirlige Wirtin. „Ein großer, rotbärtiger Krieger und ein Waldelf, so hat er euch beschrieben. Wartet – hier ist die Nachricht.“
„Wer ist ‚er’?“, fragte Nimoroth, während die anderen die Pergamentrolle in Augenschein nahmen, die Whisper ihnen über den Tisch reichte. Sie enthielt einen Ring und den Ausschnitt einer Stadtkarte.
„Ein Mensch; hat seinen Namen nicht genannt“, erklärte Whisper, während sie den Nachbartisch abräumte und gleichzeitig ein Tablett mit Metkrügen, die der Küchenjunge zur Abholung auf die Theke gestellt hatte, per Magierhand durch den Raum lenkte. „Sehr blasses Gesicht, weißes Haar, dunkle Kleidung. Sagt euch das etwas?“
„Drake!“, riefen die vier Gefährten wie aus einem Mund. Der zwielichtige Schurke, der ihnen vor zehn Jahren schon einmal einen schweren Verlust zugefügt hatte, bevor die Umstände ihn zu einem ihrer Gefährten gemacht hatten, war seinem Handwerk offensichtlich treu geblieben.
„Dieser Schweinehund“, entfuhr es Winter. „Wenn ich den zu fassen bekomme...“
Der Kartenausschnitt aus der Pergamentrolle enthielt die Wegbeschreibung zu einer alten Tempelruine und die Anweisung, dort nach „der Krypta des Baelnorn“ zu suchen. Den Ring, den Drake der Karte beigefügt hatte, identifizierte Winter mit Hilfe ihres magischen Monokels als einen Sklavenring. Der Träger eines Sklavenrings stand in telepathischer Verbindung zum Träger eines mit ihm verbundenen Rings, des Meisterrings. Wurde seinen Anweisungen nicht Folge geleistet, so konnte der „Meister“ dem „Sklaven“ über den Ring Züchtigungen in Form von magischen Schocks zuteil werden lassen. Da niemand besonders erpicht darauf war, Drake diese Genugtuung zu verschaffen, steckte Grimwardt den Ring ein.
„Lasst uns diese Krypta suchen und herausfinden, was Drake will“, sagte Nimoroth, der es nicht mehr länger ertrug, tatenlos herum zu sitzen. Jede Minute, die verging, brachte Nyrael ihrem Ende ein Stück näher.
Grimwardt
Wenig später im Ruinenviertel
Von dem Trümmerhügel, auf dem Grimwardt harrte, war zu erkennen, dass der Tempel, der einst auf dem Platz gestanden hatte, gigantisch gewesen sein musste. Die marmornen Mauerreste, das aufwendige Bodenmosaik und die Überreste von Pfeilergruppen, die noch aus dem Boden ragten, ließen nur erahnen, welche Pracht diesen Mauern einst innegewohnt haben musste. Das Bemerkenswerteste an dieser Ruine jedoch war ihr Zentrum: Hier ragte der gigantische, verkohlte Baumstumpf einer Trauerweide aus dem Boden, deren Zweige die Gebetshalle einst wie eine riesige Kuppel umschlossen haben mussten. Das Wurzelgeflecht des toten Baumes durchzog die Halle wie ein obskuren Adergeflecht und Grimwardt spürte, dass etwas Unheimliches von diesen Wurzeln ausging: Sie waren knochenbleich und stachen aus der Erde wie die Arme eines Ertrinkenden.
„Ein todloser Baum“, erklärte Nimoroth, der lautlos neben Grimwardt getreten war.
„Todlos?“, grummelte Grimwardt. „Du meinst, ein untoter Baum?“
Auf Nimoroths Gesicht stahl sich eines dieser elfischen Lächeln. „Nicht alles, was nach dem Tod nicht die Schwelle überschreitet, ist böse. Dieser Baum hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
„Kommt schnell her, ich habe etwas gefunden!“, rief in diesem Moment Winter, die zusammen mit Dorien die Ruine erkundet hatte. Grimwardt beobachtete von seinem Hügel aus, wie seine Schwester sich vor der Weide zu Boden kniete und konzentriert über eine der mächtigen Wurzeln strich. Dann sprang sie plötzlich zurück. Wie eine riesige verwundete Schlange wuchtete sich die Wurzel schwerfällig aus der Erde, bis sie einen Torbogen gebildet hatte, unter dem bequem zwei Menschen Platz fanden.
„Scheint so, als hätte sie herausgefunden, was seine Aufgabe ist“, brummte Grimwardt, schulterte seine Axt und schlenderte den Hang hinunter. Bei Winter angelangt, griff er in seine Tasche und brachte den Sklavenring zum Vorschein.
„Denke, es ist an der Zeit, herauszufinden, was Drake von uns will“, meinte er und streifte sich den eisernen Ring über den Finger, bevor irgendwer protestieren konnte.
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hörte er Drakes spöttische Stimme in seinem Kopf. „Ich dachte schon, ich hätte die Anweisung ‚Streift mich über’ besser in den Ring gravieren lassen sollen, um sicher zu gehen, dass wir uns verstehen.“
„Was willst du?“, fragte Grimwardt ruhig.
„Grimwardt Fedaykin“, lachte Drake. „Du verlierst wie immer nicht viele Worte.“ Aus irgendeinem Grund stellte Grimwardt sich den Albino auf einem Diwan liegend vor, die Beine von sich gestreckt und ein Glas Wein in der Hand.
„Wo ist eigentlich der fünfte im Bunde?“, fragte Drake. „Ich dachte, Kalith lebt hier in Myth Drannor? Ich hätte es bevorzugt, die ganze Gruppe zu… rekrutieren. Dumm nur, dass mir in Kaliths Fall das Druckmittel fehlte…“
Weil du seine Familie bereits umgebracht hast, Witzbold, dachte Grimwardt.
„Was willst du?“, fragte er, entschlossen sich von Drakes Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Warum sucht ihr nicht die Krypta und findet es heraus?“
„Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich denke, dass da unten irgendein Untoter auf uns wartet, der etwas besitzt, was du haben willst. Und da du gegen Untote nicht viel ausrichten kannst, brauchst du unsere Hilfe.“
Grimwardt schloss aus Drakes Schweigen, dass er nicht ganz falsch lag.
„Weißt du, Drake“, fügte er nüchtern hinzu. „Du hättest auch einfach fragen können!“ Er selbst hatte sich immer gut mit Drake verstanden… Allerdings waren es auch nicht seine Eltern, die der Schuft ermordet hatte.
Drake lachte leise. „Darauf wärt ihr niemals eingegangen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Findet die Krypta.“
Die Verbindung brach ab.
Grimwardt zuckte mit den Schultern und trat als erster durch das Wurzelportal. Für einen Augenblick überkam ihn Schwindel und ein Gefühl, als verliere er den Boden unter den Füßen. Dann Dunkelheit. Kurz darauf enthüllte Doriens Lichtzauber einen engen Erdtunnel, der von den Wurzeln der todlosen Weide fast vollständig versperrt wurde. Doch als Grimwardt mit seiner Axt nach den Wurzeln schlagen wollte, wischen sie vor ihm zurück und gaben den Weg frei. Offenbar hatte das Portal sie tief ins Erdreich geführt. Der Tunnel endete nach wenigen Schritten vor einer morschen Tür, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschein in den Gang fiel. Hinter der Tür befand sich eine Grabkammer mit zehn Sarkophagen. Aus einem seitlich angrenzenden Raum schien ein gleißend heller Lichtkegel in den Raum hinein. Die Sarkophage, die von dem Licht berührt wurden, waren unversehrt. Jene jedoch, die außerhalb des Lichtkegels lagen, waren geplündert und entweiht worden. Das verkohlte Skelett eines Humanoiden vermittelte den Gefährten eine Ahnung davon, was mit Grabräubern geschehen war, die ihr Glück an den anderen Sarkophagen versucht hatten.
Sie sahen einander ratlos an. Grimwardt zuckte mit den Schultern und hielt den kleinen Finger seiner linken Hand ins Licht. Ein Finger war entbehrlich. Doch nichts geschah. Grimwardt spürte im Gegenteil sogar eine angenehme Wärme durch seinen Körper strömen. Entschlossen trat er vor. Und tatsächlich: Er wurde von einem angenehmen Schauer überkommen, der seinen Geist belebe und seine Sinne schärfte.
„Darum braucht Drake also unsere Dienste“, murmelte Nimoroth. „Das Licht hätte seine niederträchtigen Absichten erkannt und ihm den Zutritt verwehrt.“
Die Lichtquelle war ein geweihter Altar im hinteren Teil des Raumes. Nimoroth konnte die Symbole und Runen darauf Corellon Larethian, dem Göttervater der Seldarine, zuordnen. In der Mitte des Raumes erhob sich ein weiterer Sarkophag, feiner gearbeitet als jene im Vorraum. Den Grabdeckel zierte ein Relief des Verstorbenen: das friedliche Bild eines Sonnenelfen mit edlen Gesichtszügen, der in prunkvolle Roben gewandet war. „Eoleth Keluvin“ lautete die elfische Grabinschrift.
Ein leises, spöttisches Lachen mischte sich in Grimwardts Gedanken.
„Eoleth Keluvin“, sagte Drake. „Ein Elfenmagier, begraben in einem geweihten Grab. Und du hast Recht, Grimwardt. Er besitzt etwas, das ihm nicht gehört. Ein Drowartefakt, genannt die Todesklaue. Und nun sag mir, Grimwardt“, fügte er sarkastisch hinzu. „Hättet ihr mir hierbei geholfen, wenn ich euch nett darum gebeten hätte?“
Grimwardt gab ein unverständliches Grummeln von sich und gab Drakes Worte an die anderen weiter. Dann sagte er mit düsterer Entschlossenheit: „Ich werde diesen Ort nicht entweihen.“
Winter drehte sich jäh zu ihm herum.
„Grim! Es geht um Scarlet!“
„Nichts wird mich dazu bringen, zum Grabräuber zu werden“, erklärte Grimwardt mit Nachdruck. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sie nicht widerrufen. Die anderen starrten ihn betreten an. Ihnen allen war klar, dass Nimoroth allein mit der Hilfe der beiden Hexenmeister den Deckel des Grabes nicht würde lüften können.
„Also schön“, schnaubte Winter und funkelte ihn böse an. „Wenn du uns nicht helfen willst, dann werde ich eben einen Weg finden müssen, da hineinzugelangen.“ Mit ähnlicher Entschlossenheit wie ihr Bruder, gepaart mit einer erheblichen Portion Trotz, stieg sie auf das Grab und legte sich flach darauf.
„Was hast du vor?“, grummelte Grimwardt. „Willst du dich in das Ding hinein teleportieren?“
„Genau das habe ich vor!“, schnappte Winter. „Ich gehe da rein und hole mir diese dumme Artefakt.“
Gesagt, getan.
Nimoroth riss seinen Krummsäbel aus der Scheide und Dorien erhob seinen Zauberstecken. Gespenstige Stille. Dann plötzlich ein ohrenbetäubendes Bersten und Grimwardt konnte gerade noch der Sargplatte ausweichen, die von einer unsichtbaren Kraft in die Höhe geschleudert und dann zur Seite geschmettert wurde.
Nimoroth
Eoleth Keluvin stand aufrecht in seinem eigenen Sarg. Seine bleichen, pupillenlosen Augen waren auf Winter gerichtet, die vor ihm kauerte, und seine ausdruckslosen Lippen formten magische Worte. Die einstmals prächtigen Samtroben des Elfenmagiers hingen ihm in Fetzen vom Leib und seine Haut spannte sich wie Pergament über die knirschenden Knochen.
Ein Baelnorn. Ein Elfenleichnam.
Am rechten Arm trug Eoleth einen schwarz glänzenden Panzerhandschuh aus einem organisch wirkenden Material, das sich in Ringen um sein knochiges Handgelenk wand. Dies musste die Todesklaue sein, von der Drake gesprochen hatte. Verblüfft starrte Nimoroth das Artefakt an: Die Klaue an Eoleths Handgelenk erinnerte ihn an einen Gegenstand, den er einst am Arm einer fanatischen Drow-Priesterin gesehen hatte, die er mir seiner alten Abenteuergruppe im Unterreich bekämpft hatte. Im Augenblick ihres Todes hatte sich die Priesterin samt der Klaue aus ihrem Turm teleportiert. Eoleths Panzerhandschuh war identisch mit jenem Artefakt, das sie damals nicht hatten bergen können, mit der Ausnahme, dass dieser Gegensand von einer in Silber gefassten Obsidianspinne geziert wurde.
Blinzelnd lenkte Nimoroth seine Aufmerksamkeit von dem rätselhaften Artefakt auf seinen Träger. Im Gegensatz zu anderen Untoten roch Eoleth nicht nach Verwesung und Verfall. Nimoroth hatte nichts anderes erwartet: Baelnorns waren heilige Wesen, von den Seldarine gesegnet und auf ewig einer Aufgabe auf der Erde verschrieben. Was ihn jedoch verwunderte war die völlige Geruchlosigkeit dieses Wesens.
Irgendetwas stimmte nicht.
Doch Nimoroth blieb keine Zeit, sich darüber klar zu werden, was der fehlende Eigengeruch des Leichnams zu bedeuten hatte. Der Magier hatte eine Salve magischer Geschosse auf Winter abgefeuert und wurde nun seinerseits von Dorien unter Beschuss genommen. Nimoroth flüsterte die göttliche Formel, die seine Muskeln anschwellen ließ und seine Kampfinstinkte schärfte, und preschte vor. Ein einziger Angriff reichte aus, den Magier zu Fall zu bringen. Doch anstatt besiegt in sein Grab zurück zu sinken, löste sich Eoleth samt seiner Ausrüstung in Luft auf als hätte es ihn niemals gegeben.
„Weshalb trachtet ihr nach der Klaue der Spinnenkönigin?“, fragte eine eisige Stimme und Nimoroth fuhr mit gezücktem Säbel herum. Eoleth Keluvin schwebte, umgeben von einem energetischen Schutzfeld, das in allen Farben des Regenbogens schimmerte, vor dem Eingang der Grabkammer und die Strahlen des Lichts von Arvandor brachen sich myriadenfach in seinen weißen blicklosen Augen. Nimoroth nahm seinen Duft auf: Er roch nach den Gestaden des gepriesenen Landes. Sie hatten nichts weiter als eine Projektion besiegt.
Mit demütig gesenktem Haupt schilderte Nimoroth dem Baelnorn ihr Dilemma: Um seine Geliebte und die Tochter seiner Freunde aus den Klauen eines hinterhältigen Erpressers zu befreien, mussten sie diesem die Todesklaue liefern.
Eoleths tote Augen blieben unbewegt.
„Die Klaue ist bis zu meiner Zerstörung an mich gebunden“, sagte er. „Selbst wenn ich wollte, so könnte ich sie nicht ablegen, denn es ist meine heilige Aufgabe, sie vor jenen zu schützen, die durch sie unsägliches Leid über Toril bringen könnten. Der Träger dieses Zeugnisses nekromantischer Schaffenskraft vermag diese Welt innerhalb weniger Jahre mit seinen untoten Dienern zu überziehen. Ich habe Lolths dunkle Macht am eigenen Leibe erfahren“, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. „Mehr als 400 Jahre muss es her sein, dass ich die Straßen Myth Drannors in sterblicher Gestalt durchwandelte. Damals erhielt ich die Aufgabe, eine Drowpriesterin zu verfolgen, die die Todesklaue einsetzen wollte, um die Welt unter der Sonne in Lolths Namen zurückzuerobern.“
„Ihr sagt, es ist ein Artefakt der Spinnenkönigin?“, fragte Nimoroth Stirn runzelnd. „Seid ihr euch dessen gewiss?“ Die Drowpriesterin, die sie damals im Unterreich bekämpft hatten, war Anhängerin einer anderen Göttin gewesen. Sie hatte Kiaransalee, die dunkelelfische Göttin des Untodes, verehrt.
„So ist es.“
„Was wisst ihr von einer zweiten Klaue?“
Der Baelnorn neigte den Kopf; seine blicklosen Augen blieben unbewegt.
„Ich weiß nur von dieser einen Klaue. Ich verfolgte ihre Trägerin bis ins Unterreich. Doch der entscheidende Kampf brachte auch mich an die Schwelle des Todes. Kurz bevor meine Sinne mich verließen, legte ich das Artefakt an. Ich konnte die Klaue nicht im Unterreich zurücklassen, wo sie über kurz oder lang nur wieder den Dunkelelfen in die Hände gefallen wäre. Die dunkle Macht des Artefakts rettete mir das Leben, doch mein Geist war zu schwach, um den Einflüsterungen der Klaue zu widerstehen und so wurde ich als ihr Träger zu Lolths Diener, einzig darauf bedacht meine Brut zu vergrößern. Meine Missetaten blieben nicht unbemerkt und Myth Drannor sandte seine Elfenritter gegen mich und meine untoten Konsorten aus. Sie bezwangen mich und als ich wieder ich selbst war, gaben die Seldarine mir die Chance Buße zu tun für meine Verbrechen. In Gestalt eines Baelnorns bannten sie mich in diese Krypta. Und hier werde ich auf Ewigkeiten bleiben, um zu beschützen, was mir anvertraut wurde. Ihr seht also“, wandte sich Eoleth wieder an Nimoroth: „Dieses Artefakt kann in den Händen eines jeden Sterblichen zur Gefahr werden. Mein Herz ist von Mitleid erfüllt für euch und jene, die ihr zu schützen versucht. Doch selbst das Leben zweier Sterblicher macht das Grauen nicht wett, das dieses Artefakt anzurichten vermag.“
Nimoroth seufzte schwer und verfluchte Drake im Stillen. Nein, ihnen würde kein anderer Ausweg bleiben als gegen den Wächter der Todesklaue zu kämpfen, so sehr ihm diese Vorstellung auch zuwider war. Grimwardt indessen war nicht dazu zu bewegen, gegen sein Gewissen zu handeln und diesen heiligen Ort zu entweihen. Mit düsterer Miene kehrte er seinen Gefährten den Rücken und verließ die Grabkammer. Nimoroth schüttelte traurig den Kopf. Er selbst hatte den Glauben daran, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, vor acht Jahren in den Katakomben von Westtor verloren. Es gab zu viel Unglück auf Faerûn. Alles, was er tun konnte, war jene zu schützen, die er liebte.
Entschlossen packte er seine Waffe fester und flüsterte einen Flugzauber. Bevor Eoleth reagieren konnte, schwang er sich in die Lüfte und griff den schwebenden Magier im Sturzflug an. Sein magischer Säbel schnitt mühelos durch das vielfarbige Schutzschild, das den Baelnorn umgab und fügte ihm eine schwere Wunde zu, doch im selben Moment durchfuhr Nimoroth brennende Hitze und er taumelte betäubt einige Schritte zurück. Winter und Dorien versuchten dem Magier mit Angriffszaubern beizukommen. Als diese an dem Regenbogenschild abprallten, änderten sie ihre Taktik und versuchten Nimoroth mit ihren Zaubern zu schützen. Als nächstes spürte Nimoroth Eoleths leeren Blick auf sich, als der Magier einen Bannzauber wirkte, der Nimoroth seiner göttlichen Verstärkungen beraubte und seinen Flugzauber beendete. Während er fiel, durchfuhren ihn elektrische Stöße, die seine Glieder unkontrolliert zucken und ihn vor Schmerz aufschreien ließen.
„Ihr Elenden“, flüsterte Eoleth und aus seinen gespreizten Fingern schoss ein Kegel bunter Strahlen. Das letzte, was Nimoroth sah, war Grimwardt, der mit erhobener Axt aus dem Nebenraum gestürzt kam. Selbst die eherne Entschlossenheit des Tempuskriegers zerfiel wie Staub im Wind, wenn es darum ging, seine Schwester zu retten.
Dann erstarrte Nimoroths Geist, als ein grüner Strahl ihn traf und in Stein verwandelte.
Grimwardt
Teils fluchend, teils um Vergebung bittend, rammte Grimwardt seine Axt in den ungeschützten Körper des Magiers. Eoleths blicklose Augen weiteten sich, als er in die Arme des Priesters sank.
„Bringt die Klaue… zurück“, keuchte er, während sein untoter Körper dem Verfall anheim fiel, den göttliche Magie über all die Jahre aufgehalten hatte. Am Ende blieb nichts als Staub und die vermaledeite Klaue. Als der Baelnorn starb, erlosch das Licht von Arvandor und ein Riss spaltete den Altar. Dunkelheit senkte sich über die Höhle des Baelnorn.
„Wir haben sie“, knurrte Grimwardt an Drake gewandt. „Was nun?“
„Lauft weiter nach Osten und betretet das letzte intakte Haus im Ruinengebiet. Erster Stock, erste Tür auf der linken Seite.“
Grimwardt fuhr sich über den Bart. Die ganze Aktion stank zum Himmel.
„Wenn du das Ding haben willst“, knurrte er düster: „Dann komm und hol es dir aus meinen kalten, toten Händen!“ Mit diesen Worten machte er Anstalten sich die Klaue überzustreifen, doch Winter griff hastig ein und entrang das Artefakt dem Griff ihres Bruders.
„Nicht, Grim! Hast du nicht gehört, was der Elfenleichnam gesagt hat? Die Klaue würde dich beherrschen wie ihn! Wir müssen eine andere Lösung finden. Soll Drake das Ding haben. Fürs erste. Sicher will er es an irgendwen verkaufen. Wir machen den Käufer ausfindig und holen es uns wieder.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
Da sich der Aufenthaltsort von Artefakten nicht durch Erkenntniszauber ermitteln ließ, versteckten die Gefährten einen Kiesel und einen Tintenklecks, zwei Dinge von denen sie hofften, dass sie unauffällig genug waren und sich dennoch zurückverfolgen ließen, im Innern der Klaue. Grimwardt warf sich den versteinerten Nimoroth über die Schulter und sie machten sich auf den Weg zu dem Übergabeort, den Drake ihnen genannt hatte. Im ersten Stock der Ruine fanden sie eine magische Truhe mit arkanen Motiven vor, die an diesem trostlosen Ort seltsam fehl am Platze wirkte. Der Deckel stand offen. Gemäß Drakes Anweisungen legten sie das Artefakt in die Truhe. Kaum hatten sie den Deckel zugeklappt, erbebte die Truhe kurz und verschwand dann ohne einen Laut.
„Zufrieden?“, knurrte Grimwardt. „Also wo sind die Geisel?“
„Fragt in Whispers Braustube nach einer Nachricht… und Grimwardt…“ Drake lachte spöttisch. „Danke für die gute Zusammenarbeit.“
Wie sie kurz darauf feststellten, war bei Whisper tatsächlich eine zweite Nachricht für sie abgegeben worden. Darin nannte Drake den Ort, an dem er Scarlet und Nyrael festhielt: ein kleines, spärlich eingerichtetes Dachzimmer in einem der magietoten Gebiete der Stadt. Die Antimagie, die durch den zerstörten Mythal bedingt war, musste Winters Ortungszauber in die Irre geführt haben.
Als Grimwardt mit den anderen in dem Zimmer eintraf, fanden sie Nimoroths Lebensgefährtin in tiefer Bewusstlosigkeit vor: Ihre Haut und ihr moosgrünes Haar waren gelb verfärbt und vertrocknet wie die vergilbten Blätter eines sterbenden Baumes. Die kleine Scarlet, die verunsichert und befremdet zu den Füßen der sterbenden Fremden saß, sprang von Erleichterung überwältigt auf, kaum dass sie den Raum betreten hatten, und flog erst ihrer Mutter und dann ihrem Onkel in die Arme. Dorien, den sie erst seit einigen Monaten kannte, begrüßte sie verhaltener. Nicht ohne Stolz bemerkte Grimwardt, dass seine Nichte keine einzige Träne vergossen zu haben schien. Doch Zeit für ausgiebige Umarmungen blieb nicht. Die Dryade musste dringend zu ihrem Lebensbaum zurückgebracht werden. Behutsam nahm Dorien sie in die Arme und teleportierte alle, nachdem sie den magietoten Bereich verlassen hatte, in die Sternwälder. Kaum hatten sie die Dryade mit dem Rücken gegen ihren Lebensbaum gebettet, erholte sie sich sichtbar. Ihre Augenlider flackerten.
„Irgendjemand sollte Nimoroth dringend entzaubern“, murmelte Grimwardt, der ächzend die schwere Steinstatue von seinem Rücken wuchtete. „Sonst trifft die Kleine der Schlag, kaum dass sie aufwacht.“
Da sie genug mächtige Magierfreunde in Tiefwasser und Umgebung hatten, wussten sie, an wen sie sich in solchen Fällen zu wenden hatten.