_Kapitel III: Seele um Seele
Faust
Drachenfeste, später.
Der Kraftstoß, den der Drachenwächter auf sie niedergespien hatte, presste Faust die Luft aus den Lungen und schleuderte ihn mitten im Flug horizontal gegen einen der fünf Türme der Drachenfeste. Ohne festen Boden unter den Füßen fiel es ihm schwer die Orientierung zu bewahren. Wohin war sein Gegner verschwunden? Wo waren seine Gefährten? Unter ihm eine klaffende Felsspalte inmitten des zackigen Totengebirges: der Drachenschlund. Über ihm das Grinsen der Drachentürme. Dann ein Ruck. Etwas streifte ihn und Faust purzelte durch die Luft wie ein Staubkorn, das von einem Windzug aufgewirbelt wurde. Der schlanke Körper des Drachenwächters war nur als ein Flirren in der Luft erkennbar, ätherisch, fast unsichtbar. Nur sein Schatten, der, vom Gebirge in abstrakte Mosaike gebrochen, über die Landschaft glitt, verriet, dass dieses Wesen so verwundbar war wie jeder von ihnen. Faust reagierte schnell. Geistesgegenwärtig griff er nach dem flimmernden Rückenkamm, bevor der Drache ihm wieder entgleiten konnte. Er war schneller und wendiger als alle Drachen, gegen die Faust je gekämpft hatte. Der Wächter schüttelte nur flüchtig seinen Schlangenkörper, als er den blinden Passagier bemerkte; sein schmetternder Schwanzhieb galt Tyrail, der ihm zuvor einen schmerzhaften Schwerthieb verpasst hatte. Faust konnte nicht erkennen, ob der Angriff traf; der rasante Ritt ließ die Umgebung vor seinen Augen verwischen. Mit großer Anstrengung gelang es ihm Zwiespalt gegen den Flugwind durch den farblosen Schuppenpanzer des Wächters zu stoßen. Ein stimmloses Fauchen. Ein ruckartiges Bocken. Faust, der das lange Rückenhaar noch immer fest im Griff hielt, rutschte vom Rücken des Drachen. Dann ein Ruck in die entgegengesetzte Richtung: Ein Zahn, messerscharf und glasig wie aus Eis, blitzte einen Fingerbreit vor seinem Gesicht auf. Die perfekte Gelegenheit. Ritschhh. Glatt – beinahe sanft – trennte Zwiespalt den schillernden Drachenkopf vom Rumpf. Die transparenten Schwingen des Bezwungenen verharrten abrupt… und wickelten sich wie Totenschleier um die Gestalt des in die Tiefe stürzenden Leichnams. So erhaben wirkte der fallende Drache, selbst noch im Tod, dass es Faust beinahe leid um ihn tat.
„Schnell, in den Drachenschlund!“
Winter stob von oben heran und zog ihn mit sich in den Abgrund. Die anderen hatten das Portal in der Tiefe bereits durchschritten. Als er hoch sah, erkannte er, weshalb sie ihn so drängte. Drachen! Sie kamen von allen Seiten! Rote, blaue, grüne, schwarze und weiße Drachen. Mehrköpfige Drachen. Drachen mit Teufelsköpfen. Die Wächter zu Tiamats Reich! Aufregung und Triumph pochten wild in seinen Adern. Natürlich wäre es Wahnsinn, sich ohne Grund mit dem Heer der Drachengöttin anzulegen…
Absoluter Wahnsinn…
Trotzdem verspürte er Bedauern, als er Winters Zaubergesang vernahm und spürte, wie sich die Dimensionen überlagerten.
Plötzliche Windstille.
Eine feuchte Grotte irgendwo in Tiamats Reich. Ein schlickiger Tümpel; in der Mitte eine Insel mit einem befestigten Turm: der Ort, den der Aufspürungszauber Winter gezeigt hatte. Wenn Jebelam die Wahrheit gesagt hatte, würden sie hier den Besitzer der Schwertscheide finden… und hoffentlich die verstoßene Kurtisane.
„Bei Veiros‘ Ungestüm!“ Der Steg am Rande der Grotte war so schmal, dass Grimwardt beim Teleportieren im Wasser gelandet war. Seine Zornader pochte, als er an Land stapfte. „So ein Irrsinn, Tiamats Reich durch den Haupteingang zu betreten!“, brummte er.
Ein Blick in die Runde verriet Faust, dass der Kraftodem des Drachen sie alle an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Aber nichts, das Miu nicht wieder richten konnte.
„Hat doch geklappt.“
„Bis jetzt. Wenn wir durch unser Treiben nicht Tiamat persönlich aufgeweckt haben!“
Es hieß, die Drachenkönigin habe fünf Köpfe und dass sie schon mit einem einzigen ein ganzes Menschenreich auslöschen konnte. Die chromatischen Drachen verehrten Tiamat als Göttin, als ersten Drachen der Schöpfungsgeschichte. Hier unter dem Totengebirge von Avernus, wo die Macht Baators endete, hatte sie sich vor Jahrtausenden ihren Hort gegraben… ein sicheres Versteck für eine verstoßene Baatezu. Da Tiamats Reich eine eigenständige Ebene bildete, hatten die Gefährten erst das Portal, den Drachenschlund, durchschreiten müssen, um hierher zu gelangen.
„Solange wir ihre Schätze in Ruhe lassen, wird sie sich kaum für uns interessieren“, wusch Faust die düsteren Beschwörungen des Priesters beiseite. „Außerdem…“ Er wollte noch etwas hinzufügen, als der Tümpel hinter Grimwardt plötzlich lebendig wurde.
„Zur Seite!“
Drei scheußliche, pechschwarze Köpfe, halb Drache und halb Teufel, schnellten aus dem Wasser. Sie zischten und gurgelten etwas in der Sprache Baators, das nicht eben nach einem Willkommensgruß klang. Faust riss Tyrail, der neben ihm stand, mit sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment waren beide vollständig umhüllt vom ätzenden Odem der dreiköpfigen Kreatur. Fausts magische Rüstung wehrte die Säureangriffe ab, doch Tyrails schrille Schreie sagten ihm, dass der Elf dem Angriff schutzlos ausgeliefert war.
„Winter, in den Turm!“
Sie waren zu erschöpft für einen weiteren Kampf. Keine Zeit für einen Plan. Keine Zeit darüber nachzudenken, ob auf der Insel noch Schlimmeres auf sie lauerte. Wo blieb Winters Teleportationszauber? Faust erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, konzentriertes Murmeln, ein leichtes Stirnrunzeln, ein stummer Kampf. Vermutlich ein magischer Schutzwall. Während Winter ihren Kampf gegen den unsichtbaren Gegner ausfocht, versuchte Faust den halb bewusstlosen Tyrail aus der Angriffslinie des Teufelsdrachen zu zerren. Drei weitere Säurestrahlen trafen Miu und Grimwardt, doch die kleine Karaturianerin wich den Angriffen geschickt aus und Grimwardt war seit seiner Rückkehr aus dem Totenreich so gut wie unzerstörbar.
Kurz darauf umfing sie Finsternis. Erst als Winter ein magisches Licht beschwor, erkannte Faust schwach die Umrisse eines klammen Gemäuers: das Erdgeschoss des Turms. Eine morsche Treppe. Kein Geräusch bis auf Tyrails Stöhnen und das schnelle Atmen der anderen.
„Lady Baalphegor?“
Faust ließ wachsam den Blick schweifen, während sich Miu um Tyrail kümmerte, dessen Haut sich in Fetzen vom Körper gelöst hatte. Kein Zweifel – einige Baatezu waren vor Kurzem noch hier gewesen; das sagte ihm der Schwefelgeruch. Doch wie viele? Und war sie unter ihnen?
Ich bin gekränkt. Statt mir ein anständiges Tötungskommando zu schicken, speist mich Mephisto jetzt schon mit einer Handvoll sterblicher Kopfgeldjäger ab.
Baalphegor! Ihre telepathische Nachricht triefte vor Zynismus und Misstrauen. Faust hob die Hände zum Zeichen, dass sie in Frieden kamen. Womöglich wog sie gerade ab, ob sie fliehen oder den Kampf wagen sollte. Sie waren zu fünft und sie musste einen kleinen Eindruck ihrer Stärke gewonnen haben, als Winter ihr Dimensionsschloss gebannt hatte. Andererseits waren sie angeschlagen und erschöpft und wussten nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Solange sie sich nicht zeigte, war Baalphegor auf der sicheren Seite, denn solange konnte sie niemand am Fortteleportieren hindern.
„Wir sind keine Kopfgeldjäger“, sagte Grimwardt. „Wir sind auf dem Weg nach Cania, um eine Seele zurückzufordern, die zu Unrecht hier gelandet ist.“
Sind sie das nicht alle?
Der Kriegspriester ignorierte die spitze Bemerkung
„Wir haben nach Euch gesucht, weil wir hofften, dass uns jemand, der mit den canianischen Gepflogenheiten bekannt ist, dabei behilflich sein könnte, an Mephistos Hof zu gelangen. Auf diskrete Weise, versteht sich.“
„Wir brauchen gefälschte Kultistenscheine, um über den Styx zu reisen“, übersetzte Faust nüchtern. „Und Ihr hättet Gelegenheit, Mephisto eins auszuwischen.“
Dezentes Spottgelächter.
Diskret, sagt ihr? Ihr seid so diskret wie eine Gruppe Archonen in der Blutschlucht. Jeder Imp kann erkennen, dass die Seele des Priesters bereits einem anderen Herrn versprochen ist – er stinkt förmlich nach dem Jenseits! Ihr würdet nicht einmal als Kultisten durchgehen, würdet ihr Mephistos Ehrenmal tragen.
„Nicht nur die äußere Gestalt lässt sich durch Magie verschleiern“, bemerkte Faust. „Lasst das unsere Sorge sein.“
Wie habt ihr mich hier gefunden?
Zur Erklärung hielt Winter die Schwertscheide in die Höhe.
Ein sanftes Rascheln, ein kurzer Wortwechsel auf Infernalisch und ein ersticktes Röcheln aus dem ersten Stock. Im nächsten Moment rollte den Gefährten, träge von Stufe zu Stufe platschend, der abgetrennte Kopf eines Höllenschlundteufels vor die Füße. Alles klar, sie hatte verstanden. Nach diesem blutigen Prolog folgte Lady Baalphegors eigener Auftritt: In schwarze, fedrige Tücher gewandet, die ihren makellosen, bronzenen Körper umschmeichelten, rauschte sie die morsche Treppe herab wie in einen Ballsaal, die Schwingen halb geöffnet: wachsam, warnend, auf dem Sprung. Faust spürte, dass die herablassende Belustigung in ihren rubinroten Augen ihre Furcht kaschierte. Irritierender Weise fühlte er sich an seine Mutter erinnert. Es war wohl diese Mischung aus trotzigem Stolz und schlichter Dramatik... Auf der Hälfte der Treppe hielt sie inne.
„Schön“, sagte sie scheinbar desinteressiert. „Was wäre euer Angebot – angenommen, ich würde das Risiko auf mich nehmen?“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Ihr wärt wohl nicht hier, wenn ihr nicht den ein oder anderen Feind am canianischen Hof hättet…“
„Hm.“ Ein bitteres Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel. „Eine Laune. Davon hat Mephisto nicht wenige“, sagte sie leichthin. „Eine Eitelkeit. Schließlich ist das kleine Halbblut-Flittchen sein Geschöpf. Trotzdem… Seine Entscheidung mich aus Cania zu verstoßen war ein wenig… extrem.“ Sie schwieg lange und spielte gedankenverloren mit ihren messerspitzen Fingernägeln. Unter dem Schleier ihrer Unberührtheit spürte Faust flammenden Zorn.
„Einmal pro Höllenjahr gibt Mephisto ein Fest für seine sterblichen Anhänger, das einen Seelenzyklus lang wärt“, sprach sie schließlich. „In einem Monat ist es wieder soweit. Er hat eine gewisse Faszination für euresgleichen. Ich kenne das arkane Siegel, mit dem er die Einladungen kennzeichnet, doch er fügt jedes Jahr eine neue Komponente hinzu. Einem einfachen Amnizu-Bürokraten wird der Schwindel nicht auffallen, aber vor den Verwaltern am mephistotelischen Hof solltet ihr euch in Acht nehmen. Ich verlange ein Pfand von 200.000 Gold für meine Bemühungen. Keine Verhandlungen.“ Plötzlich war ihre Stimme von Eisdornen durchsetzt. „Sollte ich in absehbarer Zeit Kunde erhalten, dass der reizende Kopf dieses Halbbluts in den Wassers des Styx vor sich hin rottet, mögt ihr die Garantie zurückfordern.“
Faust pfiff durch die Zähne. 200.000 Gold. Das war selbst für ihre Verhältnisse kein Klacks. Sie würden einige äußerst wertvolle Gegenstände verpfänden müssen, um den Betrag zusammenzukratzen.
„Ich dachte hier unten würden solche Geschäfte mit Pakten geregelt“, meinte er misstrauisch.
Ärger flammte in ihren rubinroten Augen auf. „Ihr vergesst meine Situation“, zischte sie gepresst. „Ich falle aus der Hierarchie und damit auch aus der Jurisdiktion Baators.“
Trotz des horrenden Pfandes gingen die Gefährten auf den Handel ein. Nicht einmal Grimwardt und Miu protestierten gegen den Mordauftrag. Hier unten galten andere Gesetze.
„Wartet“, bat Faust, als die Baatezu sich zurückziehen wollte, um ihren Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich. „Noch eine Frage… Kennt ihr einen Halbteufel namens Lord Ares, der an Mephistos Hof verkehrt?“
Er spürte die Blicke der anderen und wich ihnen aus. Nachdem er von Omega erfahren hatte, welchem Erzteufel sein Vater seine teuflische Karriere zu verdanken hatte, hatte er seine Nachforschungen auf Cania fokussiert.
Baalphegor musterte ihn mit neu gewecktem Interesse.
„Es gibt nicht viele, die den Schwarzen Phönix unter diesem Namen kennen“, bemerkte sie. Faust musste schlucken. Es bestätigte nur, was er bereits selbst herausgefunden hatte. Aber es aus dem Mund eines Teufels zu hören, machte es auf eine Art real, die ihm Brechreiz verursachte.
„Er ist so etwas wie Mephistos rechte Hand. Ein weiterer Emporkömmling mit sterblicher Blutlinie“, fügte Baalphegor in säuerlichem Tonfall hinzu. „Irgendwann wird diese perverse Leidenschaft Mephisto noch das Genick brechen…“
Grimwardt
Maladomini, Siebter Höllenkreis, drei Wochen später.
Grimwardt fluchte gedämpft und schüttelte zum dritten Mal an diesem Morgen einen Klumpen verstümmelter Seelen von seinem Paddel, die wimmernd die flehenden Ärmchen nach ihm ausstreckten. Es war nicht immer so schlimm wie heute; vermutlich befanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt: Die Seelen wurden verzweifelter, je näher der Styx sie den Seelenseen zutrieb. Ungehalten begann der Priester schneller zu paddeln, was Tyrail, der das zweite Ruder bediente, aus dem Takt brachte. Der Elf versteifte sich und seine Kiefermuskeln knirschten. Seine eisige, wortlose Verachtung war geradezu körperlich - wie Gliederschmerzen oder zu dünne Luft. Grimwardt fragte sich, wer von ihnen zuerst explodieren würde!
„Faust, tausch die Plätze mit Tyrail!“, knurrte er. Immerhin war es Faust, dem sie diese charmante Gesellschaft zu verdanken hatten. Genaugenommen hatte er ihnen überhaupt diesen ganzen Schlamassel erst eingebrockt.
„Ruhig, Mann.“
Stirnrunzelnd blickte der Angesprochene von dem Buch auf, das er aus Rabenklippe mitgenommen hatte: die Chronik der Neun Schwerter. Die Aufzeichnungen reichten bis zu den Tagen der ersten Ordensgeneration zurück. Jede freie Minute verbrachte Faust damit, die Erlebnisse der Gefährten darin festzuhalten. Offenbar so eine Art Therapie, die ihn davon abhielt, irgendwem an die Gurgel zu springen. Nicht einmal den unspektakulären Kampf gegen die Amnizu-Zollwärter des dritten Höllenkreises, die ihre Kultisten-Maskerade durchschaut hatten, hatte er ausgelassen. Und gerade war er dabei, in allen Einzelheiten ihre Begegnung mit zwei listigen Xerfilstyx zu schildern, Flussteufeln, die ihr magisches Faltboot gebannt und den Gefährten eine unfreiwillige Abkühlung beschert hatten. Sie Seelen hatten Miu in die Tiefe gezogen und der Styx hatte ihr für kurze Zeit ihr Gedächtnis geraubt. Schon jetzt nahm Fausts Erzählung so viele Seiten ein wie für ein ganzes Jahrhundert vorgesehen waren. Wenn er so weitermachte, würde er die letzte Seite der Chronik erreichen, ehe sie in Cania ankamen.
Faust schrieb in der Ordenssprache Shou, doch Grimwardt entschlüsselte die fremden Schriftzeichen mühelos. So mühelos, dass ihm nicht einmal Fausts lausige Grammatik entging. Diese erstaunliche Sprachbegabung war nur eine der Fähigkeiten, die er seinem Tanz mit dem Tod verdankte. Seine Verbindung zu Kriegersruh war so stark, dass er manchmal auf Celestisch träumte. Nein… geträumt hatte. Die Hölle hatte seine Verbindung zu Tempus unterbrochen. Hatte den Teil seiner Seele, den er in Kriegersruh zurückgelassen hatte, den Teil, der eins war mit seinem Gott, von ihm abgeschnitten. Tempus hatte keine Macht in Baator. Die Leere war zermürbend. Wie sollte er sich selbst trauen ohne Tempus‘ Nähe? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich die scheußliche schwarze Kutte vom Leib reißen und das blasphemische Symbol um seinen Hals in den Styx schleudern wollte. Missfiel Tempus die Maskerade? Sollte er offen zeigen, wer er war, ungeachtet der Konsequenzen? Früher hätte er nicht gezaudert. Er hätte die Antwort schlicht und einfach gewusst.
Sei kein Narr. Er wollte, dass du herkommst, um diese Axt zu finden.
Grimwardt schalt sich selbst für seine Reizbarkeit. Der Styx hatte seine Gedanken vergiftet. Schlimm genug, dass Winter und Miu dem Bann des Seelenflusses erlegen waren. Jedes Mal, wenn er seine Schwester ansah – mit den tiefen Schatten im Gesicht und diesem kranken, unnatürlichen Glitzern in den Augen – spürte er einen erstickenden Kloß im Hals. In seinen Träumen klammerte sie sich um Hilfe flehend an sein Paddel und ihr Körper war nur noch ein Klumpen aus Seelenmasse… Grimwardt schauderte. Mius Augen dagegen waren leer, wie ausgelöscht, ihre Bewegungen zombiehaft. Seit sie in den Styx gefallen war, musste man sie immer wieder davon abhalten, sich dem Wehklagen der Seelen hinzugeben und die Arme nach den missgestalteten Kreaturen im Wasser auszustrecken. Grimwardt war sich nicht sicher, ob sie die Verdammten retten oder sich mit ihnen ins Vergessen stürzen wollte…
Plötzlich wurde das Boot von heftigem Schwanken erfasst.
„Relosecoon!“
„Was zum…? Tyrail!“
Tyrail hatte sich aufgerichtet und stach wild auf etwas im Wasser ein. Grimwardt hatte Mühe, das Boot im Gleichgewicht zu halten. Dann kam Faust hinzu gestürzt, griff mit beiden Händen zu und zerrte das klitschnasse, wild um sich schlagende Etwas ins Boot. Die Kreatur war etwa so groß wie ein Elf mit spindeldürren Gliedmaßen, einem krötigen Buckel, Schwimmhäuten zwischen Händen und Zehen und bösartig funkelnden Glubschaugen. Ein Xerfilstyx. Verflixte Biester.
„Endlich hab ich dich, Missgeburt“, zischte Tyrail.
„Endlich?“
„Er folgt uns schon seit heute Morgen.“
„Aha.“ Faust verschränkte die Arme. „Danke für die Warnung!“
„Im Gegensatz zu dir richte ich meinen Blick auch hin und wieder auf das, was vor uns liegt!“
„Hm. Mir schien’s eher so, als ob du mehr mit der Vergangenheit beschäftigt wärst.“
Oh bei den Hallen der Helden.
„Genug!“, schnaubte Grimwardt und drängte sich zu dem Teufel durch. „Wo hast du uns zum ersten Mal aufgelauert?“
„Pfff!“ Er zog eine Grimasse und entblößte dabei ein Fischmaul voller messerscharfer Zähne. „Ich bin euch schon seit Dis auf den Fersen!“
Grimwardt wechselte einen Blick mit Faust und Tyrail. Zeitgleich sangen ihre Waffen. Lass niemanden am Leben! Die kleine Kröte wusste ganz offenbar zu viel über sie!
„Halt!“, protestierte der Flussteufel. „Es wird euch nicht helfen, wenn ihr mich tötet! Mein Herr weiß ohnehin schon über euch Bescheid! Telepathisches Band.“ Er tippte dreimal gegen seinen Schädel.
Grimwardt hielt inne.
„Wer ist dein Herr?“, fragte er schroff.
„Baalzebul, Fürst des Siebten Höllenkreises, kein Geringerer“, sagte die Kröte mit geschwollener Brust. „Er ist sehr an euch interessiert und will euch treffen. Wenn ihr mich am Leben lasst, kann ich euch zu ihm führen.“
„Und worin besteht sein Interesse?“, fragte Grimwardt mit tödlicher Ruhe.
„Naja… fünf mächtige Sterbliche, die sich mit einem Legionsgeneral anlegen, die Portalstadt aufmischen und nach der verstoßenen Geliebten des Mephistopheles suchen?“
Jebelam, dieses verdammte Miststück!
Der Flussteufel grinste ihm dreist ins Gesicht. „Wäre ich Mephisto, würde ich mir da Sorgen machen. Wäre ich Mephistos Erzfeind, würde ich eine Chance wittern!“
Hm. Da war was dran. Es war kein Geheimnis, dass der Herr der Fliegen nach dem Thron von Cania trachtete. Die Seelenfehde zwischen Baalzebul und Mephisto war legendär. Grimwardt beriet sich kurz mit Faust, doch sie waren sich schnell einig.
„Also dann, Kröte“, knurrte Faust.
„Mein Name ist Iphores!“
„Flores? Hast wohl nicht viele Freunde, hm? Naja. Wenn das eine Falle ist, bist du jedenfalls dran, Blümchen, kapiert!“
„Iphores!“
Faust grinste.
Winter
Malagard, Hauptstadt des Siebten Höllenkreises, wenig später.
Sie wankte durch ein Labyrinth verfallener Korridore. Schmutzkrusten bedeckten die einst prachtvoll vertäfelten Wände. Breite Schleimspuren zogen sich über den Boden und streiften Bilderrahmen und Kerzenständer. Maden suhlten sich in den Schleimpfützen und unter den süffigen Teppichen zog kriechend etwas Lebendiges seine Bahnen. Und dann der Gestank – so penetrant und greifbar, dass er alles und jeden in diesem Palast in eine Blase der Schwermut hüllte.
Ein weiterer Albtraum? Sie war sich nicht sicher.
Seelen. Überall Seelen. Wehklagende Totgeburten, die sich wie die Maden vor ihr wanden und sie anflehten, sich an ihnen zu laben. Aber sie konnte nicht. Es waren geerntete Seelen, stumme Seelen, wertlos für ihre Zwecke. Unmöglich diese toten Klumpen in Schattenmagie zu verwandeln. Sie hatten keine Seelenmelodie, keinen Schatten. Dafür klang die Seelenmelodie ihrer Gefährten wie Hohn in ihren Ohren. So schmerzlich verführerisch, dass es sie in den Wahnsinn trieb. Die Visionen, in denen sie Tyrail in eine dunkle Gasse lockte und seinen Schatten trank, waren so real, dass sie manchmal erschrak, wenn sie neben ihm im Boot aufwachte. Der Mistkerl hätte es verdient. Bei den Göttern, wie er es verdient hätte!
Iphores führte sie zu einer breitflügigen Doppeltür, wo ihnen zwei Teufel mit Chitinpanzern und Insektenflügeln die Waffen abnahmen. Durch einen dichten Nebel nahm Winter wahr, wie man ihr die Zauberstäbe abnahm. Dann öffneten sich die Flügeltüren zu einem fensterlosen Raum, spärlich von Kerzenlicht erleuchtet. Der Schleier der Schwermut war hier am stärksten. Der Boden war so schleimig, dass er das Gehen zu einem beschwerlichen und trägen Kraftakt machte. In der Mitte des Raumes harrte Baalzebul, der drittmächtigste Erzteufel Baators. Der Herr der Fliegen. Der Prinz der Lügen.
Eine riesige, fette Schnecke.
An den Wänden standen und hingen Spiegel in allen Formen und Größen. Doch diejenigen, die nicht völlig von Schmutz und Schleim bedeckt waren, zeigten nicht etwa die fette Schnecke mit dem Säuglingsgesicht und den kurzen, speckigen Ärmchen, sondern einen wunderschönen Engel.
Winter blinzelte. Nein, Albträume waren nicht so… erbärmlich.
Sie versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die von den schwulstigen Lippen der Schnecke tropften wie Honig. Oder Gift. Aber ihre Gedanken glitten immer wieder zu den Spiegeln. Der Engel und das Ungeheuer. Wie lange würde es dauern, bis sie ihre eigenen Spiegel bezaubern musste, um nicht ihre verkrüppelte Seele darin gespiegelt zu sehen.
Scheiße, ich brauche wirklich einen Schatten.
Irgendwie waren die Worte, die der Herr der Lügen ihnen mit seiner Eunuchenstimme ins Ohr säuselte, wohl wichtig für ihre Mission. Doch die Bilder von dunklen Gassen und süßen, süßen Seelen schmuggelten sich immer wieder in seinen Redefluss. „…Spione in Mephistar… ungeheuerliche Vermutungen… Mephistos Betrug an seinem Herrn und Gott… Sturzversuch… Zauber, mit dem er Asmodeus seiner Göttlichkeit berauben will, um die Herrschaft über die Neun Höllen an sich zu reißen… Brauchen Beweise… Bringt mir Beweise!... Asmodeus‘ Belohnung… Mephistos Untergang… Cania wird mein sein… Wenn ich erst Herr von Cania bin, sollt ihr die Seele haben, die ihr begehrt!... Ich verspreche euch Omegas SEELE!“
Ein verzweifeltes Glucksen stolperte über Winters Lippen. Wenn sie Omegas Seele tatsächlich befreien sollten, wäre das erste, was sie täte, sie mit Haut und Haar zu verspeisen! Niemand würde sie davon abhalten können.
Reiß dich zusammen. Denk nach.
Irgendwo in diesem verflixten Reich musste es Seelen geben. Echte Seelen. Unbefleckte Seelen. Kerker! Natürlich! Fürchtete nicht jedes Kind auf Faerûn die Kerker der Hölle? Die Stätten des Bösen? Wo die Teufel immer neue Foltermethoden ersannen, um jene Sterbliche zu bezwingen, die sich dem Bösen nicht fügen wollten? Beinahe hätte sie vor Aufregung aufgequiekt. Jetzt musste sie nur noch an so eine Kerkerseele herankommen. Während die anderen mit Baalzebul verhandelten, löste Winter unauffällig ihre Komponententasche vom Gürtel und schob sie mit dem Fuß hinter einen der Spiegel.
„Winter?“
Erschrocken fuhr sie zusammen. Grimwardt. Hatte er etwas bemerkt?
Stirnrunzelnd hielt er ihr eine Schreibfeder und einen Dolch hin und wies auf die Schriftrolle, die sich vor ihr in der Luft entrollte.
„Unterschreibst du nun, oder was?“
Erleichtert nahm sie die Feder und den Dolch entgegen. Ein Höllenpakt. Verdammt, wieso hatte sie nicht mitbekommen, dass die Verhandlungen schon so weit voran geschritten waren? Eilig überflog sie das Schriftstück: „Die sterblichen Paktierenden verpflichten sich… bla bla bla… bei Sicherstellung von Beweisen und Indizien dafür, dass Mephistopheles, Herr des Achten Höllenkreises, den Sturz seines Herrn Asmodeus plant, diese unverzüglich und ohne Einweihung Dritter Baalzebul, Herrn des Siebten Höllenkreises, zu übermitteln. Letzterer verpflichtet sich seinerseits genannte Beweise zur Überprüfung an Asmodeus weiterzuleiten. Sollte sich durch diese Bemühungen eine Umverteilung der Machtverhältnisse Baators ergeben und Baalzebul zum Herrn des Achten Höllenkreises ernannt werden, so verpflichtet er sich die Seele Omegas, verstorbene Anführerin der Neun Schwerter, aus ihrem Pakt zu entlassen und bis auf Weiteres auf alle Ansprüche Canias auf diese Seele zu verzichten.“
Grimwardt und Faust hatten den Wisch bereits unterzeichnet. Wenn sie das Ding abgesegnet hatten, musste die Sache ja wohl wasserdicht sein, oder? Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, schnitt sich Winter mit dem Dolch in die Handfläche und unterzeichnete den Pakt mit ihrem Blut, wie es Brauch war.
Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie sich verabschiedeten. Als sie sich auf dem Rückweg durch den Palast befanden, blieb sie abrupt stehen und tastete mit gespieltem Schrecken ihren Gürtel ab.
„Oh, verdammt! Ich habe meinen Komponentenbeutel da drin vergessen!“
Grimwardt musterte sie mit skeptischem Blick.
„Du hast noch nie was vergessen“, brummte er.
„Es gibt für alles ein erstes Mal!“, spielte sie die Eingeschnappte und eilte den Gang zurück zu Baalzebuls Spiegelsaal, bevor irgendwer anbieten konnte, sie zu begleiten.
„Ich brauche eine Seele!“ Sie verabscheute sich selbst für das Flehen und die Verzweiflung in ihrer Stimme, aber sie war zu erschöpft, um ausgerechnet dem Herrn der Lügen etwas vorzugaukeln.
Baalzebul kroch aus dem dunklen Winkel, in den er sich zurückgezogen hatte, musterte sie aus winzigen Augen und schlug wehmütig die speckigen Hände zusammen. Sein tiefes Seufzen klang mitleidig und verursachte ihr Übelkeit.
„Ihr… Ihr habt gewiss Seelen, für die Ihr keine Verwendung habt… Sterbliche, die… Eure Gastfreundschaft nicht zu schätzen wissen. Ich bin nicht wählerisch. Und meine Gesundheit käme schließlich auch Euch zugute!“
„Ich verstehe deine Seelenqual, hübsches Kind“, flötete die fette Schnecke. „Aber du weißt gewiss, dass hier in Baator alles seinen Preis hat. Auge um Auge. Seele um…“
„Meine Seele kann ich euch nicht geben."
Ein träges Lächeln suhlte sich auf seinem Gesicht.
„Ich fürchte, da hast du recht. Deine Seele gehört dir nur noch zu Teilen, hm? Und wenn unser Plan Erfolg hat, gehen diese Anteile ohnehin an mich über.“ Seufzend betrachtete er sein falsches Spiegelbild und Winter war sich nicht ganz sicher zu wem von ihnen er sprach. „Aber du hast Glück, hübsches Kind. Es gibt etwas, das ich beinahe noch mehr schätze als Seelen – und das ist Wissen… Iphores ist ein guter Junge. Er hat mir vieles berichten können über euer illustres Grüppchen. Doch ich glaube, da ist vieles, worüber ihr auf eurer Reise nicht gesprochen habt und was kein Zauber aufzudecken vermag. So viele mysteriöse Verbindungen, so viele Geheimnisse.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Eine Seele für eine Geschichte, ich denke, das ist ein fairer Preis.“
Einen Moment lang war Winter versucht, in den Handel einzuschlagen. Doch plötzlich durchschaute sie sein Spiel. Nicht weil er sich durch irgendeine Geste, irgendein falsches Wort, verraten hätte, sondern weil er… Sie hasste, es zuzugeben, aber er war ihr selbst nicht unähnlich. Baalzebul war verflucht. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht auf magische Weise verbergen, was er war: Die Hässlichkeit seiner Seele stand ihm wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte Einfluss darauf, welchen Aspekt seiner Seele er seinem Gegenüber zeigte. Und er hatte sich für den erbärmlichen, den schwermütigen, den ungefährlichen Aspekt entschieden… Wer konnte schon sagen, für welche kranken Rituale er diese Informationen brauchte. Hier ging es nicht nur um sie, sondern um ihre Freunde.
„Nein“, flüsterte Winter. „Das kann ich nicht tun.“
Für eine Weile ließ er seinen melancholischen Blick auf ihr ruhen, ehe er bedauernd die Hände rang.
„Das ist schade, wirklich schade.“ Dann plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, trat ein anderer Ausdruck in seine Augen: schlau und berechnend und durch und durch böse, als er sagte: „Gute Reise, hübsches Kind.“
Als Winter kurz darauf wankend den Raum verließ, war sie nicht mehr so sicher, was Wirklichkeit und was Spiegelbild war…
Faust
Drachenfeste, später.
Der Kraftstoß, den der Drachenwächter auf sie niedergespien hatte, presste Faust die Luft aus den Lungen und schleuderte ihn mitten im Flug horizontal gegen einen der fünf Türme der Drachenfeste. Ohne festen Boden unter den Füßen fiel es ihm schwer die Orientierung zu bewahren. Wohin war sein Gegner verschwunden? Wo waren seine Gefährten? Unter ihm eine klaffende Felsspalte inmitten des zackigen Totengebirges: der Drachenschlund. Über ihm das Grinsen der Drachentürme. Dann ein Ruck. Etwas streifte ihn und Faust purzelte durch die Luft wie ein Staubkorn, das von einem Windzug aufgewirbelt wurde. Der schlanke Körper des Drachenwächters war nur als ein Flirren in der Luft erkennbar, ätherisch, fast unsichtbar. Nur sein Schatten, der, vom Gebirge in abstrakte Mosaike gebrochen, über die Landschaft glitt, verriet, dass dieses Wesen so verwundbar war wie jeder von ihnen. Faust reagierte schnell. Geistesgegenwärtig griff er nach dem flimmernden Rückenkamm, bevor der Drache ihm wieder entgleiten konnte. Er war schneller und wendiger als alle Drachen, gegen die Faust je gekämpft hatte. Der Wächter schüttelte nur flüchtig seinen Schlangenkörper, als er den blinden Passagier bemerkte; sein schmetternder Schwanzhieb galt Tyrail, der ihm zuvor einen schmerzhaften Schwerthieb verpasst hatte. Faust konnte nicht erkennen, ob der Angriff traf; der rasante Ritt ließ die Umgebung vor seinen Augen verwischen. Mit großer Anstrengung gelang es ihm Zwiespalt gegen den Flugwind durch den farblosen Schuppenpanzer des Wächters zu stoßen. Ein stimmloses Fauchen. Ein ruckartiges Bocken. Faust, der das lange Rückenhaar noch immer fest im Griff hielt, rutschte vom Rücken des Drachen. Dann ein Ruck in die entgegengesetzte Richtung: Ein Zahn, messerscharf und glasig wie aus Eis, blitzte einen Fingerbreit vor seinem Gesicht auf. Die perfekte Gelegenheit. Ritschhh. Glatt – beinahe sanft – trennte Zwiespalt den schillernden Drachenkopf vom Rumpf. Die transparenten Schwingen des Bezwungenen verharrten abrupt… und wickelten sich wie Totenschleier um die Gestalt des in die Tiefe stürzenden Leichnams. So erhaben wirkte der fallende Drache, selbst noch im Tod, dass es Faust beinahe leid um ihn tat.
„Schnell, in den Drachenschlund!“
Winter stob von oben heran und zog ihn mit sich in den Abgrund. Die anderen hatten das Portal in der Tiefe bereits durchschritten. Als er hoch sah, erkannte er, weshalb sie ihn so drängte. Drachen! Sie kamen von allen Seiten! Rote, blaue, grüne, schwarze und weiße Drachen. Mehrköpfige Drachen. Drachen mit Teufelsköpfen. Die Wächter zu Tiamats Reich! Aufregung und Triumph pochten wild in seinen Adern. Natürlich wäre es Wahnsinn, sich ohne Grund mit dem Heer der Drachengöttin anzulegen…
Absoluter Wahnsinn…
Trotzdem verspürte er Bedauern, als er Winters Zaubergesang vernahm und spürte, wie sich die Dimensionen überlagerten.
Plötzliche Windstille.
Eine feuchte Grotte irgendwo in Tiamats Reich. Ein schlickiger Tümpel; in der Mitte eine Insel mit einem befestigten Turm: der Ort, den der Aufspürungszauber Winter gezeigt hatte. Wenn Jebelam die Wahrheit gesagt hatte, würden sie hier den Besitzer der Schwertscheide finden… und hoffentlich die verstoßene Kurtisane.
„Bei Veiros‘ Ungestüm!“ Der Steg am Rande der Grotte war so schmal, dass Grimwardt beim Teleportieren im Wasser gelandet war. Seine Zornader pochte, als er an Land stapfte. „So ein Irrsinn, Tiamats Reich durch den Haupteingang zu betreten!“, brummte er.
Ein Blick in die Runde verriet Faust, dass der Kraftodem des Drachen sie alle an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Aber nichts, das Miu nicht wieder richten konnte.
„Hat doch geklappt.“
„Bis jetzt. Wenn wir durch unser Treiben nicht Tiamat persönlich aufgeweckt haben!“
Es hieß, die Drachenkönigin habe fünf Köpfe und dass sie schon mit einem einzigen ein ganzes Menschenreich auslöschen konnte. Die chromatischen Drachen verehrten Tiamat als Göttin, als ersten Drachen der Schöpfungsgeschichte. Hier unter dem Totengebirge von Avernus, wo die Macht Baators endete, hatte sie sich vor Jahrtausenden ihren Hort gegraben… ein sicheres Versteck für eine verstoßene Baatezu. Da Tiamats Reich eine eigenständige Ebene bildete, hatten die Gefährten erst das Portal, den Drachenschlund, durchschreiten müssen, um hierher zu gelangen.
„Solange wir ihre Schätze in Ruhe lassen, wird sie sich kaum für uns interessieren“, wusch Faust die düsteren Beschwörungen des Priesters beiseite. „Außerdem…“ Er wollte noch etwas hinzufügen, als der Tümpel hinter Grimwardt plötzlich lebendig wurde.
„Zur Seite!“
Drei scheußliche, pechschwarze Köpfe, halb Drache und halb Teufel, schnellten aus dem Wasser. Sie zischten und gurgelten etwas in der Sprache Baators, das nicht eben nach einem Willkommensgruß klang. Faust riss Tyrail, der neben ihm stand, mit sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment waren beide vollständig umhüllt vom ätzenden Odem der dreiköpfigen Kreatur. Fausts magische Rüstung wehrte die Säureangriffe ab, doch Tyrails schrille Schreie sagten ihm, dass der Elf dem Angriff schutzlos ausgeliefert war.
„Winter, in den Turm!“
Sie waren zu erschöpft für einen weiteren Kampf. Keine Zeit für einen Plan. Keine Zeit darüber nachzudenken, ob auf der Insel noch Schlimmeres auf sie lauerte. Wo blieb Winters Teleportationszauber? Faust erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, konzentriertes Murmeln, ein leichtes Stirnrunzeln, ein stummer Kampf. Vermutlich ein magischer Schutzwall. Während Winter ihren Kampf gegen den unsichtbaren Gegner ausfocht, versuchte Faust den halb bewusstlosen Tyrail aus der Angriffslinie des Teufelsdrachen zu zerren. Drei weitere Säurestrahlen trafen Miu und Grimwardt, doch die kleine Karaturianerin wich den Angriffen geschickt aus und Grimwardt war seit seiner Rückkehr aus dem Totenreich so gut wie unzerstörbar.
Kurz darauf umfing sie Finsternis. Erst als Winter ein magisches Licht beschwor, erkannte Faust schwach die Umrisse eines klammen Gemäuers: das Erdgeschoss des Turms. Eine morsche Treppe. Kein Geräusch bis auf Tyrails Stöhnen und das schnelle Atmen der anderen.
„Lady Baalphegor?“
Faust ließ wachsam den Blick schweifen, während sich Miu um Tyrail kümmerte, dessen Haut sich in Fetzen vom Körper gelöst hatte. Kein Zweifel – einige Baatezu waren vor Kurzem noch hier gewesen; das sagte ihm der Schwefelgeruch. Doch wie viele? Und war sie unter ihnen?
Ich bin gekränkt. Statt mir ein anständiges Tötungskommando zu schicken, speist mich Mephisto jetzt schon mit einer Handvoll sterblicher Kopfgeldjäger ab.
Baalphegor! Ihre telepathische Nachricht triefte vor Zynismus und Misstrauen. Faust hob die Hände zum Zeichen, dass sie in Frieden kamen. Womöglich wog sie gerade ab, ob sie fliehen oder den Kampf wagen sollte. Sie waren zu fünft und sie musste einen kleinen Eindruck ihrer Stärke gewonnen haben, als Winter ihr Dimensionsschloss gebannt hatte. Andererseits waren sie angeschlagen und erschöpft und wussten nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Solange sie sich nicht zeigte, war Baalphegor auf der sicheren Seite, denn solange konnte sie niemand am Fortteleportieren hindern.
„Wir sind keine Kopfgeldjäger“, sagte Grimwardt. „Wir sind auf dem Weg nach Cania, um eine Seele zurückzufordern, die zu Unrecht hier gelandet ist.“
Sind sie das nicht alle?
Der Kriegspriester ignorierte die spitze Bemerkung
„Wir haben nach Euch gesucht, weil wir hofften, dass uns jemand, der mit den canianischen Gepflogenheiten bekannt ist, dabei behilflich sein könnte, an Mephistos Hof zu gelangen. Auf diskrete Weise, versteht sich.“
„Wir brauchen gefälschte Kultistenscheine, um über den Styx zu reisen“, übersetzte Faust nüchtern. „Und Ihr hättet Gelegenheit, Mephisto eins auszuwischen.“
Dezentes Spottgelächter.
Diskret, sagt ihr? Ihr seid so diskret wie eine Gruppe Archonen in der Blutschlucht. Jeder Imp kann erkennen, dass die Seele des Priesters bereits einem anderen Herrn versprochen ist – er stinkt förmlich nach dem Jenseits! Ihr würdet nicht einmal als Kultisten durchgehen, würdet ihr Mephistos Ehrenmal tragen.
„Nicht nur die äußere Gestalt lässt sich durch Magie verschleiern“, bemerkte Faust. „Lasst das unsere Sorge sein.“
Wie habt ihr mich hier gefunden?
Zur Erklärung hielt Winter die Schwertscheide in die Höhe.
Ein sanftes Rascheln, ein kurzer Wortwechsel auf Infernalisch und ein ersticktes Röcheln aus dem ersten Stock. Im nächsten Moment rollte den Gefährten, träge von Stufe zu Stufe platschend, der abgetrennte Kopf eines Höllenschlundteufels vor die Füße. Alles klar, sie hatte verstanden. Nach diesem blutigen Prolog folgte Lady Baalphegors eigener Auftritt: In schwarze, fedrige Tücher gewandet, die ihren makellosen, bronzenen Körper umschmeichelten, rauschte sie die morsche Treppe herab wie in einen Ballsaal, die Schwingen halb geöffnet: wachsam, warnend, auf dem Sprung. Faust spürte, dass die herablassende Belustigung in ihren rubinroten Augen ihre Furcht kaschierte. Irritierender Weise fühlte er sich an seine Mutter erinnert. Es war wohl diese Mischung aus trotzigem Stolz und schlichter Dramatik... Auf der Hälfte der Treppe hielt sie inne.
„Schön“, sagte sie scheinbar desinteressiert. „Was wäre euer Angebot – angenommen, ich würde das Risiko auf mich nehmen?“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Ihr wärt wohl nicht hier, wenn ihr nicht den ein oder anderen Feind am canianischen Hof hättet…“
„Hm.“ Ein bitteres Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel. „Eine Laune. Davon hat Mephisto nicht wenige“, sagte sie leichthin. „Eine Eitelkeit. Schließlich ist das kleine Halbblut-Flittchen sein Geschöpf. Trotzdem… Seine Entscheidung mich aus Cania zu verstoßen war ein wenig… extrem.“ Sie schwieg lange und spielte gedankenverloren mit ihren messerspitzen Fingernägeln. Unter dem Schleier ihrer Unberührtheit spürte Faust flammenden Zorn.
„Einmal pro Höllenjahr gibt Mephisto ein Fest für seine sterblichen Anhänger, das einen Seelenzyklus lang wärt“, sprach sie schließlich. „In einem Monat ist es wieder soweit. Er hat eine gewisse Faszination für euresgleichen. Ich kenne das arkane Siegel, mit dem er die Einladungen kennzeichnet, doch er fügt jedes Jahr eine neue Komponente hinzu. Einem einfachen Amnizu-Bürokraten wird der Schwindel nicht auffallen, aber vor den Verwaltern am mephistotelischen Hof solltet ihr euch in Acht nehmen. Ich verlange ein Pfand von 200.000 Gold für meine Bemühungen. Keine Verhandlungen.“ Plötzlich war ihre Stimme von Eisdornen durchsetzt. „Sollte ich in absehbarer Zeit Kunde erhalten, dass der reizende Kopf dieses Halbbluts in den Wassers des Styx vor sich hin rottet, mögt ihr die Garantie zurückfordern.“
Faust pfiff durch die Zähne. 200.000 Gold. Das war selbst für ihre Verhältnisse kein Klacks. Sie würden einige äußerst wertvolle Gegenstände verpfänden müssen, um den Betrag zusammenzukratzen.
„Ich dachte hier unten würden solche Geschäfte mit Pakten geregelt“, meinte er misstrauisch.
Ärger flammte in ihren rubinroten Augen auf. „Ihr vergesst meine Situation“, zischte sie gepresst. „Ich falle aus der Hierarchie und damit auch aus der Jurisdiktion Baators.“
Trotz des horrenden Pfandes gingen die Gefährten auf den Handel ein. Nicht einmal Grimwardt und Miu protestierten gegen den Mordauftrag. Hier unten galten andere Gesetze.
„Wartet“, bat Faust, als die Baatezu sich zurückziehen wollte, um ihren Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich. „Noch eine Frage… Kennt ihr einen Halbteufel namens Lord Ares, der an Mephistos Hof verkehrt?“
Er spürte die Blicke der anderen und wich ihnen aus. Nachdem er von Omega erfahren hatte, welchem Erzteufel sein Vater seine teuflische Karriere zu verdanken hatte, hatte er seine Nachforschungen auf Cania fokussiert.
Baalphegor musterte ihn mit neu gewecktem Interesse.
„Es gibt nicht viele, die den Schwarzen Phönix unter diesem Namen kennen“, bemerkte sie. Faust musste schlucken. Es bestätigte nur, was er bereits selbst herausgefunden hatte. Aber es aus dem Mund eines Teufels zu hören, machte es auf eine Art real, die ihm Brechreiz verursachte.
„Er ist so etwas wie Mephistos rechte Hand. Ein weiterer Emporkömmling mit sterblicher Blutlinie“, fügte Baalphegor in säuerlichem Tonfall hinzu. „Irgendwann wird diese perverse Leidenschaft Mephisto noch das Genick brechen…“
Grimwardt
Maladomini, Siebter Höllenkreis, drei Wochen später.
Grimwardt fluchte gedämpft und schüttelte zum dritten Mal an diesem Morgen einen Klumpen verstümmelter Seelen von seinem Paddel, die wimmernd die flehenden Ärmchen nach ihm ausstreckten. Es war nicht immer so schlimm wie heute; vermutlich befanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt: Die Seelen wurden verzweifelter, je näher der Styx sie den Seelenseen zutrieb. Ungehalten begann der Priester schneller zu paddeln, was Tyrail, der das zweite Ruder bediente, aus dem Takt brachte. Der Elf versteifte sich und seine Kiefermuskeln knirschten. Seine eisige, wortlose Verachtung war geradezu körperlich - wie Gliederschmerzen oder zu dünne Luft. Grimwardt fragte sich, wer von ihnen zuerst explodieren würde!
„Faust, tausch die Plätze mit Tyrail!“, knurrte er. Immerhin war es Faust, dem sie diese charmante Gesellschaft zu verdanken hatten. Genaugenommen hatte er ihnen überhaupt diesen ganzen Schlamassel erst eingebrockt.
„Ruhig, Mann.“
Stirnrunzelnd blickte der Angesprochene von dem Buch auf, das er aus Rabenklippe mitgenommen hatte: die Chronik der Neun Schwerter. Die Aufzeichnungen reichten bis zu den Tagen der ersten Ordensgeneration zurück. Jede freie Minute verbrachte Faust damit, die Erlebnisse der Gefährten darin festzuhalten. Offenbar so eine Art Therapie, die ihn davon abhielt, irgendwem an die Gurgel zu springen. Nicht einmal den unspektakulären Kampf gegen die Amnizu-Zollwärter des dritten Höllenkreises, die ihre Kultisten-Maskerade durchschaut hatten, hatte er ausgelassen. Und gerade war er dabei, in allen Einzelheiten ihre Begegnung mit zwei listigen Xerfilstyx zu schildern, Flussteufeln, die ihr magisches Faltboot gebannt und den Gefährten eine unfreiwillige Abkühlung beschert hatten. Sie Seelen hatten Miu in die Tiefe gezogen und der Styx hatte ihr für kurze Zeit ihr Gedächtnis geraubt. Schon jetzt nahm Fausts Erzählung so viele Seiten ein wie für ein ganzes Jahrhundert vorgesehen waren. Wenn er so weitermachte, würde er die letzte Seite der Chronik erreichen, ehe sie in Cania ankamen.
Faust schrieb in der Ordenssprache Shou, doch Grimwardt entschlüsselte die fremden Schriftzeichen mühelos. So mühelos, dass ihm nicht einmal Fausts lausige Grammatik entging. Diese erstaunliche Sprachbegabung war nur eine der Fähigkeiten, die er seinem Tanz mit dem Tod verdankte. Seine Verbindung zu Kriegersruh war so stark, dass er manchmal auf Celestisch träumte. Nein… geträumt hatte. Die Hölle hatte seine Verbindung zu Tempus unterbrochen. Hatte den Teil seiner Seele, den er in Kriegersruh zurückgelassen hatte, den Teil, der eins war mit seinem Gott, von ihm abgeschnitten. Tempus hatte keine Macht in Baator. Die Leere war zermürbend. Wie sollte er sich selbst trauen ohne Tempus‘ Nähe? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich die scheußliche schwarze Kutte vom Leib reißen und das blasphemische Symbol um seinen Hals in den Styx schleudern wollte. Missfiel Tempus die Maskerade? Sollte er offen zeigen, wer er war, ungeachtet der Konsequenzen? Früher hätte er nicht gezaudert. Er hätte die Antwort schlicht und einfach gewusst.
Sei kein Narr. Er wollte, dass du herkommst, um diese Axt zu finden.
Grimwardt schalt sich selbst für seine Reizbarkeit. Der Styx hatte seine Gedanken vergiftet. Schlimm genug, dass Winter und Miu dem Bann des Seelenflusses erlegen waren. Jedes Mal, wenn er seine Schwester ansah – mit den tiefen Schatten im Gesicht und diesem kranken, unnatürlichen Glitzern in den Augen – spürte er einen erstickenden Kloß im Hals. In seinen Träumen klammerte sie sich um Hilfe flehend an sein Paddel und ihr Körper war nur noch ein Klumpen aus Seelenmasse… Grimwardt schauderte. Mius Augen dagegen waren leer, wie ausgelöscht, ihre Bewegungen zombiehaft. Seit sie in den Styx gefallen war, musste man sie immer wieder davon abhalten, sich dem Wehklagen der Seelen hinzugeben und die Arme nach den missgestalteten Kreaturen im Wasser auszustrecken. Grimwardt war sich nicht sicher, ob sie die Verdammten retten oder sich mit ihnen ins Vergessen stürzen wollte…
Plötzlich wurde das Boot von heftigem Schwanken erfasst.
„Relosecoon!“
„Was zum…? Tyrail!“
Tyrail hatte sich aufgerichtet und stach wild auf etwas im Wasser ein. Grimwardt hatte Mühe, das Boot im Gleichgewicht zu halten. Dann kam Faust hinzu gestürzt, griff mit beiden Händen zu und zerrte das klitschnasse, wild um sich schlagende Etwas ins Boot. Die Kreatur war etwa so groß wie ein Elf mit spindeldürren Gliedmaßen, einem krötigen Buckel, Schwimmhäuten zwischen Händen und Zehen und bösartig funkelnden Glubschaugen. Ein Xerfilstyx. Verflixte Biester.
„Endlich hab ich dich, Missgeburt“, zischte Tyrail.
„Endlich?“
„Er folgt uns schon seit heute Morgen.“
„Aha.“ Faust verschränkte die Arme. „Danke für die Warnung!“
„Im Gegensatz zu dir richte ich meinen Blick auch hin und wieder auf das, was vor uns liegt!“
„Hm. Mir schien’s eher so, als ob du mehr mit der Vergangenheit beschäftigt wärst.“
Oh bei den Hallen der Helden.
„Genug!“, schnaubte Grimwardt und drängte sich zu dem Teufel durch. „Wo hast du uns zum ersten Mal aufgelauert?“
„Pfff!“ Er zog eine Grimasse und entblößte dabei ein Fischmaul voller messerscharfer Zähne. „Ich bin euch schon seit Dis auf den Fersen!“
Grimwardt wechselte einen Blick mit Faust und Tyrail. Zeitgleich sangen ihre Waffen. Lass niemanden am Leben! Die kleine Kröte wusste ganz offenbar zu viel über sie!
„Halt!“, protestierte der Flussteufel. „Es wird euch nicht helfen, wenn ihr mich tötet! Mein Herr weiß ohnehin schon über euch Bescheid! Telepathisches Band.“ Er tippte dreimal gegen seinen Schädel.
Grimwardt hielt inne.
„Wer ist dein Herr?“, fragte er schroff.
„Baalzebul, Fürst des Siebten Höllenkreises, kein Geringerer“, sagte die Kröte mit geschwollener Brust. „Er ist sehr an euch interessiert und will euch treffen. Wenn ihr mich am Leben lasst, kann ich euch zu ihm führen.“
„Und worin besteht sein Interesse?“, fragte Grimwardt mit tödlicher Ruhe.
„Naja… fünf mächtige Sterbliche, die sich mit einem Legionsgeneral anlegen, die Portalstadt aufmischen und nach der verstoßenen Geliebten des Mephistopheles suchen?“
Jebelam, dieses verdammte Miststück!
Der Flussteufel grinste ihm dreist ins Gesicht. „Wäre ich Mephisto, würde ich mir da Sorgen machen. Wäre ich Mephistos Erzfeind, würde ich eine Chance wittern!“
Hm. Da war was dran. Es war kein Geheimnis, dass der Herr der Fliegen nach dem Thron von Cania trachtete. Die Seelenfehde zwischen Baalzebul und Mephisto war legendär. Grimwardt beriet sich kurz mit Faust, doch sie waren sich schnell einig.
„Also dann, Kröte“, knurrte Faust.
„Mein Name ist Iphores!“
„Flores? Hast wohl nicht viele Freunde, hm? Naja. Wenn das eine Falle ist, bist du jedenfalls dran, Blümchen, kapiert!“
„Iphores!“
Faust grinste.
Winter
Malagard, Hauptstadt des Siebten Höllenkreises, wenig später.
Sie wankte durch ein Labyrinth verfallener Korridore. Schmutzkrusten bedeckten die einst prachtvoll vertäfelten Wände. Breite Schleimspuren zogen sich über den Boden und streiften Bilderrahmen und Kerzenständer. Maden suhlten sich in den Schleimpfützen und unter den süffigen Teppichen zog kriechend etwas Lebendiges seine Bahnen. Und dann der Gestank – so penetrant und greifbar, dass er alles und jeden in diesem Palast in eine Blase der Schwermut hüllte.
Ein weiterer Albtraum? Sie war sich nicht sicher.
Seelen. Überall Seelen. Wehklagende Totgeburten, die sich wie die Maden vor ihr wanden und sie anflehten, sich an ihnen zu laben. Aber sie konnte nicht. Es waren geerntete Seelen, stumme Seelen, wertlos für ihre Zwecke. Unmöglich diese toten Klumpen in Schattenmagie zu verwandeln. Sie hatten keine Seelenmelodie, keinen Schatten. Dafür klang die Seelenmelodie ihrer Gefährten wie Hohn in ihren Ohren. So schmerzlich verführerisch, dass es sie in den Wahnsinn trieb. Die Visionen, in denen sie Tyrail in eine dunkle Gasse lockte und seinen Schatten trank, waren so real, dass sie manchmal erschrak, wenn sie neben ihm im Boot aufwachte. Der Mistkerl hätte es verdient. Bei den Göttern, wie er es verdient hätte!
Iphores führte sie zu einer breitflügigen Doppeltür, wo ihnen zwei Teufel mit Chitinpanzern und Insektenflügeln die Waffen abnahmen. Durch einen dichten Nebel nahm Winter wahr, wie man ihr die Zauberstäbe abnahm. Dann öffneten sich die Flügeltüren zu einem fensterlosen Raum, spärlich von Kerzenlicht erleuchtet. Der Schleier der Schwermut war hier am stärksten. Der Boden war so schleimig, dass er das Gehen zu einem beschwerlichen und trägen Kraftakt machte. In der Mitte des Raumes harrte Baalzebul, der drittmächtigste Erzteufel Baators. Der Herr der Fliegen. Der Prinz der Lügen.
Eine riesige, fette Schnecke.
An den Wänden standen und hingen Spiegel in allen Formen und Größen. Doch diejenigen, die nicht völlig von Schmutz und Schleim bedeckt waren, zeigten nicht etwa die fette Schnecke mit dem Säuglingsgesicht und den kurzen, speckigen Ärmchen, sondern einen wunderschönen Engel.
Winter blinzelte. Nein, Albträume waren nicht so… erbärmlich.
Sie versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die von den schwulstigen Lippen der Schnecke tropften wie Honig. Oder Gift. Aber ihre Gedanken glitten immer wieder zu den Spiegeln. Der Engel und das Ungeheuer. Wie lange würde es dauern, bis sie ihre eigenen Spiegel bezaubern musste, um nicht ihre verkrüppelte Seele darin gespiegelt zu sehen.
Scheiße, ich brauche wirklich einen Schatten.
Irgendwie waren die Worte, die der Herr der Lügen ihnen mit seiner Eunuchenstimme ins Ohr säuselte, wohl wichtig für ihre Mission. Doch die Bilder von dunklen Gassen und süßen, süßen Seelen schmuggelten sich immer wieder in seinen Redefluss. „…Spione in Mephistar… ungeheuerliche Vermutungen… Mephistos Betrug an seinem Herrn und Gott… Sturzversuch… Zauber, mit dem er Asmodeus seiner Göttlichkeit berauben will, um die Herrschaft über die Neun Höllen an sich zu reißen… Brauchen Beweise… Bringt mir Beweise!... Asmodeus‘ Belohnung… Mephistos Untergang… Cania wird mein sein… Wenn ich erst Herr von Cania bin, sollt ihr die Seele haben, die ihr begehrt!... Ich verspreche euch Omegas SEELE!“
Ein verzweifeltes Glucksen stolperte über Winters Lippen. Wenn sie Omegas Seele tatsächlich befreien sollten, wäre das erste, was sie täte, sie mit Haut und Haar zu verspeisen! Niemand würde sie davon abhalten können.
Reiß dich zusammen. Denk nach.
Irgendwo in diesem verflixten Reich musste es Seelen geben. Echte Seelen. Unbefleckte Seelen. Kerker! Natürlich! Fürchtete nicht jedes Kind auf Faerûn die Kerker der Hölle? Die Stätten des Bösen? Wo die Teufel immer neue Foltermethoden ersannen, um jene Sterbliche zu bezwingen, die sich dem Bösen nicht fügen wollten? Beinahe hätte sie vor Aufregung aufgequiekt. Jetzt musste sie nur noch an so eine Kerkerseele herankommen. Während die anderen mit Baalzebul verhandelten, löste Winter unauffällig ihre Komponententasche vom Gürtel und schob sie mit dem Fuß hinter einen der Spiegel.
„Winter?“
Erschrocken fuhr sie zusammen. Grimwardt. Hatte er etwas bemerkt?
Stirnrunzelnd hielt er ihr eine Schreibfeder und einen Dolch hin und wies auf die Schriftrolle, die sich vor ihr in der Luft entrollte.
„Unterschreibst du nun, oder was?“
Erleichtert nahm sie die Feder und den Dolch entgegen. Ein Höllenpakt. Verdammt, wieso hatte sie nicht mitbekommen, dass die Verhandlungen schon so weit voran geschritten waren? Eilig überflog sie das Schriftstück: „Die sterblichen Paktierenden verpflichten sich… bla bla bla… bei Sicherstellung von Beweisen und Indizien dafür, dass Mephistopheles, Herr des Achten Höllenkreises, den Sturz seines Herrn Asmodeus plant, diese unverzüglich und ohne Einweihung Dritter Baalzebul, Herrn des Siebten Höllenkreises, zu übermitteln. Letzterer verpflichtet sich seinerseits genannte Beweise zur Überprüfung an Asmodeus weiterzuleiten. Sollte sich durch diese Bemühungen eine Umverteilung der Machtverhältnisse Baators ergeben und Baalzebul zum Herrn des Achten Höllenkreises ernannt werden, so verpflichtet er sich die Seele Omegas, verstorbene Anführerin der Neun Schwerter, aus ihrem Pakt zu entlassen und bis auf Weiteres auf alle Ansprüche Canias auf diese Seele zu verzichten.“
Grimwardt und Faust hatten den Wisch bereits unterzeichnet. Wenn sie das Ding abgesegnet hatten, musste die Sache ja wohl wasserdicht sein, oder? Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, schnitt sich Winter mit dem Dolch in die Handfläche und unterzeichnete den Pakt mit ihrem Blut, wie es Brauch war.
Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie sich verabschiedeten. Als sie sich auf dem Rückweg durch den Palast befanden, blieb sie abrupt stehen und tastete mit gespieltem Schrecken ihren Gürtel ab.
„Oh, verdammt! Ich habe meinen Komponentenbeutel da drin vergessen!“
Grimwardt musterte sie mit skeptischem Blick.
„Du hast noch nie was vergessen“, brummte er.
„Es gibt für alles ein erstes Mal!“, spielte sie die Eingeschnappte und eilte den Gang zurück zu Baalzebuls Spiegelsaal, bevor irgendwer anbieten konnte, sie zu begleiten.
„Ich brauche eine Seele!“ Sie verabscheute sich selbst für das Flehen und die Verzweiflung in ihrer Stimme, aber sie war zu erschöpft, um ausgerechnet dem Herrn der Lügen etwas vorzugaukeln.
Baalzebul kroch aus dem dunklen Winkel, in den er sich zurückgezogen hatte, musterte sie aus winzigen Augen und schlug wehmütig die speckigen Hände zusammen. Sein tiefes Seufzen klang mitleidig und verursachte ihr Übelkeit.
„Ihr… Ihr habt gewiss Seelen, für die Ihr keine Verwendung habt… Sterbliche, die… Eure Gastfreundschaft nicht zu schätzen wissen. Ich bin nicht wählerisch. Und meine Gesundheit käme schließlich auch Euch zugute!“
„Ich verstehe deine Seelenqual, hübsches Kind“, flötete die fette Schnecke. „Aber du weißt gewiss, dass hier in Baator alles seinen Preis hat. Auge um Auge. Seele um…“
„Meine Seele kann ich euch nicht geben."
Ein träges Lächeln suhlte sich auf seinem Gesicht.
„Ich fürchte, da hast du recht. Deine Seele gehört dir nur noch zu Teilen, hm? Und wenn unser Plan Erfolg hat, gehen diese Anteile ohnehin an mich über.“ Seufzend betrachtete er sein falsches Spiegelbild und Winter war sich nicht ganz sicher zu wem von ihnen er sprach. „Aber du hast Glück, hübsches Kind. Es gibt etwas, das ich beinahe noch mehr schätze als Seelen – und das ist Wissen… Iphores ist ein guter Junge. Er hat mir vieles berichten können über euer illustres Grüppchen. Doch ich glaube, da ist vieles, worüber ihr auf eurer Reise nicht gesprochen habt und was kein Zauber aufzudecken vermag. So viele mysteriöse Verbindungen, so viele Geheimnisse.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Eine Seele für eine Geschichte, ich denke, das ist ein fairer Preis.“
Einen Moment lang war Winter versucht, in den Handel einzuschlagen. Doch plötzlich durchschaute sie sein Spiel. Nicht weil er sich durch irgendeine Geste, irgendein falsches Wort, verraten hätte, sondern weil er… Sie hasste, es zuzugeben, aber er war ihr selbst nicht unähnlich. Baalzebul war verflucht. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht auf magische Weise verbergen, was er war: Die Hässlichkeit seiner Seele stand ihm wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte Einfluss darauf, welchen Aspekt seiner Seele er seinem Gegenüber zeigte. Und er hatte sich für den erbärmlichen, den schwermütigen, den ungefährlichen Aspekt entschieden… Wer konnte schon sagen, für welche kranken Rituale er diese Informationen brauchte. Hier ging es nicht nur um sie, sondern um ihre Freunde.
„Nein“, flüsterte Winter. „Das kann ich nicht tun.“
Für eine Weile ließ er seinen melancholischen Blick auf ihr ruhen, ehe er bedauernd die Hände rang.
„Das ist schade, wirklich schade.“ Dann plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, trat ein anderer Ausdruck in seine Augen: schlau und berechnend und durch und durch böse, als er sagte: „Gute Reise, hübsches Kind.“
Als Winter kurz darauf wankend den Raum verließ, war sie nicht mehr so sicher, was Wirklichkeit und was Spiegelbild war…