Kapitel IV: Herrin der Träume
Winter
Am Abend im Stadtpalais der Familie Urdo.
Ein als Harlekin Maskierter öffnete den Gefährten die Tür, prüfte ihre Einladung, und bat sie mit dramatisch unheilvollen Gesten ins Haus. Zum Anlass des Abends hatten sich die Gefährten an Winters Verkleidungskiste gütlich getan – wenn es auch einiger Überredungskunst bedurft hatte, Miu balltauglich zu machen. Die genügsame Karaturianerin übertraf selbst Grimwardt in ihrem Mangel an Verständnis für derlei dekadenten Schnickschnack. Und sie hatte ein verstörendes Talent dafür, ihren „Peinigern“ mit Blicken Gewissensbisse einzubrennen: Nie hatte sich Winter bei dem Versuch, jemandem ein wenig Gesichtspuder aufzutragen, mehr wie ein Scharfrichter gefühlt.
Der Ballsaal war an den Wänden mit purpurnen Samtteppichen drapiert und ein paar silberne Kandelaber spendeten dämmriges Licht. Maskierte Ballgäste mit gepuderten Perücken und schwarzen Samtlarven standen in kleinen Grüppchen beisammen und erfüllten den Saal mit ihrem affektierten Gelächter, während Diener in schwarzen Livreen für das leibliche Wohl sorgten. Die Luft war erfüllt von einem einlullenden Duftcocktail aus Opium und Patchouli und von irgendwoher drangen die sanften, schwermütigen Klänge einer Harfe. Das Zwielicht und die Masken machten es unmöglich, zwischen Menschen und Blutsaugern zu unterscheiden, doch Winter hatte eine vage Vorstellung davon, was sich im Laufe der Nacht in den schattigen Fensteralkoven und heimlichen Sitznischen abspielen würde, wenn erst der Wein und die aphrodisierende Atmosphäre die Unvorsichtigen in die Arme ihrer Gastgeber trieben. Dennoch entfuhr der Diebesmeisterin ein sehnsüchtiger Seufzer, als sie all das lasterhafte Treiben um sich herum betrachtete. Wie lange war es her, seitdem sie selbst sich solch süßen Ausschweifungen hingegeben hatte? Wurde sie langsam zu alt für die leiblichen Freuden des Lebens? Verstohlen betrachtete sie sich in einem der mannshohen Wandspiegel: das wallende rote Haar, der schlanke Hals, die smaragdgrünen Augen… alles, wie es sein sollte. Aber waren nicht ihre Wangen ein wenig eingefallen? Hatten der Kummer und die Sorgen der letzten Monate diese dunklen Ringe unter ihre Augen gezeichnet? Und waren das etwa Krähenfüße, die sich dort in ihren Lidfalten abzeichneten? Winter erschauderte.
„Keine Zeit für Eitelkeiten“, raunzte Grimwardt und zog sie weiter. „Wir haben eine Verabredung.“
„Da sind ja unsere Ehrengäste“, ließ eine wohlbekannte Knabenstimme die Geschwister herumfahren.
Fausts Hand fuhr an den Knauf seines Schwerts und Winter hatte bereits einen Zauberspruch auf den Lippen, doch ihre Wachsamkeit verstärkte nur das süffisante Honigkuchen-Lächeln auf den Lippen des Kindvampirs. Müßig zupfte der sadistische kleine Lockenschopf ein paar Takte auf seiner Laute, um die Angespanntheit seiner Gäste auszukosten, ehe er sie mit sanfter Schlafwandlerstimme bat, ihnen zu folgen. Lauernd verfolgte Winter jeden Schritt des Knaben, während die Freunde ihm eine ausladende Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses folgten. Falls er sie in eine Falle zu locken versuchte, so waren sie bestens gerüstet: Die Ohrstöpsel waren nur der Anfang. Bevor sie hergekommen waren, hatten sie eine wahre Schutzzauber-Orgie veranstaltet. So eine Schlappe wie vor acht Jahren in der Purpurnen Lady würde ihnen kein zweites Mal passieren.
Der Vampir führte sie in einen Raum in orientalischem Stil mit allerlei Diwanen, exotischen Wandbehängen und leise klirrenden Windspielen. Dann schob er einen seidenen Vorhang beiseite und enthüllte drei Maskierte, die im Schneidersitz auf einem Kissenlager hockten: eine blasshäutige Adlige mit blasiertem Wimpernaufschlag und pompöser Barockperücke, ein aufgedunsener Kahlkopf in schweren Samtroben, der an jedem seiner fettigen Wurstfinger einen juwelbesetzten Ring trug, und ein Halbdrow, dessen blassrote Augen scharf hinter den Larvenschlitzen hervorstachen. Ein vierter Vampir in Knochenrüstung stand bewegungslos wie ein eherner Wächter im Hintergrund. Die Augen des Vampirknaben leuchteten auf, als er die Frau erblickte. Unterwürfig kniete er sich ihr zu Füßen.
„Candide.“ Gönnerhaft strich die Vampirin dem Jungen über die braunen Locken. „Da sind ja unsere Gäste. Sei doch so gut und bring uns etwas Wein und dann spiel uns etwas Schönes auf der Laute.“
Schweigend belauerten sich beide Parteien, während Candide davoneilte, um dem Wunsch seiner Herrin zu entsprechen. Doch die Gefährten hüteten sich, von dem Wein zu kosten, den der Knabe ihnen einschenkte. Die Vampirfürstin lachte affektiert, während der Rest des Gruselkabinetts keine Miene verzog.
„Keinen Durst?“, fragte sie spöttisch.
Winter bedachte den kleinen Seitenhieb mit einem düsteren Lächeln. Mit vergiftetem Wein hatte der Wirtshausbesitzer der Purpurnen Lady sie seinerzeit auszuschalten versucht. Sie hatten ihn vernichtet, waren jedoch am unterirdischen Labyrinth der Vampirkrypten gescheitert.
„Welch krude Zurückweisung unserer Gastfreundschaft“, stichelte die Vampirfürstin weiter. „Wo wir doch im Gegensatz zu Eurem letzten Besuch denselben Feind bekämpfen, wie es mir scheinen will.“
„Und wer soll das sein?“
Die Vampirin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
„Das wisst Ihr nicht?“ Sie führte forsch ihr Weinglas an die Lippen, dessen Inhalt zu zähflüssig für Rotwein war. „Dann seid Ihr nicht hier, um den Schöpfer der Albinoklone zu stellen? Dafür schient Ihr diesen liederlichen Geschöpfen aber ein lebhaftes Interesse entgegen zu bringen nach allem, was Candide mir berichtete. Und auch der Umstand, dass Euer erstes Auftauchen in der Stadt vor acht Jahren mit dem Erscheinen der ersten Klone zusammenfällt, will mir nicht wie ein Zufall erscheinen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wer soll das sein, der Schöpfer der Klone?“
„Kein geringerer als Orlak III., Nachkönig von Westtor.“
Schon damals hatten die Gefährten vermutet, dass die Marilith, die Drake angegriffen hatte, um Komponenten für einen Klonzauber zu beschaffen, für den Vampirführer der Nachtmasken arbeitete. Aus diesem Grund waren sie überhaupt erst nach Westtor gekommen. Aber was hatte in der Zwischenzeit den vampirischen Adelsstand gegen den Nachtkönig aufgebracht?
„Und seit wann ist Orlak III. unser gemeinsamer Feind?“, sprach Grimwardt aus was sie alle dachten.
„Seit er aufgehört hat, sich an den Kodex zu halten“, erwiderte die Sprecherin des Blutsauger-Quartetts und ein unterschwelliges Knurren, das gar nicht zu ihrem damenhaften Auftreten passen wollte, begleitete ihre Worte. „Seit zweitausend Jahren beherrschen die Nachtmasken die Unterwelt von Westtor. Wir sind die Seele dieser Stadt, die wir seit jeher aus dem Verborgenen regiert haben. Seht euch um! Die Nacht ist unsere Gefährtin und Shar unsere Schutzpatronin. Es ist nicht unsere Bestimmung ans Licht zu streben so wie Orlak es tut. Er hat einen Zauber entwickelt, mit dem es uns möglich ist im Sonnenlicht zu wandeln. Kein Sterblicher sollte je unsere wahren Gesichter sehen, doch er zeigt sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit. An der Seite von Thistle Thalavar, diesem armseligen Geschöpf. Er plant sie zu ehelichen und mit ihr die Krone des Cormakh. Er, der das Bluterbe von Orlak I. in sich trägt, will dieses sterbliche Flittchen von niederem Stand zu seiner Frau machen! Sollen wir diesen Verrat an uns etwa dulden? Hah, vermutlich ist er nicht einmal einer von uns! Es gibt Gerüchte, wonach Orlak III. in Wahrheit von einem Klon des Schwarzmagiers Manschoon besiegt wurde, der die Treue mit den Zhentarim hält.“
„Aber wozu braucht er die Klone?“, fragte Faust.
Natürlich wussten die Gefährten die Antwort: Um den Drachen Ashardalon in der Bastion der ungeborenen Seelen zu besiegen. Doch wie gelangte man in die Bastion? Wo befand sie sich? Und was wollte der Unsterbliche dort? Wussten die Vampire die Antwort auf diese Fragen? Doch die Gefährten wurden enttäuscht.
„Orlak erschuf sich eine Armee“, meldete sich der Kahlkopf mit säuselnder Eunuchenstimme zu Wort. „Um die Kontrolle über die Gilde an sich zu reißen. Er hat die Körper der Bleichen mit der Essenz seines Geistes erfüllt, sodass sie ihm in allen Belangen ergeben sind.“ Er lehnte sich zurück, und kostete mit geschürften Lippen von seinem Blutwein. „Das ergaben jedenfalls die Auswertungen seiner magischen Experimente. Die ersten Klone tauchten vor acht Jahren auf. Seither ist ihre Zahl stetig angestiegen. Als Orlak verschwand, gingen sie mit ihm, kehrten jedoch kurz darauf zurück, um an seiner Statt die Geschicke der Gilde zu leiten.“
„Dieser Halunke“, begehrte der Halbdrow auf, der sich bis jetzt in düsteres Schweigen gehüllt hatte. „Uns hätte dieses Vorrecht gegolten! Sich einfach über Jahrtausende alte Traditionen hinweg zu setzen, wie kann er…“
Der Eunuch legte beschwichtigend seine Wurstfinger auf den Arm des jähzornigen Vampirfürsten und das animalische Zucken des Halbdrow hörte ebenso abrupt auf wie es aufgetreten war.
„Orlak ist verschwunden?“, fragte Faust.
„Oh ja“, säuselte Kahlkopf. „Seit fast drei Monaten ist er wie vom Erdboden verschluckt. Kein Aufspürungszauber vermag ihn zu orten.“
Winter fuhr ein eisiger Schreck durch die Glieder.
Er ist bereits in der Bastion!
Eilig rechnete sie zurück. Fast drei Monate. Zweieinhalb Monate war es her, seitdem der Klon ihnen den Seelensplitter gestohlen hatte. Elijas’ Vater hatte den Stein einen Schlüssel genannt. Der Schlüssel zur Bastion! Das war der Grund, weshalb der Splitter die Stadt der Gläsernen Gesänge nicht hätte verlassen dürfen! Der Mythal der Elfenstadt hatte die Ortung des Steins Jahrhunderte lang verhindert. Erst als er mit ihnen die Stadt verlassen hatte, war es Orlak gelungen, den Schlüssel ausfindig zu machen. Mit einer ganzen Armee von Soleilon-Erben war er in die Bastion marschiert und hatte den Drachen besiegt!
Winter spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Es war ihre Schuld… wieder einmal! Es schien als habe das Schicksal sie in dieser Mission zum Scheitern verurteilt.
„Gibt es Anhaltspunkte?“, fragte sie. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatten der Diebstahl des Seelensplitters und das Verschwinden des Nachtkönigs gar nichts miteinander zu tun. Immerhin war die Welt noch nicht untergegangen…
„Ich habe sämtliche Aufzeichnungen des Nachtkönigs durchforstet“, erklärte der Eunuch und faltete selbstgefällig die Hände über dem schwammigen Bauch zusammen. „Es ist mir nicht völlig gelungen, seinen Code zu entschlüsseln, doch einige Worte schienen mir gehäuft darin aufzutreten. Immer wieder fand ich zum Beispiel den Hinweis auf einen Ort, den er den Seelenquell nannte. Auch die Traumebene erwähnte er hin und wieder. Dort erhoffte Orlak offenbar Näheres über jenen Seelenquell zu erfahren.“
Die Traumebene? Das war eine neue Information. Wahrscheinlich hatte der Vampirkönig so von dem Schlüssel erfahren. Vielleicht konnten sie dort Hinweise auf einen weiteren Zugang zur Bastion finden.
„Wie gelangt man auf die Traumebene?“, fragte Grimwardt.
„Für unsere Art ist dieser Ort unerreichbar“, erklärte der Eunuchenfürst. „Ihr Sterblichen dagegen betretet ihn jede Nacht im Schlaf. Doch im Schlaf seid ihr völlig dem Spiegel eurer Seelen ausgeliefert, den die Herrin der Träume euch vorhält. Sie ist die Herrscherin der Traumebene. Um sie zu treffen und von ihr zu erfahren, was sie in den Seelen der Sterblichen liest, müsst ihr bei Bewusstsein sein. Es gibt in den Vampirkrypten einen Zugang zur Traumebene – eine unserer Fallen, mit denen wir unsere sterblichen Besucher in die Irre führen. Ihr selbst habt bereits Bekanntschaft mit einer ähnlichen Falle gemacht, wie uns zu Ohren gekommen ist“, fügte er süffisant hinzu.
„Wenn die Traumebene für euch nicht erreichbar ist, wie ist Orlak dann dort hin gelangt?“ Winter hielt es für das Beste, die überhebliche Anspielung auf ihren unfreiwilligen Besuch auf der Schattenebene zu ignorieren.
Kahlkopf bedachte sie mit einem gönnerhaften Schmunzeln.
„Unsere Macht über die Menschen dieser Stadt ist praktisch vollkommen“, erklärte er verächtlich. „Es dürfte dem Nachtkönig nicht schwer gefallen sein, einen willigen Informanten zu finden.“
„Wenn ihr jeden beliebigen Bürger zur Herrin der Träume schicken könnt, wozu braucht ihr uns dann?“
Der Eunuch lachte affektiert und nippte mit schlecht überspielter Nervosität an seinem Blutwein.
„Um den Nachtkönig zu töten.“
„… damit ihr, falls wir draufgehen, jede Beteiligung verleugnen könnt, verstehe“, knurrte Faust.
„Diese Unterredung hat nie stattgefunden“, betätigte der Fettwanst mit einem aalglatten Lächeln.
„Und worin genau besteht eure Beteiligung?“
„Wie wär’s mit: Wir lassen euch am Leben?“, zischte der Halbdrow und seine Eisaugen funkelten blutlüstern. Doch wieder beruhigte Kahlkopf ihn mit einem Händetätscheln.
„Wir zeigen euch den Zugang zur Traumebene und erklären uns bereit, die Verfolgung eures Piratenfreunds einzustellen. Ihr seht: Da wir euch ein Ziel vorgeben, das ihr ohnehin verfolgt, könnt ihr bei diesem Handel nur gewinnen.“
Dem war nicht viel entgegen zu setzen. Trotzdem war keinem der Gefährten wohl bei dem Gedanken, der Führungsriege der Nachtmasken einen Gefallen zu erweisen.
„Und was passiert, wenn wir erfolgreich sind und Orlak III. vernichten?“
„Dann wird einer von uns seine Nachfolge antreten“, erklärte der Vampirfürst diplomatisch, doch Winter entging nicht das wachsame Funkeln in den Augen der Vampirin und das unterschwellige Schnauben des Halbdrows. Einzig der Knochenritter, der während der ganzen Unterhaltung reglos auf seinem Platz geharrt hatte, gab auch jetzt keine Gefühlsregung preis. Es blieb nur zu hoffen, dass sich die vier Vampirfürsten nach Orlaks Vernichtung gegenseitig an die Kehle gehen würden. Eine Fehde um die Thronfolge war im Grunde das Beste, worauf die Gefährten hoffen konnten. Das Böse richtet sich gegen sich selbst – hin und wieder traf das alte Sprichwort zu. Allerdings war es wenig ratsam, sich allzu häufig darauf zu verlassen…
„Dann sind wir uns also einig.“ Die Vampirfürstin deutete das Schweigen der Gefährten als stumme Zustimmung. „Candide wird Euch morgen bei Sonnenaufgang am Gasthaus abholen, um euch zum Traumportal zu führen.“
Faust
Am nächsten Morgen.
„Drizzt oder Elijas?“, fragte Faust, während die Gefährten vor dem Eingang des Goldenen Esel auf ihren vampirischen Führer warteten.
„Elijas“, brummte Grimwardt.
Faust schüttelte den Kopf.
„Stärkere Defensive, aber Drizzt kann besser zuhauen.“
„Fliegen und zaubern“, konterte Grimwardt.
Faust schnalzte zweiflerisch mit der Zunge.
„Um wie viel würdest du wetten?“
„Ich wette nicht.“
„Jetzt geht das schon wieder los“, kommentierte Winter nüchtern das Gedankenduell der beiden Kämpfer. Zur Erlösung der beiden weiblichen Gruppenmitglieder trat in diesem Augenblick der Gastwirt vor die Tür.
„Seid ihr die Helden von Immerschwinge?“, fragte er. „Gerade kam ein kleiner Junge herein, der nach euch sucht.“
Candide hatte es sich auch dieses Mal nicht nehmen lassen, den Gefährten auf seine stille, höhnische Art seine Gerissenheit unter die Nase zu reiben. Wie alt er auch in Vampirjahren sein mochte, er hatte noch immer die emotionale Reife eines Zehnjährigen. Mit derselben Häme, mit der er dem Gastwirt den armen kleinen Straßenjungen vorgegaukelt hatte, um ins Haus gebeten zu werden, trat er nun mit einem seelischen Seufzer ins Sonnenlicht, nur um zu demonstrieren, dass selbst das Tageslicht kein Hindernis für ihn darstellte. Als er die Gefährten kurz darauf in die Kanalisation lockte und sie durch den ärgsten Unrat stapfen ließ, während er selbst spinnengleich an den Wänden entlang kroch, bekam Faust nicht Übel Lust, bei nächster Gelegenheit den Lichtschutzzauber zu bannen, der auf ihm lag, um zuzusehen, wie sich die Flammen durch sein überhebliches Engelsgesicht fraßen. Die Vampirlady wäre vermutlich nicht allzu glücklich über die Einäscherung ihres kleinen Lieblingsbarden, aber Candide war schließlich nicht Teil ihres Paktes…
Nebel.
Faust erstarrte. Sie waren angekommen. Der Vampirjunge hatte sie zu einem alten Bewässerungsschacht geführt, aus dem dichte, weiße Nebelschwaden quollen. Faust spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
„Ihr gelangt auf die Traumebene, sobald ihr durch die Nebel geht“, erklärte Candide. „Die Herrin der Träume schätzt Besucher nicht besonders. Sie wird versuchen, sich euch mit Albträumen vom Leib zu halten. Seid darauf gefasst.“ Und mit einem unheilschweren Lächeln fügte er hinzu: „Habt süße Träume!“
Mit diesen Worten ging der Vampirjunge auf die Nebel zu, die mit geisterhaften Dunstklauen nach ihm griffen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebelschlund ihn verschlungen. Mit schierem Horror starrte Faust auf die Stelle, die die kleine Gestalt verschluckt hatte. Nur mit größter Mühe widerstand er dem Drang, einfach davonzurennen.
„Da… bringen mich keine zehn Pferde rein“, brachte er schließlich hervor.
„Warum?“, fragte Winter verwundert.
„Es sind die Nebel…“ Ihm versagte die Stimme.
Die anderen warfen sich befremdete Blicke zu.
„Du hast Angst vor Nebeln?“, fragte Grimwardt schroff.
„Das solltest du auch“, erwiderte Faust. „Sie sind gekommen, um uns zu holen. Um mich zu holen.“
Er kannte diese Blicke: Wir wussten gar nicht, wie irre zu bist. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er die Menschen auf Rabenhorst auf ähnliche Art und Weise angesehen hatte, wenn sie von den Nebeln gesprochen hatten… Miu ergriff behutsam seine Hand.
„Tja…“, versuchte Winter zu vermitteln. „Wir… könnten uns alle an den Händen fassen und gemeinsam durch den Nebel gehen.“
„Das bringt nichts!“, fuhr Faust sie an wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Sie werden jeden von uns in seine ganz persönliche Hölle bringen und dann gibt es kein Zurück mehr!“
„Aber du… bist auch zurück gekommen.“
Er starrte sie an ohne ihr wirklich zuzuhören.
„Ich werde eine Münze werfen.“
Wenn das Schicksal will, dass ich zurückkehre, dann kann ich es nicht ändern.
„Äh… gut, wenn du meinst.“
„Kopf“, entschied er. Dann schnickte er die Münze in die Höhe, sah zu wie sie sich mehrmals um die eigene Achse drehte, und fing sie auf dem Handrücken auf.
Kopf.
Faust schluckte.
Das Schicksal hat entschieden.
„Können wir jetzt endlich gehen?“, brummte Grimwardt ungeduldig.
„Also gut…“, murmelte Faust. „Falls unsere Wege sich hier trennen: War mir eine Ehre, euch kennen gelernt zu haben.“
Dann holte er tief Luft und trat in den Schacht.
Grimwardt
Die Nebel verziehen sich und Grimwardt steht allein im Innenhof seiner Abtei. Leichengeruch liegt in der Luft. Seine Schritte hallen dumpf vom Steinboden wider. Der erste Leichnam hängt mit verdrehten Gliedern in der Umzäumung des Trainingsplatzes. Der vergiftete Pfeil steckt noch in seiner Kehle. Die nächste Leiche wurde auf ähnliche Art getötet. Grimwardt erkennt die Geschütze an den Schaftfedern: Drowpfeile. Sie tragen Gaum Auzkovyns Handschrift. Sein Blick geht in die Höhe, sucht das kleine vergitterte Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes: sein Arbeitszimmer. Seine Befürchtung bestätigt sich, im Innern brennt Licht: Der Clanführer ist bis ins Herz seiner Welt vorgedrungen, um ihn zu verhöhnen.
„Wo warst du?“
Er dreht sich um. Dort steht Jareth als sei er aus dem Nichts erschienen: Jareth, sein Erster Schwertbruder und sein Freund aus Jugendtagen, wie er ihn zuletzt in den Kerkern der Abtei gesehen hat: sein Gesicht eine unförmige Masse aus Blut und Hautfetzen, seine Glieder verdreht und mehrfach gebrochen. Graums Männer folterten ihn, ehe sie ihn töteten. Offenbar war er nicht gewillt, mit ihnen zu plaudern. Guter Mann.
„Wo warst du, als sie die Abtei angriffen?“, fragt er noch einmal. „Wir hätten dich hier gebraucht.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste“, erklärt Grimwardt ruhig „Vor dir oder der Herrin der Träume oder meinem Gewissen oder was auch immer du repräsentierst. Doch ich bedaure deinen Tod, Jareth.“
„Ach ja?“ Die Erscheinung tritt näher und mustert ihn aus verquollen, blutunterlaufenen Augen. „Du bist in die Wüste aufgebrochen, obwohl du wusstest, dass einige von uns zurückgeblieben sind, um die Abtei bis zum bittereren Ende zu verteidigen.“
„Das war deine Entscheidung“ erinnert ihn Grimwardt. „Meine war es, dafür zu sorgen, dass Myth Drannor nicht in die Hände der Feinde fällt. Es war eine taktische Entscheidung.“
„Myth Drannor?“ Jareth lacht bitter auf. „Wem hast du die Treue geschworen, Grimwardt? Den Elfen von Cormanthyr oder den Menschen des Schlachtentals?“
„Ich habe Tempus die Treue geschworen“, erwidert Grimwardt.
„Ihm und der Abtei! Die Abtei hast du verraten. Damit hast den Segen des Feindhammers verwirkt.“
Ein Windhauch fegt die Erscheinung hinfort, doch sogleich tritt eine neue an ihre Stelle: Jareth der Krieger, gerüstet mit Schild und Flügelhelm und bereit für den Kampf. Er erhebt sein Schwert gegen seinen Freund und Herrn.
„Grimwardt Fedaykin, ich fordere dich zum Kampf heraus. Verteidige deine Ehre oder stirb in Schande!“
Grimwardt schließt für einen Moment die Augen und ballt die Hände zu Fäusten, um den aufkeimenden Zorn zu unterdrücken.
Es ist nur ein Traum, erinnert er sich selbst. Jareth ist tot und er hat es nicht verdient, dass diese Hexe von Traumflüsterin ihn dazu benutzt, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hättest ihn nicht retten können.
„Also schön“, sagt er und zieht sein Schwert. „Du sollst in Würde sterben, Jareth. Und wenn es nur in meinen Träumen ist.“
Winter
Sie läuft durch einen morgenfeuchten Frühlingswald. Scheu tasten sich Nebelschlieren über den moosigen Untergrund und hinterlassen glitzernden Raureif auf den Farngewächsen. Dann lichtet sich der Wald und gibt den Blick frei auf einen kleinen Weiher. Ein Reiher dreht dicht über der Wasseroberfläche seine Runden und landet dann im Schilf. Am Ufer sitzt eine Gestalt, die ganz in die Betrachtung der Morgenidylle versunken ist. Winters Herz macht einen Sprung, als sie ihn erkennt.
„Das ist kein Albtraum“, flüstert sie.
Dorien wendet sich zu ihr um.
„Danke, sehr freundlich.“ Er lacht. Ein leichtes, unbeschwertes Lachen. „Komm, setz dich zu mir.“
Sie lässt sich ins Ufergras sinken. Ihr Herz pocht noch immer wie verrückt. Er wirkt zu real für ein Traumbild: die feinen Mosaike in seinen eisblauen Augen, die leicht arrogante Wölbung seiner Augenbrauen, die langen Wimpern, die seinem Gesicht eine feminine Note geben… zu detailreich für einen Traum. Wie gerne würde sie sich dem Traum einfach hingeben, vergessen, dass es ein Traum ist. Doch sie traut der Idylle nicht.
„Du hast sicher viele Fragen…“
Sie zögert. Es fällt schwer die Frage auszusprechen, die sie am meisten quält.
„Bist du… bist du glücklich, dort, wo du jetzt bist?“
„Dort wo ich jetzt bin, bin ich nicht ich“, erwidert er. Er lächelt, doch es ist ein wehmütiges Lächeln. „Gefühle sind an sterbliche Erfahrungen gebunden.“
Sie senkt den Blick. Das ist kein Trost, es bestätigt nur ihre Befürchtungen: Es gibt keinen Ort, an dem sie ihn jemals wieder sehen könnte. Welche Form seine Seele auch angenommen hat, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, das was ihn ausgemacht hat, ist mit seinem Körper gestorben. Der Dorien, den sie kannte, existiert nur noch in ihren Erinnerungen und die werden nicht immer so klar sein wie dieser Traum…
„Du… verstehst doch, warum ich es getan habe, oder?“, fragt er leise. „Ich konnte es nicht ertragen. Also habe ich das getan, was ich meistens tue. Ich bin davongerannt… und habe gehofft, dass du stärker bist.“
„Ich versuche es“, sagt sie mit belegter Stimme.
„Oh, das gelingt dir ganz gut“, erwidert er nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit. „Es ist dir immer gut gelungen, dich abzulenken.“
Sie hebt verwundert den Kopf.
„Meinst du…?“ Sie lacht auf. „Joe? Die Hochzeit? Ach Dorien, du kennst mich doch.“
„Ja“, murmelt er ohne sie anzusehen. „Und ich habe es nie verstanden.“
„Es geht dabei ums Geschäft.“
„Nein.“ Er hebt jäh den Kopf. „Auf unseren Abenteuern hast du mehr Gold verdient als jeder dieser Kerle in seinem ganzen Leben gesehen hat. Gib es zu, im Grunde genießt du es, dass…“
Irritiert bricht er ab.
„Selbst in deinem Traum streiten wir uns“, stellt er mit entwaffnender Nüchternheit fest. Dann seufzt er und streift ihr mit einer versöhnlichen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Tut mir leid…“
„Ist schon gut…“
Sie sinkt in seine Umarmung und schließt die Augen. Sein Atem streift ihr Gesicht und sie biegt den Kopf in den Nacken in Erwartung seines Kusses.
„Hat es dir eigentlich Vergnügen bereitet, mich zu töten?“
Sie fährt zusammen. Die Eiseskälte seiner Worte trifft sie unvorbereitet. Sie blickt zu ihm auf, sucht in seinen Blicken nach einer Erklärung, doch sie findet nur kalte Verachtung. Dann huscht ein eigenartiger Ausdruck schmerzhafter Überraschung über sein Gesicht und er schnappt röchelnd nach Luft. Blut rinnt aus seinem Mundwinkel und seine Augen flackern.
„Dorien!“
Erst jetzt spürt sie etwas Kaltes, Metallenes zwischen ihren Fingern und als sie an sich herabblickt, erkennt sie, dass es ein Dolch ist. Die Klinge steckt in Doriens Brust: sie hat sein Herz durchbohrt. Winter springt entsetzt zurück.
Das ist der Punkt, wo der Traum zum Albtraum wird.
Auf einmal hört sie hinter sich applaudierendes Klatschen. Das Geräusch klingt wie bitterer Hohn in der Stille, die Doriens sterbender Atem hinterlässt. Winter wirbelt herum.
Drake. Natürlich.
„Respekt!“, applaudiert der Albino. „Alle Achtung, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Das bringt das Fass zum Überlaufen.
„Du!“ Blind vor Wahn stürzt sie auf ihn zu, den blutigen Dolch noch in der Hand. „Mach dass du aus meinem Traum verschwindest!“
Drake lacht.
„Es ist dein Traum. Ich bin hier, weil du es willst.“
„Von wegen! Keine Ahnung wie, aber irgendwie hast du sich in meinen Traum geklinkt, um mich wieder zu manipulieren oder zu erpressen oder deine kranken Spielchen mit mir zu treiben, du verdammter Hurensohn!“, wütet Winter.
„Ehrt mich, dass du mir das zutraust, aber ich muss dich leider enttäuschen“, spottet Drake. „Nicht ich bin derjenige mit dem blutigen Dolch in der Hand. Wie schon gesagt: Meinen Respekt dafür. Aber hör doch bitte damit auf, dir einzureden, Dorien geliebt zu haben, bloß um seinem Tod einen Sinn zu geben. Das ist wirklich erbärmlich.“
„Erbärmlich ist es, eine Siebenjährige zu entführen, weil du zu feige bist, deine Freunde um Hilfe zu bitten!“
„Du lenkst schon wieder ab. Muss sehr frustrierend sein, mich diesmal nicht zum Sündenbock stempeln zu können. Dabei sollte dir im Moment etwas ganz anderes Sorgen bereiten... Dreh dich mal um.“
Wider sich selbst wendet Winter sich tatsächlich um. Dorien! Mit blutender Brust und totenbleichem Gesicht richtet er sich auf. Ein Schatten huscht über seine Züge und verwandelt sein Gesicht in eine Maske der Rachsucht. Anklagend erhebt er die Hand gegen Winter und von seinen Lippen dringen zischende Worte der Magie.
Sie schließt die Augen und spürt, wie ihr eine Träne über die Wange rollt. Ergeben breitet sie die Arme aus.
„Tu es“, flüstert sie.
Faust
Eine Sandgrube irgendwo in der Wüste, so tief wie ein Brunnenschacht und nur ein wenig breiter. Die Sonne steht senkrecht über der Schachtöffnung wie ein gleißender, pulsierender Feuerball und es ist brütend heiß. Er spürt eine Bewegung neben sich. Neben seiner Grube befindet sich eine weitere, getrennt von seiner durch ein Gitter. Darin kauert eine kleine, dunkelhaarige Gestalt. Miu. Verängstigt schlingt sie die Arme um den Körper und versucht ihr Gesicht vor den penetranten Strahlen der Sonne zu schützen. Faust lässt sich ergeben gegen die Gitterstäbe sinken.
„Willkommen in Rabenhorst“, sagt er mit einem tiefen Seufzer. „Keine Angst, Miu. Wir werden nicht ewig in diesem Loch hocken. Nur solange, bis eine Leiche durch die Decke fällt und wir uns vor Grauen durch den Sand graben oder so.“
Zur Sicherheit probiert er einen Zauber aus. Natürlich vergeblich, hätte ihn auch gewundert, wenn die Nebel es ihnen so leicht machen würden. In seiner Hosentasche ertastet er seine Glücksmünze.
Wirklich eine beschissene Idee, durch den Nebel zu gehen, tadelt er sich selbst. Als ob ich es nicht besser gewusst hätte.
Sie müssen lange warten. Schließlich weicht die Sonne dem Mond und die Wärme des Tages einer eisigen Wüstennacht. Der Durst raubt den beiden Gefangenen beinahe die Besinnung. Dann endlich vernimmt Faust Schritte im Sand.
„Hey!“, brüllt er den Schacht hinauf.
Niemand antwortet. Einer der Fremden lässt ein Seil in Mius Zelle hinab und drei vermummte Gestalten klettern schweigend in die Tiefe. Einer von ihnen zerrt Miu zu Boden und reißt ihr die Kleider vom Leib.
„Scheiße, was…nicht!“ Faust rüttelt mit aller Macht an den Gitterstäben.
Sein Gebrüll ist das einzige Geräusch. Bis er Mius schmerzerfüllten Schrei vernimmt, kehlig und rau, das erste Geräusch, das seit ihrer Kindheit von ihren Lippen dringt. Er weiß sofort, dass das in ihren Augen schlimmer ist als alles andere. Nicht die Schändung, sondern der Bruch ihres Gelübdes, ist es, was ihr Schande bereitet.
Das ist nicht seine Hölle, sondern Mius.
Sie gehen ebenso schweigend und gestaltlos wie sie gekommen sind. Miu liegt zusammengekauert am Boden und nur das lautlose Schluchzen, das dann und wann ihren Körper erzittern lässt, sagt Faust, dass sie noch am Leben ist.
„Miu…“ Er umklammert die Gitterstäbe so fest, dass seine Knöchel weiß unter der Haut hervorstechen, denn er weiß, dass nichts, was er sagt, sie trösten kann. „Verdammt, Miu, es war doch nicht deine Schuld… du warst machtlos“
„So wie du.“
Faust fährt herum. Ein Mann um die Fünfzig, aus dem Nichts erschienen, mustert ihn durchdringend aus rot glühenden Augen. Ein einnehmendes, wenn auch leicht spöttisches, Lächeln umspielt seine Lippen.
„Was ist das für ein krankes Spiel?“, fragt er düster, die Hand auf dem Schwertknauf. Zwielicht erzittert unter der Berührung. Wie beim Kampf mit dem Höllenteufel drängt das Schwert ihn zum Angriff.
„Warum konntest du ihr nicht helfen, Desmond?“, fragt der Fremde.
„Scheiße, woher kennst du meinen Namen?“
Der Rotäugige lacht leise.
„Du konntest ihr nicht helfen, weil du machtlos bist. Nur ein Mensch.“
„Und was bist du?“
Ein Schatten wischt die Erscheinung hinfort. Faust zieht sein Schwert und dreht sich wachsam um die eigene Achse. Der Schatten taucht am anderen Ende der Zelle wieder auf und materialisiert sich erneut – doch diesmal offenbart der Fremde ihm seine wahre Gestalt. Die ledernen Teufelsschwingen nehmen die gesamte Breitseite des Schachts ein und zwei kleine Hörner sprießen aus der Stirn des Wesens.
„Du solltest eigentlich wissen, was ich bin“, erklärt er.
Faust schluckt. „Mein Vater.“
Vielleicht ist es doch nur ein Traum, hofft er. Oder haben die Nebel ihn tatsächlich zu dem Mann geführt, nach dem er insgeheim seit Jahren sucht. Wenn dies kein Traum ist, dann hatte Thallastam Recht und sein Vater verkaufte seine Seele, um… ja, um was?
„Ja, ich habe eine Entscheidung getroffen“, beantwortet der Halbteufel die unausgesprochene Frage. „Weil ich die Ohnmacht nicht ertragen konnte. Nicht ertragen wollte. Ein sterbliches Leben ist zu kurz, für alles was ich sein konnte und noch sein werde.“
Faust weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Was er sagt klingt wie ein Echo seiner eigenen Gedanken.
„Und ich kann dir das selbe Geschenk machen, Desmond.“
„Zu welchem Preis?“, fragt Faust tonlos. „Den Verrat an meinen Freunden?“
Sein Vater lächelt.
„Macht ist teuer, doch sie hat nicht für jeden den selben Preis.“
Zwiespalt scheint in seiner Hand zu zerbersten.
Er kann sie spüren, die sprühende Energie, die diesem Wesen innewohnt, und sie benebelt ihn. Er verzehrt sich danach, das hat er schon immer, und der Wunsch nach Macht und Ruhm und Unsterblichkeit wird ihn immer vorantreiben. Das ist sein Schicksal. Aber nicht so… Das ist nicht sein Weg.
„Nein.“ Das Wort kommt nicht leicht über seine Lippen.
Die lässige Fassade des Halbteufels beginnt zu bröckeln und enthüllt eine grässliche Fratze des Zorns und der Verbitterung.
„Dann wählst du also die Sterblichkeit?“
„Ja…“ Für jetzt.
Der Halbteufel zieht sein Flammenschwert.
„So sei es.“
Grimwardt
Auf der Traumebene.
„Ruhe in Frieden.“
Der Traum verflüchtigte sich, noch während Grimwardt das Totengebet für Jareth sprach, und enthüllte die wahre Gestalt der Traumebene: ein gigantisches, weißes Nebelmeer, das ihm bis zu den Hüften reichte. Er spürte keinen Boden unter den Füßen, doch es bereitete ihm auch keine Schwierigkeit, sich auf dem losen Grund fortzubewegen. Der Tempuspriester machte sich auf die Suche nach seiner Gefährten.
„Verdammter Nebel!“
Grimwardt seufzte.
Er folgte dem Fluchen und überraschte Faust dabei, wie er sich verdrießlich mit dem Schwert einen Weg durch die Dunstschlieren bahnte. Der Priester trat ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
„Bist du jetzt dazu übergegangen, den Nebel zu zerhacken, statt vor ihm davonzulaufen?“, knurrte er.
„Grimwardt!“ Faust schien ehrlich überrascht. „Du hier?“
„Was soll das heißen, ‚ich hier’? Das war der Plan, oder nicht?“
„Dann… war das tatsächlich ein Traum?“
Faust schien darüber äußerst erleichtert zu sein. Grimwardt konnte nur den Kopf schütteln.
„Wenn du mir jetzt wieder was von der Hölle erzählst, könnte es gut sein, dass ich die Fassung verliere“, informierte er den Gefährten. „Sag mir lieber, ob du hier irgendwo eine Spur von Miu oder meiner Schwester gesehen hast?“
„Nein… hier nicht.“
Also wateten sie weiter durch das Nebelmeer, doch sie fanden keine der beiden. Stattdessen stießen sie nach kurzer Zeit auf ein seltsames, ovales Gebilde. Die schwarze Kapsel hatte etwa die Größe eines Sarges. Durch ein Glasfenster erblickten sie eine wunderschöne junge Frau, mit dichtem schwarzem Haar, die mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in einem Bett aus Wolken ruhte. Nur ihr Busen, der sich sanft hob und wieder senkte, verriet, dass sie noch atmete.
„Ich küsse sie“, bot Faust sich eilfertig an.
Grimwardt bedachte die Ankündigung mit einem Stirnrunzeln.
„Und in wiefern soll das unsere Mission weiterbringen?“, fragte er nüchtern.
Faust grinste. „Kennst du nicht die alten Legenden? Die Herrin der Träume kann nur durch einen Kuss aus dem Schlaf erweckt werden.“
„Meinetwegen“, brummte der Kriegspriester. „Aber zuerst müssen wir an sie heran kommen.“
Sie fanden einen Mechanismus, der das Glasfenster öffnete. Kaum hatte sich der Traumnebel aus dem Gebilde verflüchtigt, verwandelte sich die Gestalt im Innern der Kapsel: Statt in das Antlitz einer schönen jungen Frau blickten die Gefährten in die grässliche Fratze einer alten Nachtvettel. Eitrige Furunkel prangten auf ihrer Stirn und aus der schiefen Nase wuchsen gräuliche Härchen.
Faust schrak angeekelt zurück.
„Dein Einsatz“, schmunzelte Grimwardt nicht ohne einen Hauch von Schadenfreude.
„Vielleicht irre ich mich auch“, versuchte der Krieger sich aus der Affäre zu ziehen. „Die Verwandlung verschweigen die Geschichten schließlich auch.“
„Aus verständlichen Gründen“, bemerkte der Priester. „Jetzt mach schon.“
Faust schluckte.
„Für die Mission“, seufzte er aufopferungsvoll und drückte der Vettel mit zugekniffenen Augen und geschürzten Lippen einen hastigen Kuss auf die Lippen. Ein Schaudern durchfuhr ihn und er versuchte den schalen Geschmack durch eiliges Spucken und Lecken wieder loszuwerden.
„Scheint nicht zu funktionieren“, bemerkte Grimwardt. „Vielleicht musst du die Sache leidenschaftlicher angehen.“
„Leck mich.“
„Dann auf meine Art.“
Grimwardt packte die alte Hexe grobschlächtig bei den Schultern und begann zu rütteln. Mit Erfolg: Ein krötiges Krächzen drang über die Lippen der Traumherrin und sie öffnete blinzelnd die Augen.
„Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, in mein Reich einzudringen und mich aus dem Schlaf zu rütteln?“, krakeelte sie.
„Wir haben Fragen, die nicht warten können.“
„Was könnte wichtiger sein, als die Träume der Schlafenden?“
„Aus diesem Grund sind wir hier. Wir brauchen Informationen, die nur Ihr uns geben könnt, Herrin.“
„Na gut“, grummelte die Alte. „Aber beeilt Euch. Solange ich wache, sind die Schlafenden ohne Träume.“
„Zuerst wüssten wir gerne, was mir unseren beiden Gefährtinnen passiert ist“, erklärte Faust.
„Sie konnten ihre Träume nicht besiegen. Den eigenen Tod kann man nicht träumen, darum sind sie aufgewacht und haben die Traumebene verlassen.“
„Aber es geht ihnen gut?“
„Ich töte nicht. Ich zeige den Schlafenden nur ihre Ängste und Begehren durch den Spiegel ihrer Seelen.“
„Dann könnt ihr in die Seele eines jeden Sterblichen blicken?“
„Eines jeden Wesens, das schläft“, berichtigte die Nachtvettel.
„Habt Ihr auch in den Geist des Drachens gesehen, der die Bastion der ungeborenen Seelen besetzt?“, erkundigte sich Grimwardt.
„Die Bastion, schon wieder“, grummelte die Alte. Offenbar hatte der Nachtkönig von Westtor tatsächlich einen menschlichen Boten geschickt, um Informationen über den Seelenquell zu sammeln. „Ja, ich habe Ashardalons Träume gesehen. Sie handelten meist von den ungeborenen Seelen, die er verzehrte, um sein krankes Herz am Leben zu erhalten.“
„Sein krankes Herz?“
„Er stahl es von einem Dämon, nachdem Gen Soleilon von Westtor sein eigenes Herz durchbohrt hatte. Das falsche Herz tötet ihn langsam und schleichend, darum flüchtete er sich in die Bastion, um dem sicheren Tod zu entgehen.“
„Habt Ihr in den letzten Monaten eine Veränderung in seinen Träumen bemerkt?“, fragte Grimwardt weiter.
„Sie brachen ab“, krächzte die Alte. „Seit etwa zwei Monaten habe ich keine Träume mehr von Ashardalon empfangen.“
Grimwardt und Faust warfen sich einen viel sagenden Blick zu. Das ließ darauf schließen, dass Orlaks Eroberungspläne geglückt waren und er den Drachen besiegt hatte. Oder der Drache hatte den Nachtkönig dazu gebracht, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Auch in diesem Fall wären seine Träume abgebrochen, denn Untote schlafen nicht.
„Wie gelangte Ashardalon vor zweitausend Jahren in die Bastion?“, wollte Faust wissen.
„Er war im Besitz eines Splitters des Seelensteins“, sagte die Traumherrin und erklärend fuhr sie fort: „Vor vielen Millionen von Jahren, ehe der erste Sterbliche geboren wurde, erschuf Ao, der Göttervater, die Bastion der ungeborenen Seelen. Er verfügte, dass kein Gott den Seelenquell jemals betreten solle. Nach ihrer Fleischwerdung und noch im Tod mochten die Götter um die Seelen der Sterblichen werben und feilschen, doch auf die präinkarnierten Seelen sollten sie keinen Einfluss haben. So entstanden das Prinzip des freien Willens und der Bann der ungeborenen Seelen, der die Götter an Aos Verfügung bindet. Desayeus jedoch, der Gott der Zeit, setzte sich über das Verbot hinweg und erschuf den Seelenstein, um sich Zugang zu Bastion zu verschaffen. Als die anderen Götter davon erfuhren, fürchteten sie, dass Desayeus den Bann der ungeborenen Seelen brechen und Aos Zorn auf sie alle herab beschwören könnte. Darum verbannten sie Desayeus in ein Gefängnis auf einer der Äußeren Ebenen. Den Seelenstein versuchten sie zu zerstören, doch es gelang ihnen nur ihn in drei Teile zu zersplittern. Einen der Splitter behielt Desayeus in seinem Gefängnis, die anderen beiden verstreuten die Götter im Multiversum. Mit einem dieser beiden Splitter gelangte Ashardalon in die Bastion, der Aufenthaltsort des anderen ist mir nicht bekannt. Er blieb lange verschollen, ehe ich ihn vor einigen Monaten im Geist Eurer rothaarigen Freundin sah. Dann verschwand er wieder. Jeder der Splitter vermag, als Komponente für einen Ebenenwechsel gebraucht, den Träger zur Bastion zu führen. Ein anderer Weg in die Bastion ist mir nicht bekannt.“
Einen Splitter hatte Ashardalon, mit dem anderen musste Orlak in die Bastion gelangt sein. Solange der Splitter in Immerschwinge gewesen war, war er den Augen der Traumherrin verschlossen geblieben, denn Elfen schlafen nicht. Und als der Vampirklon ihn gestohlen hatte, war er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Somit blieb den Gefährten nur eine einzige Möglichkeit, in die Bastion der ungeborenen Seelen zu gelangen: Sie mussten den dritten Stein finden, jenen, den der gefallene Gott behalten hatte.
„Die Götter verbannten Desayeus auf eine der Äußeren Ebene, sagtet Ihr?“, fragte Faust nach.
„Nach Agathion, den Mittelpunkt einer Ebene namens Pandämonium, ja“, erklärte die Nachtvettel. „Sein Gefängnis wird von einem mächtigen Erzengel bewacht, einem Solar… Erlaubt Ihr nun, dass ich mich wieder zur Ruhe lege?“, grantelte die Traumherrin. „Ihr habt lange genug die Zeit der Träumerin in Anspruch genommen.“
„Eine Frage noch“, bat Grimwardt. Für den Fall dass Ashardalon – in welcher Form auch immer – noch immer in der Bastion weilte, blieb da noch die Frage nach seiner Bezwingung. „Um den Drachen Ashardalon zu besiegen, so heißt es, ist die Hilfe eines Erben des Soleilon nötig. Wir kennen da zwar jemanden, aber dieser Jemand versteht sich recht gut darauf, sich nicht aufspüren zu lassen. Könnt Ihr uns wohl sagen, wo wir einen gewissen Drake finden?“
„Drake was?“, blaffte die Vettel.
„Seinen Nachnamen hat er uns nie verraten. Er ist ein Auftragsmörder, der in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste sein Unwesen treibt.“
„Ein Erbe des Soleilons?“ Sie dachte nach. „Ihr meint wohl Drake Noar… Ihr kommt häufig in seinen Träumen vor. Ihr und Eure Schwester.“
Na hoffentlich bereiten wir ihm Albträume, dachte Grimwardt grimmig.
„Derzeit ist er in der Stadt Tiefwasser, auf der Suche nach seinem alten Lehrmeister. Er hat ein Zimmer im Gasthaus Zum Gähnenden Portal.“
„Ich danke Euch. Das war sehr hilfreich.“
„Nun dann, auf Wiedersehen in Euren Träumen“, gnatzte die Alte und sank zurück in ihre Schlafkapsel. Als sie den Mechanismus betätigte, füllte sich der Boden mit Traumnebel und die Nachtvettel nahm wieder das Aussehen der jungen Träumerin an.
Als Grimwardt an Drake dachte, konnte er sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sieht so aus, als ob wir diesmal die Überraschungsgäste sein werden.“
Winter
Am Abend im Stadtpalais der Familie Urdo.
Ein als Harlekin Maskierter öffnete den Gefährten die Tür, prüfte ihre Einladung, und bat sie mit dramatisch unheilvollen Gesten ins Haus. Zum Anlass des Abends hatten sich die Gefährten an Winters Verkleidungskiste gütlich getan – wenn es auch einiger Überredungskunst bedurft hatte, Miu balltauglich zu machen. Die genügsame Karaturianerin übertraf selbst Grimwardt in ihrem Mangel an Verständnis für derlei dekadenten Schnickschnack. Und sie hatte ein verstörendes Talent dafür, ihren „Peinigern“ mit Blicken Gewissensbisse einzubrennen: Nie hatte sich Winter bei dem Versuch, jemandem ein wenig Gesichtspuder aufzutragen, mehr wie ein Scharfrichter gefühlt.
Der Ballsaal war an den Wänden mit purpurnen Samtteppichen drapiert und ein paar silberne Kandelaber spendeten dämmriges Licht. Maskierte Ballgäste mit gepuderten Perücken und schwarzen Samtlarven standen in kleinen Grüppchen beisammen und erfüllten den Saal mit ihrem affektierten Gelächter, während Diener in schwarzen Livreen für das leibliche Wohl sorgten. Die Luft war erfüllt von einem einlullenden Duftcocktail aus Opium und Patchouli und von irgendwoher drangen die sanften, schwermütigen Klänge einer Harfe. Das Zwielicht und die Masken machten es unmöglich, zwischen Menschen und Blutsaugern zu unterscheiden, doch Winter hatte eine vage Vorstellung davon, was sich im Laufe der Nacht in den schattigen Fensteralkoven und heimlichen Sitznischen abspielen würde, wenn erst der Wein und die aphrodisierende Atmosphäre die Unvorsichtigen in die Arme ihrer Gastgeber trieben. Dennoch entfuhr der Diebesmeisterin ein sehnsüchtiger Seufzer, als sie all das lasterhafte Treiben um sich herum betrachtete. Wie lange war es her, seitdem sie selbst sich solch süßen Ausschweifungen hingegeben hatte? Wurde sie langsam zu alt für die leiblichen Freuden des Lebens? Verstohlen betrachtete sie sich in einem der mannshohen Wandspiegel: das wallende rote Haar, der schlanke Hals, die smaragdgrünen Augen… alles, wie es sein sollte. Aber waren nicht ihre Wangen ein wenig eingefallen? Hatten der Kummer und die Sorgen der letzten Monate diese dunklen Ringe unter ihre Augen gezeichnet? Und waren das etwa Krähenfüße, die sich dort in ihren Lidfalten abzeichneten? Winter erschauderte.
„Keine Zeit für Eitelkeiten“, raunzte Grimwardt und zog sie weiter. „Wir haben eine Verabredung.“
„Da sind ja unsere Ehrengäste“, ließ eine wohlbekannte Knabenstimme die Geschwister herumfahren.
Fausts Hand fuhr an den Knauf seines Schwerts und Winter hatte bereits einen Zauberspruch auf den Lippen, doch ihre Wachsamkeit verstärkte nur das süffisante Honigkuchen-Lächeln auf den Lippen des Kindvampirs. Müßig zupfte der sadistische kleine Lockenschopf ein paar Takte auf seiner Laute, um die Angespanntheit seiner Gäste auszukosten, ehe er sie mit sanfter Schlafwandlerstimme bat, ihnen zu folgen. Lauernd verfolgte Winter jeden Schritt des Knaben, während die Freunde ihm eine ausladende Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses folgten. Falls er sie in eine Falle zu locken versuchte, so waren sie bestens gerüstet: Die Ohrstöpsel waren nur der Anfang. Bevor sie hergekommen waren, hatten sie eine wahre Schutzzauber-Orgie veranstaltet. So eine Schlappe wie vor acht Jahren in der Purpurnen Lady würde ihnen kein zweites Mal passieren.
Der Vampir führte sie in einen Raum in orientalischem Stil mit allerlei Diwanen, exotischen Wandbehängen und leise klirrenden Windspielen. Dann schob er einen seidenen Vorhang beiseite und enthüllte drei Maskierte, die im Schneidersitz auf einem Kissenlager hockten: eine blasshäutige Adlige mit blasiertem Wimpernaufschlag und pompöser Barockperücke, ein aufgedunsener Kahlkopf in schweren Samtroben, der an jedem seiner fettigen Wurstfinger einen juwelbesetzten Ring trug, und ein Halbdrow, dessen blassrote Augen scharf hinter den Larvenschlitzen hervorstachen. Ein vierter Vampir in Knochenrüstung stand bewegungslos wie ein eherner Wächter im Hintergrund. Die Augen des Vampirknaben leuchteten auf, als er die Frau erblickte. Unterwürfig kniete er sich ihr zu Füßen.
„Candide.“ Gönnerhaft strich die Vampirin dem Jungen über die braunen Locken. „Da sind ja unsere Gäste. Sei doch so gut und bring uns etwas Wein und dann spiel uns etwas Schönes auf der Laute.“
Schweigend belauerten sich beide Parteien, während Candide davoneilte, um dem Wunsch seiner Herrin zu entsprechen. Doch die Gefährten hüteten sich, von dem Wein zu kosten, den der Knabe ihnen einschenkte. Die Vampirfürstin lachte affektiert, während der Rest des Gruselkabinetts keine Miene verzog.
„Keinen Durst?“, fragte sie spöttisch.
Winter bedachte den kleinen Seitenhieb mit einem düsteren Lächeln. Mit vergiftetem Wein hatte der Wirtshausbesitzer der Purpurnen Lady sie seinerzeit auszuschalten versucht. Sie hatten ihn vernichtet, waren jedoch am unterirdischen Labyrinth der Vampirkrypten gescheitert.
„Welch krude Zurückweisung unserer Gastfreundschaft“, stichelte die Vampirfürstin weiter. „Wo wir doch im Gegensatz zu Eurem letzten Besuch denselben Feind bekämpfen, wie es mir scheinen will.“
„Und wer soll das sein?“
Die Vampirin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
„Das wisst Ihr nicht?“ Sie führte forsch ihr Weinglas an die Lippen, dessen Inhalt zu zähflüssig für Rotwein war. „Dann seid Ihr nicht hier, um den Schöpfer der Albinoklone zu stellen? Dafür schient Ihr diesen liederlichen Geschöpfen aber ein lebhaftes Interesse entgegen zu bringen nach allem, was Candide mir berichtete. Und auch der Umstand, dass Euer erstes Auftauchen in der Stadt vor acht Jahren mit dem Erscheinen der ersten Klone zusammenfällt, will mir nicht wie ein Zufall erscheinen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wer soll das sein, der Schöpfer der Klone?“
„Kein geringerer als Orlak III., Nachkönig von Westtor.“
Schon damals hatten die Gefährten vermutet, dass die Marilith, die Drake angegriffen hatte, um Komponenten für einen Klonzauber zu beschaffen, für den Vampirführer der Nachtmasken arbeitete. Aus diesem Grund waren sie überhaupt erst nach Westtor gekommen. Aber was hatte in der Zwischenzeit den vampirischen Adelsstand gegen den Nachtkönig aufgebracht?
„Und seit wann ist Orlak III. unser gemeinsamer Feind?“, sprach Grimwardt aus was sie alle dachten.
„Seit er aufgehört hat, sich an den Kodex zu halten“, erwiderte die Sprecherin des Blutsauger-Quartetts und ein unterschwelliges Knurren, das gar nicht zu ihrem damenhaften Auftreten passen wollte, begleitete ihre Worte. „Seit zweitausend Jahren beherrschen die Nachtmasken die Unterwelt von Westtor. Wir sind die Seele dieser Stadt, die wir seit jeher aus dem Verborgenen regiert haben. Seht euch um! Die Nacht ist unsere Gefährtin und Shar unsere Schutzpatronin. Es ist nicht unsere Bestimmung ans Licht zu streben so wie Orlak es tut. Er hat einen Zauber entwickelt, mit dem es uns möglich ist im Sonnenlicht zu wandeln. Kein Sterblicher sollte je unsere wahren Gesichter sehen, doch er zeigt sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit. An der Seite von Thistle Thalavar, diesem armseligen Geschöpf. Er plant sie zu ehelichen und mit ihr die Krone des Cormakh. Er, der das Bluterbe von Orlak I. in sich trägt, will dieses sterbliche Flittchen von niederem Stand zu seiner Frau machen! Sollen wir diesen Verrat an uns etwa dulden? Hah, vermutlich ist er nicht einmal einer von uns! Es gibt Gerüchte, wonach Orlak III. in Wahrheit von einem Klon des Schwarzmagiers Manschoon besiegt wurde, der die Treue mit den Zhentarim hält.“
„Aber wozu braucht er die Klone?“, fragte Faust.
Natürlich wussten die Gefährten die Antwort: Um den Drachen Ashardalon in der Bastion der ungeborenen Seelen zu besiegen. Doch wie gelangte man in die Bastion? Wo befand sie sich? Und was wollte der Unsterbliche dort? Wussten die Vampire die Antwort auf diese Fragen? Doch die Gefährten wurden enttäuscht.
„Orlak erschuf sich eine Armee“, meldete sich der Kahlkopf mit säuselnder Eunuchenstimme zu Wort. „Um die Kontrolle über die Gilde an sich zu reißen. Er hat die Körper der Bleichen mit der Essenz seines Geistes erfüllt, sodass sie ihm in allen Belangen ergeben sind.“ Er lehnte sich zurück, und kostete mit geschürften Lippen von seinem Blutwein. „Das ergaben jedenfalls die Auswertungen seiner magischen Experimente. Die ersten Klone tauchten vor acht Jahren auf. Seither ist ihre Zahl stetig angestiegen. Als Orlak verschwand, gingen sie mit ihm, kehrten jedoch kurz darauf zurück, um an seiner Statt die Geschicke der Gilde zu leiten.“
„Dieser Halunke“, begehrte der Halbdrow auf, der sich bis jetzt in düsteres Schweigen gehüllt hatte. „Uns hätte dieses Vorrecht gegolten! Sich einfach über Jahrtausende alte Traditionen hinweg zu setzen, wie kann er…“
Der Eunuch legte beschwichtigend seine Wurstfinger auf den Arm des jähzornigen Vampirfürsten und das animalische Zucken des Halbdrow hörte ebenso abrupt auf wie es aufgetreten war.
„Orlak ist verschwunden?“, fragte Faust.
„Oh ja“, säuselte Kahlkopf. „Seit fast drei Monaten ist er wie vom Erdboden verschluckt. Kein Aufspürungszauber vermag ihn zu orten.“
Winter fuhr ein eisiger Schreck durch die Glieder.
Er ist bereits in der Bastion!
Eilig rechnete sie zurück. Fast drei Monate. Zweieinhalb Monate war es her, seitdem der Klon ihnen den Seelensplitter gestohlen hatte. Elijas’ Vater hatte den Stein einen Schlüssel genannt. Der Schlüssel zur Bastion! Das war der Grund, weshalb der Splitter die Stadt der Gläsernen Gesänge nicht hätte verlassen dürfen! Der Mythal der Elfenstadt hatte die Ortung des Steins Jahrhunderte lang verhindert. Erst als er mit ihnen die Stadt verlassen hatte, war es Orlak gelungen, den Schlüssel ausfindig zu machen. Mit einer ganzen Armee von Soleilon-Erben war er in die Bastion marschiert und hatte den Drachen besiegt!
Winter spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Es war ihre Schuld… wieder einmal! Es schien als habe das Schicksal sie in dieser Mission zum Scheitern verurteilt.
„Gibt es Anhaltspunkte?“, fragte sie. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatten der Diebstahl des Seelensplitters und das Verschwinden des Nachtkönigs gar nichts miteinander zu tun. Immerhin war die Welt noch nicht untergegangen…
„Ich habe sämtliche Aufzeichnungen des Nachtkönigs durchforstet“, erklärte der Eunuch und faltete selbstgefällig die Hände über dem schwammigen Bauch zusammen. „Es ist mir nicht völlig gelungen, seinen Code zu entschlüsseln, doch einige Worte schienen mir gehäuft darin aufzutreten. Immer wieder fand ich zum Beispiel den Hinweis auf einen Ort, den er den Seelenquell nannte. Auch die Traumebene erwähnte er hin und wieder. Dort erhoffte Orlak offenbar Näheres über jenen Seelenquell zu erfahren.“
Die Traumebene? Das war eine neue Information. Wahrscheinlich hatte der Vampirkönig so von dem Schlüssel erfahren. Vielleicht konnten sie dort Hinweise auf einen weiteren Zugang zur Bastion finden.
„Wie gelangt man auf die Traumebene?“, fragte Grimwardt.
„Für unsere Art ist dieser Ort unerreichbar“, erklärte der Eunuchenfürst. „Ihr Sterblichen dagegen betretet ihn jede Nacht im Schlaf. Doch im Schlaf seid ihr völlig dem Spiegel eurer Seelen ausgeliefert, den die Herrin der Träume euch vorhält. Sie ist die Herrscherin der Traumebene. Um sie zu treffen und von ihr zu erfahren, was sie in den Seelen der Sterblichen liest, müsst ihr bei Bewusstsein sein. Es gibt in den Vampirkrypten einen Zugang zur Traumebene – eine unserer Fallen, mit denen wir unsere sterblichen Besucher in die Irre führen. Ihr selbst habt bereits Bekanntschaft mit einer ähnlichen Falle gemacht, wie uns zu Ohren gekommen ist“, fügte er süffisant hinzu.
„Wenn die Traumebene für euch nicht erreichbar ist, wie ist Orlak dann dort hin gelangt?“ Winter hielt es für das Beste, die überhebliche Anspielung auf ihren unfreiwilligen Besuch auf der Schattenebene zu ignorieren.
Kahlkopf bedachte sie mit einem gönnerhaften Schmunzeln.
„Unsere Macht über die Menschen dieser Stadt ist praktisch vollkommen“, erklärte er verächtlich. „Es dürfte dem Nachtkönig nicht schwer gefallen sein, einen willigen Informanten zu finden.“
„Wenn ihr jeden beliebigen Bürger zur Herrin der Träume schicken könnt, wozu braucht ihr uns dann?“
Der Eunuch lachte affektiert und nippte mit schlecht überspielter Nervosität an seinem Blutwein.
„Um den Nachtkönig zu töten.“
„… damit ihr, falls wir draufgehen, jede Beteiligung verleugnen könnt, verstehe“, knurrte Faust.
„Diese Unterredung hat nie stattgefunden“, betätigte der Fettwanst mit einem aalglatten Lächeln.
„Und worin genau besteht eure Beteiligung?“
„Wie wär’s mit: Wir lassen euch am Leben?“, zischte der Halbdrow und seine Eisaugen funkelten blutlüstern. Doch wieder beruhigte Kahlkopf ihn mit einem Händetätscheln.
„Wir zeigen euch den Zugang zur Traumebene und erklären uns bereit, die Verfolgung eures Piratenfreunds einzustellen. Ihr seht: Da wir euch ein Ziel vorgeben, das ihr ohnehin verfolgt, könnt ihr bei diesem Handel nur gewinnen.“
Dem war nicht viel entgegen zu setzen. Trotzdem war keinem der Gefährten wohl bei dem Gedanken, der Führungsriege der Nachtmasken einen Gefallen zu erweisen.
„Und was passiert, wenn wir erfolgreich sind und Orlak III. vernichten?“
„Dann wird einer von uns seine Nachfolge antreten“, erklärte der Vampirfürst diplomatisch, doch Winter entging nicht das wachsame Funkeln in den Augen der Vampirin und das unterschwellige Schnauben des Halbdrows. Einzig der Knochenritter, der während der ganzen Unterhaltung reglos auf seinem Platz geharrt hatte, gab auch jetzt keine Gefühlsregung preis. Es blieb nur zu hoffen, dass sich die vier Vampirfürsten nach Orlaks Vernichtung gegenseitig an die Kehle gehen würden. Eine Fehde um die Thronfolge war im Grunde das Beste, worauf die Gefährten hoffen konnten. Das Böse richtet sich gegen sich selbst – hin und wieder traf das alte Sprichwort zu. Allerdings war es wenig ratsam, sich allzu häufig darauf zu verlassen…
„Dann sind wir uns also einig.“ Die Vampirfürstin deutete das Schweigen der Gefährten als stumme Zustimmung. „Candide wird Euch morgen bei Sonnenaufgang am Gasthaus abholen, um euch zum Traumportal zu führen.“
Faust
Am nächsten Morgen.
„Drizzt oder Elijas?“, fragte Faust, während die Gefährten vor dem Eingang des Goldenen Esel auf ihren vampirischen Führer warteten.
„Elijas“, brummte Grimwardt.
Faust schüttelte den Kopf.
„Stärkere Defensive, aber Drizzt kann besser zuhauen.“
„Fliegen und zaubern“, konterte Grimwardt.
Faust schnalzte zweiflerisch mit der Zunge.
„Um wie viel würdest du wetten?“
„Ich wette nicht.“
„Jetzt geht das schon wieder los“, kommentierte Winter nüchtern das Gedankenduell der beiden Kämpfer. Zur Erlösung der beiden weiblichen Gruppenmitglieder trat in diesem Augenblick der Gastwirt vor die Tür.
„Seid ihr die Helden von Immerschwinge?“, fragte er. „Gerade kam ein kleiner Junge herein, der nach euch sucht.“
Candide hatte es sich auch dieses Mal nicht nehmen lassen, den Gefährten auf seine stille, höhnische Art seine Gerissenheit unter die Nase zu reiben. Wie alt er auch in Vampirjahren sein mochte, er hatte noch immer die emotionale Reife eines Zehnjährigen. Mit derselben Häme, mit der er dem Gastwirt den armen kleinen Straßenjungen vorgegaukelt hatte, um ins Haus gebeten zu werden, trat er nun mit einem seelischen Seufzer ins Sonnenlicht, nur um zu demonstrieren, dass selbst das Tageslicht kein Hindernis für ihn darstellte. Als er die Gefährten kurz darauf in die Kanalisation lockte und sie durch den ärgsten Unrat stapfen ließ, während er selbst spinnengleich an den Wänden entlang kroch, bekam Faust nicht Übel Lust, bei nächster Gelegenheit den Lichtschutzzauber zu bannen, der auf ihm lag, um zuzusehen, wie sich die Flammen durch sein überhebliches Engelsgesicht fraßen. Die Vampirlady wäre vermutlich nicht allzu glücklich über die Einäscherung ihres kleinen Lieblingsbarden, aber Candide war schließlich nicht Teil ihres Paktes…
Nebel.
Faust erstarrte. Sie waren angekommen. Der Vampirjunge hatte sie zu einem alten Bewässerungsschacht geführt, aus dem dichte, weiße Nebelschwaden quollen. Faust spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
„Ihr gelangt auf die Traumebene, sobald ihr durch die Nebel geht“, erklärte Candide. „Die Herrin der Träume schätzt Besucher nicht besonders. Sie wird versuchen, sich euch mit Albträumen vom Leib zu halten. Seid darauf gefasst.“ Und mit einem unheilschweren Lächeln fügte er hinzu: „Habt süße Träume!“
Mit diesen Worten ging der Vampirjunge auf die Nebel zu, die mit geisterhaften Dunstklauen nach ihm griffen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebelschlund ihn verschlungen. Mit schierem Horror starrte Faust auf die Stelle, die die kleine Gestalt verschluckt hatte. Nur mit größter Mühe widerstand er dem Drang, einfach davonzurennen.
„Da… bringen mich keine zehn Pferde rein“, brachte er schließlich hervor.
„Warum?“, fragte Winter verwundert.
„Es sind die Nebel…“ Ihm versagte die Stimme.
Die anderen warfen sich befremdete Blicke zu.
„Du hast Angst vor Nebeln?“, fragte Grimwardt schroff.
„Das solltest du auch“, erwiderte Faust. „Sie sind gekommen, um uns zu holen. Um mich zu holen.“
Er kannte diese Blicke: Wir wussten gar nicht, wie irre zu bist. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er die Menschen auf Rabenhorst auf ähnliche Art und Weise angesehen hatte, wenn sie von den Nebeln gesprochen hatten… Miu ergriff behutsam seine Hand.
„Tja…“, versuchte Winter zu vermitteln. „Wir… könnten uns alle an den Händen fassen und gemeinsam durch den Nebel gehen.“
„Das bringt nichts!“, fuhr Faust sie an wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Sie werden jeden von uns in seine ganz persönliche Hölle bringen und dann gibt es kein Zurück mehr!“
„Aber du… bist auch zurück gekommen.“
Er starrte sie an ohne ihr wirklich zuzuhören.
„Ich werde eine Münze werfen.“
Wenn das Schicksal will, dass ich zurückkehre, dann kann ich es nicht ändern.
„Äh… gut, wenn du meinst.“
„Kopf“, entschied er. Dann schnickte er die Münze in die Höhe, sah zu wie sie sich mehrmals um die eigene Achse drehte, und fing sie auf dem Handrücken auf.
Kopf.
Faust schluckte.
Das Schicksal hat entschieden.
„Können wir jetzt endlich gehen?“, brummte Grimwardt ungeduldig.
„Also gut…“, murmelte Faust. „Falls unsere Wege sich hier trennen: War mir eine Ehre, euch kennen gelernt zu haben.“
Dann holte er tief Luft und trat in den Schacht.
Grimwardt
Die Nebel verziehen sich und Grimwardt steht allein im Innenhof seiner Abtei. Leichengeruch liegt in der Luft. Seine Schritte hallen dumpf vom Steinboden wider. Der erste Leichnam hängt mit verdrehten Gliedern in der Umzäumung des Trainingsplatzes. Der vergiftete Pfeil steckt noch in seiner Kehle. Die nächste Leiche wurde auf ähnliche Art getötet. Grimwardt erkennt die Geschütze an den Schaftfedern: Drowpfeile. Sie tragen Gaum Auzkovyns Handschrift. Sein Blick geht in die Höhe, sucht das kleine vergitterte Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes: sein Arbeitszimmer. Seine Befürchtung bestätigt sich, im Innern brennt Licht: Der Clanführer ist bis ins Herz seiner Welt vorgedrungen, um ihn zu verhöhnen.
„Wo warst du?“
Er dreht sich um. Dort steht Jareth als sei er aus dem Nichts erschienen: Jareth, sein Erster Schwertbruder und sein Freund aus Jugendtagen, wie er ihn zuletzt in den Kerkern der Abtei gesehen hat: sein Gesicht eine unförmige Masse aus Blut und Hautfetzen, seine Glieder verdreht und mehrfach gebrochen. Graums Männer folterten ihn, ehe sie ihn töteten. Offenbar war er nicht gewillt, mit ihnen zu plaudern. Guter Mann.
„Wo warst du, als sie die Abtei angriffen?“, fragt er noch einmal. „Wir hätten dich hier gebraucht.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste“, erklärt Grimwardt ruhig „Vor dir oder der Herrin der Träume oder meinem Gewissen oder was auch immer du repräsentierst. Doch ich bedaure deinen Tod, Jareth.“
„Ach ja?“ Die Erscheinung tritt näher und mustert ihn aus verquollen, blutunterlaufenen Augen. „Du bist in die Wüste aufgebrochen, obwohl du wusstest, dass einige von uns zurückgeblieben sind, um die Abtei bis zum bittereren Ende zu verteidigen.“
„Das war deine Entscheidung“ erinnert ihn Grimwardt. „Meine war es, dafür zu sorgen, dass Myth Drannor nicht in die Hände der Feinde fällt. Es war eine taktische Entscheidung.“
„Myth Drannor?“ Jareth lacht bitter auf. „Wem hast du die Treue geschworen, Grimwardt? Den Elfen von Cormanthyr oder den Menschen des Schlachtentals?“
„Ich habe Tempus die Treue geschworen“, erwidert Grimwardt.
„Ihm und der Abtei! Die Abtei hast du verraten. Damit hast den Segen des Feindhammers verwirkt.“
Ein Windhauch fegt die Erscheinung hinfort, doch sogleich tritt eine neue an ihre Stelle: Jareth der Krieger, gerüstet mit Schild und Flügelhelm und bereit für den Kampf. Er erhebt sein Schwert gegen seinen Freund und Herrn.
„Grimwardt Fedaykin, ich fordere dich zum Kampf heraus. Verteidige deine Ehre oder stirb in Schande!“
Grimwardt schließt für einen Moment die Augen und ballt die Hände zu Fäusten, um den aufkeimenden Zorn zu unterdrücken.
Es ist nur ein Traum, erinnert er sich selbst. Jareth ist tot und er hat es nicht verdient, dass diese Hexe von Traumflüsterin ihn dazu benutzt, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hättest ihn nicht retten können.
„Also schön“, sagt er und zieht sein Schwert. „Du sollst in Würde sterben, Jareth. Und wenn es nur in meinen Träumen ist.“
Winter
Sie läuft durch einen morgenfeuchten Frühlingswald. Scheu tasten sich Nebelschlieren über den moosigen Untergrund und hinterlassen glitzernden Raureif auf den Farngewächsen. Dann lichtet sich der Wald und gibt den Blick frei auf einen kleinen Weiher. Ein Reiher dreht dicht über der Wasseroberfläche seine Runden und landet dann im Schilf. Am Ufer sitzt eine Gestalt, die ganz in die Betrachtung der Morgenidylle versunken ist. Winters Herz macht einen Sprung, als sie ihn erkennt.
„Das ist kein Albtraum“, flüstert sie.
Dorien wendet sich zu ihr um.
„Danke, sehr freundlich.“ Er lacht. Ein leichtes, unbeschwertes Lachen. „Komm, setz dich zu mir.“
Sie lässt sich ins Ufergras sinken. Ihr Herz pocht noch immer wie verrückt. Er wirkt zu real für ein Traumbild: die feinen Mosaike in seinen eisblauen Augen, die leicht arrogante Wölbung seiner Augenbrauen, die langen Wimpern, die seinem Gesicht eine feminine Note geben… zu detailreich für einen Traum. Wie gerne würde sie sich dem Traum einfach hingeben, vergessen, dass es ein Traum ist. Doch sie traut der Idylle nicht.
„Du hast sicher viele Fragen…“
Sie zögert. Es fällt schwer die Frage auszusprechen, die sie am meisten quält.
„Bist du… bist du glücklich, dort, wo du jetzt bist?“
„Dort wo ich jetzt bin, bin ich nicht ich“, erwidert er. Er lächelt, doch es ist ein wehmütiges Lächeln. „Gefühle sind an sterbliche Erfahrungen gebunden.“
Sie senkt den Blick. Das ist kein Trost, es bestätigt nur ihre Befürchtungen: Es gibt keinen Ort, an dem sie ihn jemals wieder sehen könnte. Welche Form seine Seele auch angenommen hat, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, das was ihn ausgemacht hat, ist mit seinem Körper gestorben. Der Dorien, den sie kannte, existiert nur noch in ihren Erinnerungen und die werden nicht immer so klar sein wie dieser Traum…
„Du… verstehst doch, warum ich es getan habe, oder?“, fragt er leise. „Ich konnte es nicht ertragen. Also habe ich das getan, was ich meistens tue. Ich bin davongerannt… und habe gehofft, dass du stärker bist.“
„Ich versuche es“, sagt sie mit belegter Stimme.
„Oh, das gelingt dir ganz gut“, erwidert er nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit. „Es ist dir immer gut gelungen, dich abzulenken.“
Sie hebt verwundert den Kopf.
„Meinst du…?“ Sie lacht auf. „Joe? Die Hochzeit? Ach Dorien, du kennst mich doch.“
„Ja“, murmelt er ohne sie anzusehen. „Und ich habe es nie verstanden.“
„Es geht dabei ums Geschäft.“
„Nein.“ Er hebt jäh den Kopf. „Auf unseren Abenteuern hast du mehr Gold verdient als jeder dieser Kerle in seinem ganzen Leben gesehen hat. Gib es zu, im Grunde genießt du es, dass…“
Irritiert bricht er ab.
„Selbst in deinem Traum streiten wir uns“, stellt er mit entwaffnender Nüchternheit fest. Dann seufzt er und streift ihr mit einer versöhnlichen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Tut mir leid…“
„Ist schon gut…“
Sie sinkt in seine Umarmung und schließt die Augen. Sein Atem streift ihr Gesicht und sie biegt den Kopf in den Nacken in Erwartung seines Kusses.
„Hat es dir eigentlich Vergnügen bereitet, mich zu töten?“
Sie fährt zusammen. Die Eiseskälte seiner Worte trifft sie unvorbereitet. Sie blickt zu ihm auf, sucht in seinen Blicken nach einer Erklärung, doch sie findet nur kalte Verachtung. Dann huscht ein eigenartiger Ausdruck schmerzhafter Überraschung über sein Gesicht und er schnappt röchelnd nach Luft. Blut rinnt aus seinem Mundwinkel und seine Augen flackern.
„Dorien!“
Erst jetzt spürt sie etwas Kaltes, Metallenes zwischen ihren Fingern und als sie an sich herabblickt, erkennt sie, dass es ein Dolch ist. Die Klinge steckt in Doriens Brust: sie hat sein Herz durchbohrt. Winter springt entsetzt zurück.
Das ist der Punkt, wo der Traum zum Albtraum wird.
Auf einmal hört sie hinter sich applaudierendes Klatschen. Das Geräusch klingt wie bitterer Hohn in der Stille, die Doriens sterbender Atem hinterlässt. Winter wirbelt herum.
Drake. Natürlich.
„Respekt!“, applaudiert der Albino. „Alle Achtung, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Das bringt das Fass zum Überlaufen.
„Du!“ Blind vor Wahn stürzt sie auf ihn zu, den blutigen Dolch noch in der Hand. „Mach dass du aus meinem Traum verschwindest!“
Drake lacht.
„Es ist dein Traum. Ich bin hier, weil du es willst.“
„Von wegen! Keine Ahnung wie, aber irgendwie hast du sich in meinen Traum geklinkt, um mich wieder zu manipulieren oder zu erpressen oder deine kranken Spielchen mit mir zu treiben, du verdammter Hurensohn!“, wütet Winter.
„Ehrt mich, dass du mir das zutraust, aber ich muss dich leider enttäuschen“, spottet Drake. „Nicht ich bin derjenige mit dem blutigen Dolch in der Hand. Wie schon gesagt: Meinen Respekt dafür. Aber hör doch bitte damit auf, dir einzureden, Dorien geliebt zu haben, bloß um seinem Tod einen Sinn zu geben. Das ist wirklich erbärmlich.“
„Erbärmlich ist es, eine Siebenjährige zu entführen, weil du zu feige bist, deine Freunde um Hilfe zu bitten!“
„Du lenkst schon wieder ab. Muss sehr frustrierend sein, mich diesmal nicht zum Sündenbock stempeln zu können. Dabei sollte dir im Moment etwas ganz anderes Sorgen bereiten... Dreh dich mal um.“
Wider sich selbst wendet Winter sich tatsächlich um. Dorien! Mit blutender Brust und totenbleichem Gesicht richtet er sich auf. Ein Schatten huscht über seine Züge und verwandelt sein Gesicht in eine Maske der Rachsucht. Anklagend erhebt er die Hand gegen Winter und von seinen Lippen dringen zischende Worte der Magie.
Sie schließt die Augen und spürt, wie ihr eine Träne über die Wange rollt. Ergeben breitet sie die Arme aus.
„Tu es“, flüstert sie.
Faust
Eine Sandgrube irgendwo in der Wüste, so tief wie ein Brunnenschacht und nur ein wenig breiter. Die Sonne steht senkrecht über der Schachtöffnung wie ein gleißender, pulsierender Feuerball und es ist brütend heiß. Er spürt eine Bewegung neben sich. Neben seiner Grube befindet sich eine weitere, getrennt von seiner durch ein Gitter. Darin kauert eine kleine, dunkelhaarige Gestalt. Miu. Verängstigt schlingt sie die Arme um den Körper und versucht ihr Gesicht vor den penetranten Strahlen der Sonne zu schützen. Faust lässt sich ergeben gegen die Gitterstäbe sinken.
„Willkommen in Rabenhorst“, sagt er mit einem tiefen Seufzer. „Keine Angst, Miu. Wir werden nicht ewig in diesem Loch hocken. Nur solange, bis eine Leiche durch die Decke fällt und wir uns vor Grauen durch den Sand graben oder so.“
Zur Sicherheit probiert er einen Zauber aus. Natürlich vergeblich, hätte ihn auch gewundert, wenn die Nebel es ihnen so leicht machen würden. In seiner Hosentasche ertastet er seine Glücksmünze.
Wirklich eine beschissene Idee, durch den Nebel zu gehen, tadelt er sich selbst. Als ob ich es nicht besser gewusst hätte.
Sie müssen lange warten. Schließlich weicht die Sonne dem Mond und die Wärme des Tages einer eisigen Wüstennacht. Der Durst raubt den beiden Gefangenen beinahe die Besinnung. Dann endlich vernimmt Faust Schritte im Sand.
„Hey!“, brüllt er den Schacht hinauf.
Niemand antwortet. Einer der Fremden lässt ein Seil in Mius Zelle hinab und drei vermummte Gestalten klettern schweigend in die Tiefe. Einer von ihnen zerrt Miu zu Boden und reißt ihr die Kleider vom Leib.
„Scheiße, was…nicht!“ Faust rüttelt mit aller Macht an den Gitterstäben.
Sein Gebrüll ist das einzige Geräusch. Bis er Mius schmerzerfüllten Schrei vernimmt, kehlig und rau, das erste Geräusch, das seit ihrer Kindheit von ihren Lippen dringt. Er weiß sofort, dass das in ihren Augen schlimmer ist als alles andere. Nicht die Schändung, sondern der Bruch ihres Gelübdes, ist es, was ihr Schande bereitet.
Das ist nicht seine Hölle, sondern Mius.
Sie gehen ebenso schweigend und gestaltlos wie sie gekommen sind. Miu liegt zusammengekauert am Boden und nur das lautlose Schluchzen, das dann und wann ihren Körper erzittern lässt, sagt Faust, dass sie noch am Leben ist.
„Miu…“ Er umklammert die Gitterstäbe so fest, dass seine Knöchel weiß unter der Haut hervorstechen, denn er weiß, dass nichts, was er sagt, sie trösten kann. „Verdammt, Miu, es war doch nicht deine Schuld… du warst machtlos“
„So wie du.“
Faust fährt herum. Ein Mann um die Fünfzig, aus dem Nichts erschienen, mustert ihn durchdringend aus rot glühenden Augen. Ein einnehmendes, wenn auch leicht spöttisches, Lächeln umspielt seine Lippen.
„Was ist das für ein krankes Spiel?“, fragt er düster, die Hand auf dem Schwertknauf. Zwielicht erzittert unter der Berührung. Wie beim Kampf mit dem Höllenteufel drängt das Schwert ihn zum Angriff.
„Warum konntest du ihr nicht helfen, Desmond?“, fragt der Fremde.
„Scheiße, woher kennst du meinen Namen?“
Der Rotäugige lacht leise.
„Du konntest ihr nicht helfen, weil du machtlos bist. Nur ein Mensch.“
„Und was bist du?“
Ein Schatten wischt die Erscheinung hinfort. Faust zieht sein Schwert und dreht sich wachsam um die eigene Achse. Der Schatten taucht am anderen Ende der Zelle wieder auf und materialisiert sich erneut – doch diesmal offenbart der Fremde ihm seine wahre Gestalt. Die ledernen Teufelsschwingen nehmen die gesamte Breitseite des Schachts ein und zwei kleine Hörner sprießen aus der Stirn des Wesens.
„Du solltest eigentlich wissen, was ich bin“, erklärt er.
Faust schluckt. „Mein Vater.“
Vielleicht ist es doch nur ein Traum, hofft er. Oder haben die Nebel ihn tatsächlich zu dem Mann geführt, nach dem er insgeheim seit Jahren sucht. Wenn dies kein Traum ist, dann hatte Thallastam Recht und sein Vater verkaufte seine Seele, um… ja, um was?
„Ja, ich habe eine Entscheidung getroffen“, beantwortet der Halbteufel die unausgesprochene Frage. „Weil ich die Ohnmacht nicht ertragen konnte. Nicht ertragen wollte. Ein sterbliches Leben ist zu kurz, für alles was ich sein konnte und noch sein werde.“
Faust weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Was er sagt klingt wie ein Echo seiner eigenen Gedanken.
„Und ich kann dir das selbe Geschenk machen, Desmond.“
„Zu welchem Preis?“, fragt Faust tonlos. „Den Verrat an meinen Freunden?“
Sein Vater lächelt.
„Macht ist teuer, doch sie hat nicht für jeden den selben Preis.“
Zwiespalt scheint in seiner Hand zu zerbersten.
Er kann sie spüren, die sprühende Energie, die diesem Wesen innewohnt, und sie benebelt ihn. Er verzehrt sich danach, das hat er schon immer, und der Wunsch nach Macht und Ruhm und Unsterblichkeit wird ihn immer vorantreiben. Das ist sein Schicksal. Aber nicht so… Das ist nicht sein Weg.
„Nein.“ Das Wort kommt nicht leicht über seine Lippen.
Die lässige Fassade des Halbteufels beginnt zu bröckeln und enthüllt eine grässliche Fratze des Zorns und der Verbitterung.
„Dann wählst du also die Sterblichkeit?“
„Ja…“ Für jetzt.
Der Halbteufel zieht sein Flammenschwert.
„So sei es.“
Grimwardt
Auf der Traumebene.
„Ruhe in Frieden.“
Der Traum verflüchtigte sich, noch während Grimwardt das Totengebet für Jareth sprach, und enthüllte die wahre Gestalt der Traumebene: ein gigantisches, weißes Nebelmeer, das ihm bis zu den Hüften reichte. Er spürte keinen Boden unter den Füßen, doch es bereitete ihm auch keine Schwierigkeit, sich auf dem losen Grund fortzubewegen. Der Tempuspriester machte sich auf die Suche nach seiner Gefährten.
„Verdammter Nebel!“
Grimwardt seufzte.
Er folgte dem Fluchen und überraschte Faust dabei, wie er sich verdrießlich mit dem Schwert einen Weg durch die Dunstschlieren bahnte. Der Priester trat ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
„Bist du jetzt dazu übergegangen, den Nebel zu zerhacken, statt vor ihm davonzulaufen?“, knurrte er.
„Grimwardt!“ Faust schien ehrlich überrascht. „Du hier?“
„Was soll das heißen, ‚ich hier’? Das war der Plan, oder nicht?“
„Dann… war das tatsächlich ein Traum?“
Faust schien darüber äußerst erleichtert zu sein. Grimwardt konnte nur den Kopf schütteln.
„Wenn du mir jetzt wieder was von der Hölle erzählst, könnte es gut sein, dass ich die Fassung verliere“, informierte er den Gefährten. „Sag mir lieber, ob du hier irgendwo eine Spur von Miu oder meiner Schwester gesehen hast?“
„Nein… hier nicht.“
Also wateten sie weiter durch das Nebelmeer, doch sie fanden keine der beiden. Stattdessen stießen sie nach kurzer Zeit auf ein seltsames, ovales Gebilde. Die schwarze Kapsel hatte etwa die Größe eines Sarges. Durch ein Glasfenster erblickten sie eine wunderschöne junge Frau, mit dichtem schwarzem Haar, die mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in einem Bett aus Wolken ruhte. Nur ihr Busen, der sich sanft hob und wieder senkte, verriet, dass sie noch atmete.
„Ich küsse sie“, bot Faust sich eilfertig an.
Grimwardt bedachte die Ankündigung mit einem Stirnrunzeln.
„Und in wiefern soll das unsere Mission weiterbringen?“, fragte er nüchtern.
Faust grinste. „Kennst du nicht die alten Legenden? Die Herrin der Träume kann nur durch einen Kuss aus dem Schlaf erweckt werden.“
„Meinetwegen“, brummte der Kriegspriester. „Aber zuerst müssen wir an sie heran kommen.“
Sie fanden einen Mechanismus, der das Glasfenster öffnete. Kaum hatte sich der Traumnebel aus dem Gebilde verflüchtigt, verwandelte sich die Gestalt im Innern der Kapsel: Statt in das Antlitz einer schönen jungen Frau blickten die Gefährten in die grässliche Fratze einer alten Nachtvettel. Eitrige Furunkel prangten auf ihrer Stirn und aus der schiefen Nase wuchsen gräuliche Härchen.
Faust schrak angeekelt zurück.
„Dein Einsatz“, schmunzelte Grimwardt nicht ohne einen Hauch von Schadenfreude.
„Vielleicht irre ich mich auch“, versuchte der Krieger sich aus der Affäre zu ziehen. „Die Verwandlung verschweigen die Geschichten schließlich auch.“
„Aus verständlichen Gründen“, bemerkte der Priester. „Jetzt mach schon.“
Faust schluckte.
„Für die Mission“, seufzte er aufopferungsvoll und drückte der Vettel mit zugekniffenen Augen und geschürzten Lippen einen hastigen Kuss auf die Lippen. Ein Schaudern durchfuhr ihn und er versuchte den schalen Geschmack durch eiliges Spucken und Lecken wieder loszuwerden.
„Scheint nicht zu funktionieren“, bemerkte Grimwardt. „Vielleicht musst du die Sache leidenschaftlicher angehen.“
„Leck mich.“
„Dann auf meine Art.“
Grimwardt packte die alte Hexe grobschlächtig bei den Schultern und begann zu rütteln. Mit Erfolg: Ein krötiges Krächzen drang über die Lippen der Traumherrin und sie öffnete blinzelnd die Augen.
„Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, in mein Reich einzudringen und mich aus dem Schlaf zu rütteln?“, krakeelte sie.
„Wir haben Fragen, die nicht warten können.“
„Was könnte wichtiger sein, als die Träume der Schlafenden?“
„Aus diesem Grund sind wir hier. Wir brauchen Informationen, die nur Ihr uns geben könnt, Herrin.“
„Na gut“, grummelte die Alte. „Aber beeilt Euch. Solange ich wache, sind die Schlafenden ohne Träume.“
„Zuerst wüssten wir gerne, was mir unseren beiden Gefährtinnen passiert ist“, erklärte Faust.
„Sie konnten ihre Träume nicht besiegen. Den eigenen Tod kann man nicht träumen, darum sind sie aufgewacht und haben die Traumebene verlassen.“
„Aber es geht ihnen gut?“
„Ich töte nicht. Ich zeige den Schlafenden nur ihre Ängste und Begehren durch den Spiegel ihrer Seelen.“
„Dann könnt ihr in die Seele eines jeden Sterblichen blicken?“
„Eines jeden Wesens, das schläft“, berichtigte die Nachtvettel.
„Habt Ihr auch in den Geist des Drachens gesehen, der die Bastion der ungeborenen Seelen besetzt?“, erkundigte sich Grimwardt.
„Die Bastion, schon wieder“, grummelte die Alte. Offenbar hatte der Nachtkönig von Westtor tatsächlich einen menschlichen Boten geschickt, um Informationen über den Seelenquell zu sammeln. „Ja, ich habe Ashardalons Träume gesehen. Sie handelten meist von den ungeborenen Seelen, die er verzehrte, um sein krankes Herz am Leben zu erhalten.“
„Sein krankes Herz?“
„Er stahl es von einem Dämon, nachdem Gen Soleilon von Westtor sein eigenes Herz durchbohrt hatte. Das falsche Herz tötet ihn langsam und schleichend, darum flüchtete er sich in die Bastion, um dem sicheren Tod zu entgehen.“
„Habt Ihr in den letzten Monaten eine Veränderung in seinen Träumen bemerkt?“, fragte Grimwardt weiter.
„Sie brachen ab“, krächzte die Alte. „Seit etwa zwei Monaten habe ich keine Träume mehr von Ashardalon empfangen.“
Grimwardt und Faust warfen sich einen viel sagenden Blick zu. Das ließ darauf schließen, dass Orlaks Eroberungspläne geglückt waren und er den Drachen besiegt hatte. Oder der Drache hatte den Nachtkönig dazu gebracht, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Auch in diesem Fall wären seine Träume abgebrochen, denn Untote schlafen nicht.
„Wie gelangte Ashardalon vor zweitausend Jahren in die Bastion?“, wollte Faust wissen.
„Er war im Besitz eines Splitters des Seelensteins“, sagte die Traumherrin und erklärend fuhr sie fort: „Vor vielen Millionen von Jahren, ehe der erste Sterbliche geboren wurde, erschuf Ao, der Göttervater, die Bastion der ungeborenen Seelen. Er verfügte, dass kein Gott den Seelenquell jemals betreten solle. Nach ihrer Fleischwerdung und noch im Tod mochten die Götter um die Seelen der Sterblichen werben und feilschen, doch auf die präinkarnierten Seelen sollten sie keinen Einfluss haben. So entstanden das Prinzip des freien Willens und der Bann der ungeborenen Seelen, der die Götter an Aos Verfügung bindet. Desayeus jedoch, der Gott der Zeit, setzte sich über das Verbot hinweg und erschuf den Seelenstein, um sich Zugang zu Bastion zu verschaffen. Als die anderen Götter davon erfuhren, fürchteten sie, dass Desayeus den Bann der ungeborenen Seelen brechen und Aos Zorn auf sie alle herab beschwören könnte. Darum verbannten sie Desayeus in ein Gefängnis auf einer der Äußeren Ebenen. Den Seelenstein versuchten sie zu zerstören, doch es gelang ihnen nur ihn in drei Teile zu zersplittern. Einen der Splitter behielt Desayeus in seinem Gefängnis, die anderen beiden verstreuten die Götter im Multiversum. Mit einem dieser beiden Splitter gelangte Ashardalon in die Bastion, der Aufenthaltsort des anderen ist mir nicht bekannt. Er blieb lange verschollen, ehe ich ihn vor einigen Monaten im Geist Eurer rothaarigen Freundin sah. Dann verschwand er wieder. Jeder der Splitter vermag, als Komponente für einen Ebenenwechsel gebraucht, den Träger zur Bastion zu führen. Ein anderer Weg in die Bastion ist mir nicht bekannt.“
Einen Splitter hatte Ashardalon, mit dem anderen musste Orlak in die Bastion gelangt sein. Solange der Splitter in Immerschwinge gewesen war, war er den Augen der Traumherrin verschlossen geblieben, denn Elfen schlafen nicht. Und als der Vampirklon ihn gestohlen hatte, war er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Somit blieb den Gefährten nur eine einzige Möglichkeit, in die Bastion der ungeborenen Seelen zu gelangen: Sie mussten den dritten Stein finden, jenen, den der gefallene Gott behalten hatte.
„Die Götter verbannten Desayeus auf eine der Äußeren Ebene, sagtet Ihr?“, fragte Faust nach.
„Nach Agathion, den Mittelpunkt einer Ebene namens Pandämonium, ja“, erklärte die Nachtvettel. „Sein Gefängnis wird von einem mächtigen Erzengel bewacht, einem Solar… Erlaubt Ihr nun, dass ich mich wieder zur Ruhe lege?“, grantelte die Traumherrin. „Ihr habt lange genug die Zeit der Träumerin in Anspruch genommen.“
„Eine Frage noch“, bat Grimwardt. Für den Fall dass Ashardalon – in welcher Form auch immer – noch immer in der Bastion weilte, blieb da noch die Frage nach seiner Bezwingung. „Um den Drachen Ashardalon zu besiegen, so heißt es, ist die Hilfe eines Erben des Soleilon nötig. Wir kennen da zwar jemanden, aber dieser Jemand versteht sich recht gut darauf, sich nicht aufspüren zu lassen. Könnt Ihr uns wohl sagen, wo wir einen gewissen Drake finden?“
„Drake was?“, blaffte die Vettel.
„Seinen Nachnamen hat er uns nie verraten. Er ist ein Auftragsmörder, der in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste sein Unwesen treibt.“
„Ein Erbe des Soleilons?“ Sie dachte nach. „Ihr meint wohl Drake Noar… Ihr kommt häufig in seinen Träumen vor. Ihr und Eure Schwester.“
Na hoffentlich bereiten wir ihm Albträume, dachte Grimwardt grimmig.
„Derzeit ist er in der Stadt Tiefwasser, auf der Suche nach seinem alten Lehrmeister. Er hat ein Zimmer im Gasthaus Zum Gähnenden Portal.“
„Ich danke Euch. Das war sehr hilfreich.“
„Nun dann, auf Wiedersehen in Euren Träumen“, gnatzte die Alte und sank zurück in ihre Schlafkapsel. Als sie den Mechanismus betätigte, füllte sich der Boden mit Traumnebel und die Nachtvettel nahm wieder das Aussehen der jungen Träumerin an.
Als Grimwardt an Drake dachte, konnte er sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sieht so aus, als ob wir diesmal die Überraschungsgäste sein werden.“