Kapitel VI: Die Insel
Winter
Haibannmauer, zwei Tage später.
Seite an Seite harrten die vier Freunde auf der schillernden Elfenkonstruktion, die den Ozean an seiner schmalsten Stelle teilte. Da sich Dimensionsreisen in Gebieten unbändiger Magie als tückisch erweisen konnten, hatten sie sich Nhalloth zu Fuß genähert. Fast elf Seemeilen waren sie über die Haibannmauer aufs offene Meer hinaus gewandert. Wenn Fausts Berechnungen stimmten, mussten sie die Vollmondinsel von hier aus sehen können. Dann kam der Sonnenuntergang. Im Westen zerfloss die Blutsonne wie Wachs in ihrem eigenen Spiegelbild und aus der Glut materialisierte sich eine flimmernde Erscheinung. Als das Inferno der untergehenden Sonne dem Silberglitzern des Vollmonds gewichen war, nahm das Gebilde Gestalt an: Eine bewaldete Insel schwamm etwa eine Seemeile voraus auf den Wellen.
Ohne das feierliche Schweigen zu brechen, wob Winter einen Flugzauber über die kleine Gruppe und hielt auf den Waldrand zu. Hier hätten sie, Joes Karte zufolge, die Ruinen eines alten Wachturms finden sollen. Doch dort, wo der Piratenkapitän Mauertrümmer und Geröllhaufen eingezeichnet hatte, stießen sie nur auf tropische Bäume und exotische Farngewächse. Hatte sich der Wald alles einverleibt, was von der alten Metropole übrig war? Wie sollten sie ohne Anhaltspunkte den Geheimgang finden?
Ratlos beugten sie sich über die Schatzkarten.
„So wie es aussieht, liegt der Eingang im Hof eines großen Gebäudekomplexes… ein Palast oder Tempel“, überlegte Faust. „Vielleicht ein alter Brunnenschacht?“
„Einen Versuch ist es wert“, fand Winter.
Ein leichtes Kribbeln ließ sie die Finger spreizen, als sie spürte, wie ihr Suchzauber die Ortungsfühler ausfuhr. Ihre Sinne flossen mit dem Zauber in die Erde auf der Suche nach alten Mauerresten. Doch soweit sie der Magie auch ins Erdreich folgte, sie stieß weder auf einen Brunnenschacht noch auf andere Hinweise auf eine untergegangene Zivilisation.
„Nichts. Irgendwas müssen wir übersehen haben.“
„Was ist mit dem zweiten Teil des Rätsels?“ Grimwardt deutete auf die Karte, die Faust in der Hand hielt. „Nur wer verkehrt herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth.“
Sie drehten die Karten zu allen Seiten, doch die Zeichnungen gaben keine neuen Erkenntnisse preis. Hatten sie etwas übersehen? Gab es eine weitere Karte? Oder versteckte Hinweise auf Joes Körper, die durch die Kopien verloren gegangen waren?
Plötzlich lachte Faust auf.
„Ich hoffe, irgendwer von euch hat ein paar Wasseratmungs-Zauber einstudiert!“
Nach einem Moment verständnislosen Stirnrunzelns stieß auch Grimwardt ein begreifendes Grunzen aus und Mius Lippen formten ein lautloses „Ah“. Halb beschämt, halb gereizt stemmte Winter die Hände in die Hüften.
„Könnte mich mal jemand aufklären?“
Faust
Kurz darauf.
Wachsam glitten sie durch das trübe Unterwasser-Dickicht der Inselunterseite. Der Ozean hatte die Ruinen Nhalloths mit einem wuchernden Teppich aus Algen und Meergestein überzogen. Kaum mehr als ein paar Mauerreste hatten die Jahrhunderte überdauert. Der Rest war in der unerreichbaren Tiefe des Ozeans versunken, als die Netherstadt kopfüber vom Himmel gestürzt war. Träge wogten Polypenkolonien zum Takt der Strömung und enthüllten dabei halb zersetzte Trümmerblöcke, während Fischschwärme durch muschelüberzogene Torbögen stoben. Über die verwitterten Gesichter zerbrochener Standbilder krochen finstere Tiefenwesen wie um die Vergessenen zu verhöhnen: Seht wo ihr gelandet seid, Himmelsfahrer!
Winter, deren Ortungszauber noch aktiv war, schwamm voraus. Die Magie führte sie ins Palastviertel der untergegangenen Stadt, wo sich Fausts Vermutung bestätigte: Zwischen den Ruinen fanden sie die Überreste einer Brunnenmauer und ein tintenschwarzes Loch, halb überwuchert von Algen und Muscheln. Wieder war es Winter, die voran glitt, um die Finsternis des Brunnenschachts nach Spuren von Magie zu untersuchen. Nach einigen Schwimmzügen enthüllte sie an der Brunnenwand hinter einem Algenschleier eine gallertartige Oberfläche, die bei magischer Betrachtung blau zu glühen begann. Mit einem stummen Zauber bannte sie eine Schutzglyphe, die ungebetene Gäste abhalten sollte. Dann streckte sie vorsichtig erst eine Hand durch die magische Masse und glitt dann mit dem ganzen Körper hindurch. Faust folgte ihr. Die Substanz ließ sich wie Gelee zerteilen und führte in einen wasserleeren Raum. Während er sich durch die Öffnung zwängte und zu Boden gleiten ließ, stellte er erstaunt fest, dass kein Tropfen Wasser an ihm haftete: Der Gallerteingang schien dazu konstruiert worden zu sein, das Brunnenwasser zu absorbieren.
Während Winter nach weiteren magischen Fallen Ausschau hielt, folgten sie Joes Karten durch den Höhlenkomplex. Der Untergrund – oder vielmehr die Raumdecke, über die sie liefen - war oft rissig und gewölbeartig geformt und es bedurfte einiger Übung, durch Türen zu klettern, die an der Wand zu hängen schienen. An einigen Stellen war es zu neuen Wandeinstürzen gekommen und sie waren gezwungen einen Umweg zu nehmen. Dennoch führte ihr Weg sie immer tiefer ins Erdreich. Sie mussten sich etwa im Kern der Insel befinden, als Winter stehenblieb.
„Spürt ihr das?“
Faust begriff sofort, was sie meinte: Ein magisches Knistern lag in der Luft, begleitet von einem sirrenden Fiepen, das sich verlor, wenn man es zu lange hörte. Der magische Kern der Netherstadt konnte nicht mehr weit sein. Und tatsächlich: Hinter der nächsten Tür stießen sie auf den Mythallar von Nhalloth. Die magische Spannung war hier so stark, dass Faust spürte wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Der Raum war größer und höher als die Gänge, durch die sie bisher gekommen waren. In seiner Mitte, gleich über dem Boden, schwebte eine Glaskugel, die eine Manneslänge im Durchmesser maß. Im Innern der Kugel wanden sich violette Schlieren aus roher magischer Energie wie tanzende Muränen umeinander. Durch einen Sprung in der Glasummantelung drangen Spuren magischer Energie, während von außen eine andere, schwarze Substanz in die Kugel hineinfloss und sich in dunkleren Schlieren mit der Magie im Innern vermischte. Vermutlich hatte der Mythallar einst in der Mitte des Raums geschwebt. Die Erschütterung des magischen Gewebes musste ihn aus der Bahn geworfen haben, sodass er zu Boden gefallen und gesprungen war, als sich die fliegende Enklave beim Sturz um die eigene Achse gedreht hatte. Als das Gewebe wieder hergestellt war, hatte die Kugel ihre Funktion wieder aufgenommen und hielt Nhalloth seitdem als schwimmende Insel in der Schwebe. Vermutlich waren andere Funktionen des Mythallars durch den Sprung außer Kontrolle geraten, was zu den ungewöhnlichen Dimensionssprüngen der Insel geführt hatte.
„Nicht!“ Faust hielt Winter zurück, als sie sich der Kugel nähern wollte. „Das ist Urmagie… Es gibt nichts Tödlicheres.“
„Ich weiß“, murmelte Winter, machte aber dennoch einen Schritt auf den Mythallar zu. „Seht ihr die schwarzen Schlieren, die von außen eindringen? Das ist Schattenessenz. Ich glaube, sie reagiert mit der Urmagie und verändert die Gewebezusammensetzung in diesem Raum...“
Jetzt spürte auch Faust, dass etwas nicht stimmte. Je näher er der Kugel kam, desto gedämpfter wirkte sein Lichtzauber… Schattenmagie!
„Eine Verschmelzung“, murmelte er.
„Ja, genau, das ist es!“, erkannte Winter.
„Und was hat das zu bedeuten?“, brummte Grimwardt.
„Das bedeutet, dass es ziemlich nützlich wäre, das Ding bei unserem nächsten Ausflug in die Wüste dabei zu haben…“, setzte Faust an und Winter vollendete den Gedanken: „… weil in der Nähe des Mythallars alle Zauber über das Schattengewebe gewirkt werden!“
„Ihr wollt nicht ernsthaft einen Mythallar mit euch rumschleppen!“
„Das Problem ist eher, dass es unmöglich ist, einen Mythallar mit sich herumzuschleppen“, seufzte Faust.
„Unmöglich ist es nicht…“, widersprach Winter.
Sie hatte natürlich Recht… Irgendwer hatte die Kugel erschaffen und an diesen Ort bewegt. Doch die Hocharkanisten des alten Imperiums hatten über magisches Wissen verfügt, das heute verloren war. Magisches Wissen, das es mit der Wortmagie der ersten Göttergeneration aufnehmen konnte. War es möglich, dass Winters Schattenpakt ihr Zugang zu dieser Macht gewährte? Gespannt sah er zu, wie sie sich der Kugel näherte, die Gesichtsmuskeln angespannt, die Lider geschlossen, alle Sinne auf das unterschwellige Surren der Magie fokussiert. Jäh ließ eine plötzliche Energiewelle den Mythallar erzittern. Winter sog keuchend die Luft ein. Doch nichts weiter geschah – die Kugel bewegte sich nicht vom Fleck. Verbissen wollte sie einen weiteren Schritt auf den Mythallar zumachen, doch Faust hielt sie zurück.
Stumm schüttelte er den Kopf. Zu gefährlich.
Winter zögerte. Doch dann siegte die Vernunft über ihren Ehrgeiz.
Grimwardt räusperte sich.
„Wir sollten weitergehen.“
„Wir sind fast da.“ Faust deutete auf die Karte. Nur noch die Grabkammer der Hochfürsten trennte sie von dem Raum, den Joe als Schatzkammer markiert hatte.
„Grabkammer klingt nach Untoten“, bemerkte Grimwardt. „Ich würde auf ein paar Leichname tippen.“
„Ich hätte da eine Idee, wie sich das herausfinden ließe...“
Winter
Kurz darauf.
Besorgt kniete Miu an Fausts Seite, während er sich zuckend am Boden wand. Der Zauber dauerte nun schon mehrere Minuten an und allmählich begann auch Winter, unruhig zu werden. Faust meisterte mit Leichtigkeit magische Formeln, die der Hexenmeisterin Kopfschmerzen bereiteten. Allerdings beschränkte sich sein arkanes Interesse für gewöhnlich auf Verbesserungs- und Schutzmagie. Doch das hier war höhere Aufklärungsmagie. Ein aufwendiges Ritual, das Seher anwandten, um die Geschichte eines Ortes oder einer Person auszuspionieren. Der Schwertkämpfer musste während seiner Studien zum Zeitstrom auf den Spruch gestoßen sein. Es war nicht ungefährlich, ihn auf einen Ort mächtiger Magie anzuwenden, denn man wusste nie, mit welchen Mitteln seine Erbauer ihn womöglich gegen Ausspähung gesichert hatten.
Als die Vision ihn schweißgebadet aus ihrem Griff entließ, war Faust für einige Augenblicke orientierungslos. Miu fasste ihn behutsam an den Schultern.
„Was hast du gesehen?“, fragte Winter.
Irritiert blinzelte er sie an. Dann erhob er sich unsicher, trat wankend auf die Wand zu und räumte ein paar Säulentrümmer zur Seite. Darunter erspähte Winter eine schwache magische Aura. Ein einfacher Bannzauber entlarvte eine Wandillusion. Dahinter klaffte ein dunkles Loch im Stein.
„Ein Geheimgang?“, wunderte sich Winter. „Der ist nicht auf der Karte verzeichnet. Wie konnten Joes Leute den übersehen? Die Illusion ist geradezu schlampig platziert.“
„Zu Joes Zeiten existierte er noch nicht“, erklärte Faust.
Er berichtete, was die Vision ihm offenbart hatte: Der Mythallarraum hatte sich zur Zeit des Ersten Imperiums unter dem Palast der Stadtfürsten befunden. Zunächst hatten nur die mächtigsten Arkanisten der Stadt Zutritt zu den Gewölben gehabt. Doch während der Phaerimm-Kriege hatte man einen Rückzugsort gesucht für den Fall, dass die Stadt vom Feind eingenommen würde. Damals wurde der Geheimgang durch den Brunnen angelegt und Portale geschaffen, die Flüchtlinge im Ernstfall aus der Stadt führen sollten. Ein paar Jahre zuvor hatte der erste Stadtfürst angeordnet, in unmittelbarer Nähe des Mythallars beigesetzt zu werden – im pulsierenden Herzen der Stadt. Seine Nachkommen hatten die Tradition fortgeführt.
„Sie sind übrigens tatsächlich tot – nicht untot“, berichtete Faust. „Ihre Gräber wurden von Wächterstatuen bewacht, doch die wurden von Joe und seiner Bande zerstört. Als die Piraten kamen, plünderten sie die Gräber und lagerten ihren Schatz hier. Doch Joe, der alte Halunke, schaffte das Zeug weg, ehe er sich in Morlochs Hände… oder vielmehr in Morlochs Tentakel begab. Allerdings war der Illithid gar nicht an dem Schatz interessiert. Er hatte es auf den Mythallar abgesehen. Es gelang ihm nicht, ihn Kraft seiner Gedanken zu bewegen, darum versuchte er es mit Zaubern. Seine Schattenmagie drang durch den Sprung in die Kugel ein – darum die Verschmelzung der Gewebe. Doch das verstärkte nur Morlochs Interesse. Ich glaube, dass er zu Anfang seiner Mission für Fürst Xantes arbeitete. Er muss sich während der Pestjahre mit den Umbranten verbündet haben. Aber das Geheimnis des gesprungenen Mythallars wollte er wohl nicht mit seinen Auftraggebern teilen. Warum sonst zog er nicht ein paar Experten aus Umbra hinzu, um das Ding zu bewegen? Zumindest einige der Schattenprinzen dürften dazu in der Lage sein. Aber nach allem, was Omega Grimwardt erzählt hat, hat Morloch gottgleiche Kräfte – der Gedanke, dass seine Magie künftig von einer Menschengöttin abhängt, dürfte ihm ziemlich schlecht geschmeckt haben. Wahrscheinlich hoffte er, durch den Mythallar von Shars Gewebe unabhängig zu sein. Oder er wollte die Kugel verkaufen. Welcher Gegner Telemonts würde sich nicht die Finger lecken nach einem Gerät, mit dem sich das Schattengewebe umgehen lässt! Den Geheimgang schuf er vermutlich, weil die Kugel nicht durch die Öffnung im Brunnen passen würde.“
„Wohin führt er?“
„In eine Felsgrotte. In jeder Vollmondnacht ankert dort die Sturmhexe mit Morloch an Bord. Meist kommt er her, um seine Studien an dem Mythallar fortzuführen oder Kapergut zu verstecken.“
„Dann ist er auch jetzt dort?“
„Vermutlich.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Grimwardt.
Winter bildete das Schlusslicht, als sie durch das Loch in die Dunkelheit traten.
Mächtige Konstruktionsmagie hatte den Geheimgang in den Fels gegraben. Fallen gab es nicht: Nicht nur bei der Tarnung, sondern auch bei der Sicherung des Ganges schien Morloch nachlässig gewesen zu sein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand sein Versteck entdecken könnte. Hätte er gewusst, dass sich Joes Pestnarben nach seinem Tod zurückbilden und die Tätowierungen freigeben würden, hätte er dem Piraten vermutlich eigenhändig die Haut vom Leib gezogen… Tut mir leid, Joe, dass du auf diese Weise dein Ende finden musstest, dachte Winter plötzlich. In Narbental hatte sie kein Mitleid mit dem aufgeblasenen Protzhahn empfunden. Doch am Ende hatte auch Joe nur versucht diejenigen zu schützen, die ihm wichtig waren...
Als sich das Ende des Ganges abzeichnete, begannen sie, sich mit Schutzzaubern auf den nahenden Kampf vorzubereiten. Dann plötzlich… Undeutlich erkannte Winter, wie ein großer, schwerer Gegenstand auf sie zu polterte. Jemand keuchte auf, doch sie konnte nicht erkennen, wer getroffen war. Gleichzeitig ertönte das irre Kampfgebrüll der Pestberührten. Um besser sehen zu können, was vor sich ging, versuchte sie aus dem Gang in die Höhle zu teleportieren. Sie hatte Glück. Der magische Schutzschild der Insel ließ den Dimensionssprung zu.
Eine riesige Grotte.
In der Mitte klaffte ein Wasserloch, aus dem sich schwarz und ölig das Wrack des Korallenschiffs erhob. Und nun erkannte Winter auch, was da krachend auf ihre Freunde im Höhleneingang niedergefahren war: Es war ein Schiffsmast! Die Sturmhexe hatte den Kampf eröffnet. Knarrend und dröhnend neigte sich das Schiff zur Seite und versuchte Faust unter der schweren Last des Mastes zu zerquetschen, während die pestberührten Werhaizwillinge – die letzten Überlebenden der Mannschaft – von Bord gesprungen waren, um Grimwardt und Miu von Faust abzuschneiden. Winter zückte ihren Zauberstab. Ein nebliger Schleier streifte ihre Augen, als sie die Magie in ihren Fingerspitzen sammelte. Wie eine ausgehungerte Schlange schnellte das schwarze Zaubergezücht in die Höhe und fraß sich in die Bordwand der Sturmhexe, die innerhalb von Sekunden zu einem Klumpen morschen Holzes mutierte. Wie ein verwundetes Tier bäumte sich das Schiff auf: Schwerfällig schraubte sich der Bug in die Höhe, während sich das Heck wie bei einem sinkenden Schiff in die Tiefe bohrte. Dann plötzlich ein Rucken und Winter verschwand im drohenden Schatten des Achterkastells, das mit Fallgeschwindigkeit auf sie niederfuhr. Doch ehe das Ungetüm sie in den Tod reißen konnte, wurde sie zur Seite gestoßen und fiel auf die Knie. Plötzlich war Faust über ihr, um sie gegen den Splitterhagel abzuschirmen, der über sie hereinbrach, als der Rumpf des Piratenschiffs auf dem harten Steinboden aufschlug. Sofort war der Schwertkämpfer wieder auf den Beinen, um sich mit einem irrwitzigen Sprung aufs Deck des Schiffs zu katapultieren. Doch noch gab sich die zähe Galeere nicht geschlagen. Noch einmal bäumte sie sich auf wie ein buckelndes Pferd, während sich Faust immer tiefer ins Herz des Ungetüms vormetzelte.
Winter erkannte, dass sie hier nicht mehr gebraucht wurde: Über kurz oder lang würde das Schiff unter Fausts Hieben auseinanderbrechen und Grimwardt hatte die beiden Pestberührten fest im Griff.
Morloch, wo bist du?
Die Schatten der Grotte umgaben sie wie ein schützender Mantel, als sie an der Felswand entlanglief, unsichtbar und lautlos. Ein Flecken gähnender Schwärze, tiefer als die umgebende Dunkelheit, kündigte einen weiteren Höhleneingang an. Winter spürte die Anwesenheit des anderen Schattenmagiers wie eine Aura, die stärker wurde, je näher sie der Höhle kam.
Dann plötzlich eine Bewegung.
Es geschah so schnell, dass Winter nur einen vorbeihuschenden Schatten wahrnahm. Plötzlich wurde sie sichtbar. Nicht nur das! Etwas unterdrückte all ihre Schutzzauber und schnitt sie vom Schattengewebe ab. Eine antimagische Zone! Im nächsten Moment durchzuckte sie eine Welle irrsinniger Kopfschmerzen, doch sie widerstand dem beißenden Schmerz, der sie in die Knie zu zwingen drohte. Keuchend wirbelte sie herum… und blickte in ein bleiches Tentakelgesicht mit winzigen, feuchten Augen. Etwas Träges, Melancholisches lag in diesen tränenden Augen, das in seltsamem Kontrast zu Morlochs übernatürlicher Schnelligkeit lag.
Es gibt Ozeane, die jünger sind als Wir, zuckte es durch ihre Gedanken. Unter Unseresgleichen sind Wir ein Gott. Und du glaubst, dich an Uns anschleichen zu können?
Es klang fast mitleidig. Dann eine kalte Berührung an ihrer Stirn: Zwei Tentakel krochen über ihre Schläfen und zwangen sie in die Knie.
Wieder war es Faust, der sie rettete.
Die Klinge über dem Kopf erhoben, tauchte er plötzlich hinter dem Gedankenschinder auf. Im Sprung trat er der Kreatur in den Nacken und Morloch ließ von Winter ab. Mit wirbelnder Klinge drosch Faust auf den am Boden liegenden Gegner ein. Doch die magieunterdrückende Zone, die den Illithiden umgab, beraubte Zwiespalt seiner magischen Fähigkeiten, sodass Morloch schneller regenerierte als er auf ihn einschlagen konnte. Dann wurde Faust mit einem Mal von einer unsichtbaren Macht erfasst und gegen die Grottenwand geschleudert. Wankend rappelte Morloch sich auf. Ein telepathisches Zischen, erfüllt von Zorn und Ungläubigkeit, schnitt durch Winters Geist. Sie spürte lediglich einen Luftzug an der Wange, als der Schatten des Illithiden an ihr vorbeiraste und in der Dunkelheit der Grotte verschwand.
„Elender Feigling“, ächzte Faust, während er schwankend auf die Beine kam.
„Wieso kann er in einer antimagischen Zone zaubern?!“
„Das ist keine Magie“, knurrte er.
Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht.
„Faust?“ Plötzlich war ihr flau im Magen. Keine Magie... „Er ist zu stark für uns, oder?“
Faust antwortete nicht. Seine Augen flackerten unstet. Er schien fieberhaft nachzudenken.
„Bring den Mythallar her“, sagte er plötzlich.
„Was?! Faust, du hast doch gesehen – das übersteigt meine Kräfte!“
Faust war schon wieder auf dem Sprung, um Morloch nachzusetzen.
„Versuch es!“, rief er ihr über die Schulter zu. „Es ist unsere einzige Chance!“
Winter schloss die Augen und hüllte ihren Geist in Schatten, um die drohende Panik niederzukämpfen. Ein Dimensionssprung brachte sie zurück in den Mythallarraum.
Es ist das einzige, was du für deine Freunde tun kannst.
Sie holte noch einmal tief Luft und öffnete die Augen.
Faust
NEIN.
Für einen grässlichen Moment glaubte Faust den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Illithid hatte Grimwardt und Miu mit einem betäubenden Gedankenbann belegt. Miu harrte bleich und starr neben dem Höhleneingang. Grimwardt, die Axt getränkt vom Blut der Werhaizwillinge, war unter der Berührung der vier tödlichen Tentakel in die Knie gebrochen. Über ihm harrte der Gedankenschinder. Sein Schatten, wie der Geist einer mehrarmigen Gottheit, prangte überlebensgroß an der Grottenwand. Gefasst und schicksalsergeben ruhte der Blick des Kriegspriesters auf dem herannahenden Gefährten. Tu es nicht, schien dieser Blick zu sagen. Plötzlich ging ein jähes Schaudern durch seinen Körper – ein letztes Aufbäumen, ehe sich der neblige Schleier des Todes über seine Augen legte.
Mit erstarrtem Blick, wie ausgesaugt, kippte der Auserwählte des Tempus zur Seite.
Das Bild fraß sich in Fausts Seele und berührte dort jenen Punkt, der sein Bewusstsein im Blutrausch ertränkte. Wirre, rot getünchte Bilderfolgen drängten sich ihm auf. Blutfontänen, zerteilte Gliedmaßen, das Geräusch einer berstenden Lunge…
Tu es nicht.
Faust schloss die Augen. Er konnte diesen Gegner nicht besiegen. Nicht so. Er musste bei klarem Verstand bleiben.
Er rannte schneller.
Die Geräusche implodierten in seinem Kopf, als er zum Sprung ansetzte. Ein Tritt in die Magengrube katapultierte Morloch in den Gang, der in den Mythallarraum führte, und der Schatten der mehrarmigen Gottheit wurde in das schwarze Loch der Höhlenöffnung gesogen. Noch im Sprung fokussierte Faust all seine Konzentration auf den vergangenen Moment des Absprungs und drehte so die Zeit um den Bruchteil eines Augenzwinkerns zurück. Der geklaute Augenblick erlaubte es ihm, den zeitbetäubten Gedankenschinder um eine weitere Armlänge in die Finsternis des Ganges zu stoßen. Sofort wollte er mit einem Schwerthieb nachsetzen, doch diesmal kam Morloch ihm zuvor. Faust schickte seinen Geist an einen Ort der Zeitlosigkeit, um ihn unangreifbar zu machen für den wütenden Gedankenstoß des Illithiden.
Plötzlich streifte ihn ein Strahl violetten Lichts. Der Mythallar! Es war nicht mehr weit!
Die Aussicht verlieh Faust neue Kraft. Ein weiterer Sprung, ein weiterer Hieb. Nun begriff auch sein Gegner, was er vorhatte: Er mochte sich für einen Gott halten, doch seine Magie war die Magie eines Sterblichen. Gegen ein so mächtiges Artefakt wie den Mythallar war sein magieunterdrückender Schutzschild wirkungslos. Die Erkenntnis trieb Morloch die Angst in die Augen. Sein nächster Gedankenstoß brachte die Mauern der Festung ins Wanken, die Faust um seinen Geist errichtet hatte, und nur mit allergrößter Mühe gelang es dem Schwertkämpfer, den Angriff abzublocken. Er spürte, wie seine Kräfte ihn verließen.
Noch ein letzter Sturm.
Brüllend nahm Faust Anlauf und stieß seinen Gegner mit der Kraft der Verzweiflung in den Raum – mitten ins knisternde Energiefeld der Kugel. Morlochs gellender Schrei wurde vom Zischen der magischen Uressenz verschluckt, die ihn mit Ketten aus violetten Blitzen an die magisch aufgeladene Glaskugel fesselte. Jede Ader erstrahlte unter der gleißenden Helligkeit der Blitze, die seinen Körper krümmten und schüttelnden. Als die Kugel ihn aus ihrer Umklammerung entließ, roch es nach verkohltem Fleisch. Die Roben des Illithidenmagiers waren verbrannt und die Haut darunter schrumpelig und schwarz.
Aber er lebte.
Wankend stolperte er einen Schritt auf seinen Peiniger zu. Faust erstarrte, als ein gleißender Blitz durch seine Gedanken schoss und die Verbindung zwischen Geist und Körper durchtrennte. Blind und gelähmt sank er vor seinem Gegner auf die Knie.
Das war’s, dachte Faust, als er die kühle Berührung einer Saugdrüse auf seiner Stirn spürte.
Doch etwas ließ Morloch innehalten.
Faust öffnete die Augen. Ein Déjà-vu: Der Illithid zuckte in der magischen Umklammerung des Mythallars. Aber wie…? Winter! Durch die Schlieren, die sich im Innern der Kugel einen wilden Tanz lieferten, erspähte er seine Gefährtin. Blindschleichen aus violettem Licht krochen über ihr schweißglänzendes Gesicht, das vor Entschlossenheit kantig und starr wirkte. Sie hatte es geschafft – sie hatte den Mythallar auf Morloch gelenkt! Und diesmal gab es kein Entrinnen. Als der Körper des Gedankenschinders zu Boden sank, waren seine Augen zu schwarzen Höhlen verbrannt und Schattenschlieren traten dampfend aus brandigen Löchern in seinem Körper.
Jetzt gab es keinen Grund mehr, dem Rausch Einhalt zu gebieten. Brüllend vor Zorn und Schmerz packte Faust den geschundenen Körper des Urwesens und schleuderte ihn gegen die Wand. Wieder und wieder ließ er den Schädel des Toten gegen den Fels krachen, bis ihm der Blutschleier die Sicht versperrte.
„Faust.“
Keuchend hielt er inne, als er Winters eiskalte Hand auf seiner Schulter spürte. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, doch seine Verzweiflung und sein Zorn waren Auskunft genug. Wortlos wandte sie sich um. Ihre Schritte klangen dumpf von der Höhlenwand wieder. Wie in Trance folgte er ihr in die Höhle. Als sie die Leiche ihres Bruders in den Armen der weinenden Miu erblickte, blieb sie abrupt stehen. Kein ersticktes Schluchzen, kein entsetztes Aufkeuchen. Ihr erstarrtes Schweigen umgab sie wie ein Schutzwall, den Faust nicht zu durchbrechen wagte.
Als er den Blick hob, erspähte er den Geist des toten Piratenkapitäns zwischen den Überresten seines zerstörten Schiffs. Joe nickte ihm zu, ernst und dankbar. Als Faust das nächste Mal hinsah, war der Geist verschwunden.
Nach einer halben Ewigkeit wandte Winter sich zu ihm um.
„Wir müssen zurück“, sagte sie betäubt. „Die Totenfeier… Es gibt noch so viel zu erledigen.“
Winter
Abtei des Schwertes, drei Tage später.
Grimwardt lag aufgebahrt in der Großen Gebetshalle. Die Strahlen der Morgensonne fielen wie Säulen aus Licht durch die hohen Deckenfenster. Er sollte in der zeremoniellen Rüstung des Abteivorstehers begraben werden. Seine magischen Gegenstände ruhten in Becken mit heiligem Feuer, das man in einem Ring um das Totenbett entzündet hatte. Drei Tage – so lange wie die Zeremonie andauerte - würden sie dort brennen, um seine Seele von allen weltlichen Bindungen zu reinigen. So war es Brauch.
Fast sechzig Trauergäste hatten sich zur Totenwache in der Gebetshalle versammelt – ihr Schweigen nur unterbrochen vom monotonen Klang der rituellen Trommeln. Vor den Toren der Abtei warteten weitere zehn Duzend und viele mehr wurden für die nächsten Tage erwartet. Pilger, die aus allen Ecken Faerûns von der Schwertküste bis zum Drachengriff angereist waren, um ihrem Helden die letzte Ehre zu erweisen.
Lady Lucia, Grimwardts gnomische Nachfolgerin, harrte im stummen Gebet auf der Schildempore, flankiert von seinem alten Freund Borgo und dem Ritter Silas. Dahinter die offiziellen Staatsgäste: Der Fürstengeneral vom Schlachtental sowie Gesandte aus den umliegenden Tälern. Abteipriester, Soldaten und Rekruten bevölkerten die Galerie. Winter kniete auf der Gebetsbank auf der gegenüberliegenden Seite zwischen ihren Eltern und Faust und Miu. Um sie herum ihre Freunde und Bekannte: Die Elfenfürsten Nimoroth und Kalith aus Myth Drannor, die Magierin Xara Tantlor und ihr Sohn Riven aus Silbrigmond, Erdmute Steinfaust von den Sundabarer Steinschilden, die Illusionistin Razeema und der Halbork-Barde Grax aus Heinos Wanderzirkus, Elijas von den Neun Schwertern, Fürst Marcus Wands aus Tiefwasser, Boltor der dauerbesoffene Zwerg… Sogar Drake war erschienen. Verborgen im Schatten harrte der Albino zwischen den Säulen im hinteren Teil der Halle, wo er sich unbeobachtet glaubte.
Sie alle waren auf Winters Bitten gekommen. Drei Tage lang war sie durchs Land gezogen, um die traurige Botschaft zu verkünden. Nur Scarlet hatte sie nicht auffinden können. Laguna hatte den magischen Kontakt zu seinem Vater Nimoroth abgebrochen. Als Winter zum Versteck der Sandfürsten teleportiert war, um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte sie nur noch einige verstreute Hinweise auf ein verwüstetes Lager gefunden. Ein halb vom Sand verwehter Grabstein wies darauf hin, dass Sandfürst Zarif Abu Sayama dort begraben lag. Vermutlich hatten Scarlet und Laguna seine Leiche bei ihrer Rückkehr in die Anauroch gefunden und bestattet. Ob die Nether-Patrouillen, die das Rebellennest ausgehoben hatten, ihnen dort aufgelauert hatten? Ob sie sich einer anderen Guerillazelle angeschlossen hatten? Winter wusste nur, dass ihre Tochter noch am Leben sein musste, denn Nimoroth hatte aus einigen Bedinenstädten Botschaften von Mittelsmännern erhalten, die belegten, dass Laguna und Scarlet dort durchgereist sein mussten. Lundeth, Tel Badir… Die Spur der beiden verlor sich im Sand.
Vielleicht ist es besser so, dachte Winter.
Die Zeremonie. Die Trommeln. Die Gäste… Ihr Bruder hätte all den Pomp gehasst. Doch dies war nicht nur seine Totenfeier… Es war eine einfache Entscheidung gewesen. Eine eigenartige Ruhe hatte Besitz von ihr ergriffen. Die Spiegel des Desayeus hatten sich geirrt. Sie hatte umsonst ihre Seele verkauft. Sie spürte den Hunger wie einen Parasiten, der sie von innen auffraß. Und sie wusste, der nächste leergesaugte Schatten würde nichts mehr von ihr übrig lassen, denn es gab nichts mehr, wofür sie kämpfte. Es gab keine Monster mehr zu töten. Nur noch das eine.
Sie beschwor in ihrem Geist ein Bild ihrer Pirateninsel. Die schneeweißen Strände, das türkisfarbene Wasser, der azurne Himmel. In Gedanken lief sie wieder durch den Dschungel, bis sie auf die fliegende Erdscholle mit den blau phosphorzierenden Farngewächsen und den riesigen, außerirdischen Knollenbäumen stieß. Wenn man mitten drin stand, musste das Zauberleuchten wunderschön sein.
Ein guter Ort zum Sterben.
Ein Blinzeln holte sie in die Wirklichkeit zurück. Feierlich erhob sie sich, um ihren Bruder als erste der Anwesenden mit dem rituellen Totenkuss zu ehren. Sanft blickte sie in das blasse, ernste Gesicht… und erstarrte.
Grimwardt
Stadt der Seelen, Fugenebene.
Bang harrte er im Hafen der Kristallstadt und wartete auf die Barke, die ihn ins Jenseits bringen sollte. Wage erinnerte er sich daran, dass er im Leben ein großer Mann gewesen war. Ein Held. Ein Diener seines Gottes. Doch hier an diesem Ort war er nur eine Seele, die auf ihre Erlösung wartete. Wie all die anderen Seelen. Am Anfang hatte er Furcht verspürt, doch er konnte sich nicht mehr entsinnen, weshalb. Es hatte etwas mit einem gebrochenen Versprechen zu tun.
Ich werde Euch nicht enttäuschen, Herr.
Wenn er seine Hand hob, konnte er durch sie hindurch blicken.
Viele Boote kamen und gingen. Er war schon fast zu einem Teil der Ewigen Stadt geworden, als die Barke aus dem Nebel tauchte, auf die er gewartet hatte. Ein Engel mit Feuerhaar und zwei Paar goldenen Schwingen war der Steuermann. Er sprach kein Wort zu der nebelhaften Gestalt, die zu ihm ins Boot stieg - schien sie kaum zu bemerken.
Noch einmal blickte er zurück zu der Kristallstadt auf der Insel im Styx, während sie lautlos durch die Nebelschleier glitten, die das jenseitige Ufer verhüllten. Es hieß, die Nebel seien Tore in die göttlichen Reiche, die an den Styx grenzten. Nachdem sie eine Weile durch das Nichts zwischen dem Jenseits und der Zwischenwelt geglitten waren, erhob sich der Engel plötzlich und breitete die Schwingen aus. Mit lauter, klarer Stimme gab er einen göttlichen Befehl und die Nebel lichteten sich.
Grimwardt wurde von einer Welle der Glückseligkeit überrollt und all seine Erinnerungen kehrten zurück.
Vor ihm lag ein Land der Felsschluchten und Schlachtfelder. Rauchsäulen stiegen aus Canyons, die terrassenförmig in die Tiefe führten, dunkle Wolkenschlieren zogen über einen blutroten Himmel und von weit her klang das rhythmische Stampfen von Truppen, die zum Klang der Kriegstrommeln in die Schlacht marschierten. Dies war das Schlachtfeld der Götter, wo die himmlischen Truppen aufeinander trafen und die Siegreichen am Ende eines kampfreichen Tages zu Speis und Trank in Tempus‘ Hallen einkehrten.
Und ich werde einer von ihnen sein!
„Willkommen in Kriegersruh“, sagte der Engel feierlich, als sie am Ufer anlegten. Nun erinnerte sich Grimwardt auch an den Namen des Schwertarchons: Er war Aschuriel, ein General in der Armee des Feindhammers. Wortlos ließ er sich zum Gebet auf Knie und Hände fallen, kaum dass er das gelobte Land betreten hatte.
Doch dann fiel ein Schatten über ihn.
Grimwardt hob den Blick und sah ins Angesicht seines Herrn. Tempus sprang von seinem Streitwagen, der von dem schwarzen Hengst Deiros und der Schimmelstute Veiros gezogen wurde. Es hieß, auf seinen beiden Streitrössern sei er schneller als jeder Magier teleportieren konnte. Die Rüstung des Gottes war staubig und eine frische Schramme zog sich über sein Kinn. Er schien geradewegs aus der Schlacht zu kommen. Sein Kratergesicht war düster umwölkt.
„Herr.“
Grimwardt verharrte auf den Knien und neigte ehrerbietig den Kopf. Unnötig, seine tief empfundene Zerknirschung kundzutun. Kampflos kapituliert – in die Knie gezwungen von einem hirnsaugenden Magier. Tempus kannte seinen Geist wie kein anderer. Das Band, das Er nach dem Kampf gegen Sir Silas geknüpft hatte, bestand auch hier noch. Und so wie Grimwardt wusste, dass Tempus seinen Tod als ebenso unwürdig erachtete wie er selbst, würde der Gott um seine Reue wissen. Er hatte ihn bestraft, indem er ihn in der Stadt der Seelen hatte schmoren lassen. Doch am Ende hatte Er ihm vergeben, sonst wäre er nicht hier.
Tempus neigte den Kopf und schien dem Schlachtenlärm in der Ferne zu lauschen.
„Hörst du das?“, murmelte Er. „Das ist nicht deine Schlacht, Grimwardt Fedaykin. Dein Schicksal ist noch nicht erfüllt.“ Er schwieg so lange, bis Grimwardt glaubte, den Rücken nicht länger beugen zu können, ehe Er fortfuhr: „Götter schlafen nicht. Aber manchmal träumen wir und in unseren Träumen sehen wir die Zukunft… Aber mein Blick war vernebelt in letzter Zeit und seit deinem Tod kann ich meine Zukunft überhaupt nicht mehr sehen. Eine große Finsternis zieht auf. Ein Krieg kommt auf uns zu... Ich weiß nicht, welche Rolle du in diesem Krieg spielen wirst. Aber du musst zurückkehren, um es herauszufinden.“
Grimwardts Herz sank. An diesem Ort hatte er vollkommene Glückseligkeit erfahren. In der Welt, aus der er kam, würde er diesen Seelenfrieden niemals finden. Nicht mehr. Ein Teil von ihm würde sich immer zurücksehnen. Und wer wusste, wie lange es dauern würde, bis sich die Nebel wieder vor ihm teilten… Aber er hatte kein Recht, etwas anderes zu wünschen als sein Gott.
Er schluckte.
„Wenn das Euer Wunsch ist, werde ich gehen.“
„Ja, das wirst du“, sagte Tempus bestimmt. „Doch du hast Kriegersruh betreten und nun kannst du es nicht mehr verlassen, ohne dass ein Teil dieses Ortes an dir haften bleibt. Wenn du zurückkehrst, wirst du deine Welt mit anderen Augen sehen. Wie ein Engel, der in der Welt der Sterblichen wandelt. Dies ist nun deine Heimat, Grimwardt Fedaykin.“
Nie gekannter Schmerz durchzuckte ihn, als der Gott ihn an der Stirn berührte. Etwas schien ihm die Seele aus der Brust zu reißen und durch Raum und Zeit zu schleudern, ehe es sie wieder packte und in einen Körper zwang, der ihm nicht mehr gehörte.
Keuchend fuhr Grimwardt vom Totenbett auf.