Kapitel V: Die verschwundene Magierin
Grimwardt
Zwei Stunden später auf dem Ästhetenplateau
Grimwardt wartete vor der Zauberakademie auf seine Bekanntschaft vom letzten Abend. Immerhin schien sich das lächerliche Rumgehopse auf dem Ball gelohnt zu haben: Im Gespräch mit seiner Tanzpartnerin, einer jungen Adligen namens Iluvie, hatte Grimwardt erfahren, dass vor etwa sieben Jahren eine Magierin aus der Stadt verschwunden war, von der bekannt war, dass sie sich mit nekromantischen Studien beschäftigt hatte: der erste Hinweis auf die Todesklaue? Um mehr zu erfahren, hatte Grimwardt sich mit Iluvie vor der Kristallzitadelle verabredet. Sie wollte ihn mit dem Blinden Bibliothekar bekannt machen, den sie als das lebende Gedächtnis der Stadt beschrieben hatte. Als Chronist Immerschwinges war er einer der wenigen ungeflügelten Elfen, die sich den Respekt der Adelshäuser verdient hatten. Es hieß von ihm, dass er als Kind durch ein Portal aus dem besetzten Myth Drannor in die Stadt der gläsernen Gesänge geflohen sei.
Grimwardt musste nicht lange warten. Doch statt seiner Bekanntschaft vom letzten Abend trat eine junge Ungeflügelte - vermutlich eine Dienerin - an ihn heran und überreichte ihm zwei versiegelte Briefe. Auf dem einen stand sein Name, der andere war an Dorien gerichtet. In dem Brief an Grimwardt entschuldigte sich Iluvie für ihr Fernbleiben und erklärte, dass ihr Vater ihr und ihrer Schwester den Umgang mit den Fremden verboten hatte, nachdem ihm gewisse Gerüchte über unzüchtiges Treiben im Haus der Gesandten zu Ohren gekommen seien.
„Dorien mal wieder“, knurrte Grimwardt. Was hatte sich der Sune-Anhänger bloß dabei gedacht, ausgerechnet in einer Stadt über die Strenge zu schlagen, deren Heiratspolitik sogar Ehen zwischen Adligen und Ungeflügelten verbot?
Grimwardt blieb keine andere Wahl als die Magierschule allein zu erkunden. Die Kristallzitadelle bestand aus drei gläsernen Türmen, die wie bei einer Kristallformation auseinander wuchsen. Da es keine Türen gab, fragte Grimwardt einige Passanten und erfuhr, dass sich der Haupteingang auf dem Dach der Konstruktion befand. Zudem erhielt Grimwardt die eigenartige Auskunft, dass der Turm all jene wieder „ausspucke“, die keine Zugangsberechtigung hatten, was wohl vor allem den Ungeflügelten den Zugang zu magischen Schriften verwehren sollte. Grimwardt hatte Glück: Der Turm ließ ihn ein.
Die Bibliothek befand sich in einem inneren etagenlosen Turm, der den äußeren Turm in Form und Höhe nachahmte: Bücherregale bedeckten die Wände vom Boden bis unters Dach und geflügelte Avariel spazierten auf Brücken, die sich kreuz und quer durch den schier bodenlosen Bücherturm spannten. Grimwardt wurde allein vom Hingucken schwindelig.
Der Blinde Bibliothekar war gerade im Begriff einige schwere Folianten einzusortieren, als Grimwardt ihn entdeckte und sich beeilte ihm zur Hand zu gehen. Der Mondelf war so alt, dass er durchscheinend wirkte - geistergleich. Seine blicklosen Augen starrten ins Leere und auf seinen Schultern saß ein weißer Rabe. Als Grimwardt sich ihm näherte, wandte sich der Bibliothekar zu ihm um. Doch es waren die Blicke des Raben, die Grimwardt zu durchbohren schienen.
„Grimwardt Fedaykin“, erkannte der Bibliothekar noch ehe der Priester sich vorgestellt hatte. Seine Stimme knisterte wie zertretenes Laub. „Ein Gesandter Myth Drannors… nach all den Jahren.“ Nachdem der Alte für eine Weile in Erinnerungen geschwelgt hatte, rückte Grimwardt mit seinen Fragen zu der verschwundenen Nekromantin heraus.
„Ja, ich entsinne mich“, sagte der Bibliothekar. „Anael Silbertau war eine der Elfen, die zusammen mit den Rückkehrern von Myth Drannor in die Stadt kamen.“ Als er Grimwardts fragenden Blick spürte, fügte er erklärend hinzu: „Der Kronrat sandte offiziell keine Truppen zur Unterstützung der Streitkräfte von Immerdar, doch einige junge Avariel zogen aus eigenem Entschluss aus, um sich dem Kreuzzug der Elfen anzuschließen. Als sie zurückkehrten, schlossen sich ihnen einige Mond- und Sonnenelfen an. Eine von ihnen war Anael Silbertau. Sie war in vielerlei Hinsicht… ungewöhnlich. Nicht viele Elfen studieren die Kunst der Nekromantie. In den meisten Elfenreichen ist die Todesmagie selbst in ihren erkenntnisbezogenen Ausrichtungen verboten, da der Gedanke der Manipulation lebender Materie nicht vereinbar ist mit dem Credo der Seldarine, dem Schutz allen Lebens. Ihr könnt Euch sicher denken, welch einen Eklat es auslöste, als Anael Silbertau bei der Kristallzitadelle um die Errichtung eines Lehrstuhls für Nekromantie bat. Der Meister der Mysterien forderte zunächst ihre Ausweisung. Doch zur gleichen Zeit sammelte Thanduin Aerdimon die ersten Rebellen um sich und da zu befürchten stand, dass sich Anael Silbertau aus Protest gegen die Politik der Kristallzitadelle den Rebellen anschloss, erklärte der Meister der Mysterien sich letztendlich bereit, ihre Forderungen zu erfüllen. Besser eine Nekromantin unter seiner Aufsicht als im Lager der Rebellen. Anael stand der neuen Disziplin vor, doch bereits nach zwei Wochen kehrte sie von einer ihrer Expeditionen in die umliegenden Berge nicht zurück. Der Meister der Mysterien ließ nach ihr suchen, doch ohne Erfolg. Damals vermuteten viele eine Verschwörung der Konformisten gegen die Nekromantin. Möglich, dass sie erpresst wurde die Stadt zu verlassen.“
„Wo verschwand sie?“, fragte Grimwardt.
„Das muss in einer der Ruinen gewesen sein“, erklärte der Blinde Bibliothekar. „Ihre Studien beschäftigten sich mit der Magie des alten Raumatar. Es gibt zwei größere Turmruinen in der näheren Umgebung, eine im westlichen und eine im östlichen Ausläufer des Gebirges.“
Grimwardt nickte. Er und seine Gefährten waren auf ihrem Weg durch die Berge auf Hinweise auf eine alte Menschenzivilisation gestoßen.
„Erzählt mit mehr über die Raumatar.“
„Ein Volk von Kriegsmagiern, doch sie sollen auch mit Nekromantie experimentiert haben. Die Zivilisation ging vor über 1000 Jahren unter und nichts als ein paar alte Ruinen sind geblieben.“
Grimwardt stellte noch ein paar Fragen zu der Nekromantin, zu den Studenten, die ihre Vorlesungen besucht hatten, und nach Namenslisten, doch hier konnte der Bibliothekar ihm nicht weiter helfen. Schließlich entschloss sich Grimwardt zu einem riskanten Schritt. Er erzählte dem alten Bibliothekar von der Todesklaue.
„Meine Gefährten und ich sind vom Hauptmann der Elfenritter von Myth Drannor mit dem Auftrag betraut worden, die gestohlene Klaue wiederzubeschaffen“, beendete Grimwardt seinen Bericht. Wie sie zu dieser Ehre gekommen waren, verschwieg er wohlweißlich. „Unsere einzige Spur hat uns hierher geführt.“
„Die Todesklaue.“ Der Alte ließ die Worte im Raum schweben, als könne das seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. „Nein“, erklärte er schließlich. „Der Name sagt mir nichts. Doch mir ist, als hätte ich schon einmal davon gehört. Allein der Name ist damals nicht gefallen.“
„Wer hat Euch damals danach gefragt?“
„Das muss der Avalior-Junge gewesen sein.“
„Wer?“
„Verzeiht, ich lebe in der Vergangenheit. Fürst Elijas Avalior, meine ich. Er kam vor etwa acht Jahren zu mir und fragte nach Büchern zur Geschichte der Drow. Er suchte Informationen zu einem Artefakt, ganz wie jenes, das Ihr mir beschrieben habt. Doch ich konnte ihm so wenig weiterhelfen wie Euch heute.“
Grimwardt runzelte nachdenklich die Stirn. Offenbar war ihr Gastgeber nicht so neutral, wie er den Anschein erwecken wollte. Acht Jahre. Etwa zur gleichen Zeit war die Nekromantin verschwunden. Was auch immer damals geschehen war, der Schlüssel lag irgendwo in einer alten Bergruine.
„Eines noch“, Grimwardt räusperte sich. „Unsere kleine Unterhaltung bleibt doch unter uns, hm?“
Der Alte gluckste leise. „Grimwardt, was glaubt Ihr, weshalb die Adligen dieser Stadt mich, einen Mondlelf, in dieser Position akzeptieren? Ich gebe Informationen preis, das ist meine Aufgabe. Aber ich weiß auch, wann ich zu schweigen habe.“
Grimwardt nickte zufrieden. Er ließ sich einige Karten von der Umgebung zeigen, auf denen die Ruinen eingezeichnet waren, die der Alte erwähnt hatte, um sie zu kopieren. Beim Abzeichnen fiel ihm ein Ort auf, der auf der Karte als Drachenfriedhof ausgewiesen war. Der Name kam ihm bekannt vor. Delon Jadsat, der Bergführer, hatte ihn auf dem Hinweg erwähnt.
„Eine Eishöhle im östlichen Ausläufer des Gebirges“, erklärte der Bibliothekar, als Grimwardt ihn danach fragte. „So lange ich denken kann ist ein weißer Wyrm in einer Eiswand im Innern der Höhle eingeschlossen. Niemand weiß, wann oder woran er gestorben ist oder warum das Eis ihn eingeschlossen hat. Die Valendár-Patrouillen wagen sich nur selten in diese Gegend. Die Eishöhle gehört zum Gebiet der Frostriesen. Alle paar Jahrzehnte schickt Hochadmiralin Shelisale einen Erkundungstrupp aus, um sich zu vergewissern, dass der Drache noch dort ist und sich nicht der Drachenkult an seinen sterblichen Überresten vergriffen hat.“
Grimwardt bedankte sich und beieilte sich zu den anderen zurück zu kommen.
Es gab viel zu bereden.
Nimoroth
Zur gleichen Zeit in den Palastgärten
Während Grimwardt aufgebrochen war, um in der Zauberakademie dem Verschwinden der Magierin auf den Grund zu gehen, hatte sich Nimoroth mit Kalith und Winter auf die Suche nach Hochadmiral Shelisale Bareithior gemacht. Fürst Elijas hatte ihnen die Tochter des Coronal aus einer früheren Ehe als „die Einhornjungfrau“ vorgestellt. Nimoroth war bei diesem Titel aufmerksam geworden, da er sich an seine Vision erinnert fühlte. Sicher, das Einhorn war ein Symbol Mielikkis, doch die Göttin mochte ihm auch einen Hinweis gegeben haben, der ihm bei der Suche nach dem gestohlenen Artefakt dienlich sein konnte.
Im Hauptquartier der Valendár hatte eine Gruppe von Schülern, die sich an diesem Festtag einen Spaß erlaubt und die überlebensgroße Pappfigur eines verfassten Lehrers an der Fassade des Gebäudes aufgehängt hatten, den drei Besuchern weitergeholfen und sie in den Seldarinehain in den Palastgärten geschickt. Hier sei die Admiralin in ihrer Freizeit häufig anzutreffen.
Die Palastgärten waren ein ruhiger und beschaulicher Ort: ein wilder, blühender Garten, der dank seiner ungewöhnlichen Nähe zur Sonne und der magischen Bewässerungsmechanismen der Avariel eine beeindruckende Artenvielfalt zu bieten hatte. Sein größter Stolz war silye, die Silbertraube, die nur in Immerschwinge vorkam. Nach Glasstahl war Silberwein das bedeutendste Exportgut der Stadt der gläsernen Gesänge. Zwischen silye-Stauden und Schattenwipfeln befand sich ein kleiner Blaublatt-Hain. Seldarine-Schreine zwischen den bläulich glitzernden Stämmen der Blaublatte wiesen den Hain als einen heiligen Ort aus. Der größte Schrein war Aerdrie Faenya, der Hauptgöttin der Avariel, gewidmet. Die Einhornjungfrau jedoch kniete betend vor dem Schrein des Corellon. Nimoroth wollte auf sie zugehen, doch Winter hielt ihn zurück.
„Achte darauf, ob sie uns anlügt“, raunte sie ihm zu.
„Das wird sie nicht“, flüsterte Nimoroth zurück. Er hatte gleich erkannt, dass die Einhornjungfrau nichts mit dem Verschwinden des Artefakts zu tun haben konnte: Die junge Avariel war von einer Aura der Güte und Rechtschaffenheit umgeben. Sie schien sich der Gegenwart der drei Fremden bewusst, sprach ihr Gebet jedoch zu Ende, ehe sie sich aufrichtete, um Nimoroth und seine Freunde zu begrüßen. Nach Austausch der üblichen Höflichkeiten begann Kalith damit, der Anführerin der Valendár Fragen zur geplanten Öffnung des Portals zu stellen.
„Hat dieser Rebellenführer die Wahrheit gesprochen?“
„Es ist noch nicht entschieden, ob das Portal nach Cormanthyr in beide Richtungen geöffnet werden wird.“, gab Shelisale zögernd zu und ihre ernsten grauen Augen waren unverwandt auf Kalith gerichtet. „Solange Ilsevele von Myth Drannor noch nicht der Zhentarim im Norden und der Drow des Waldes Herr geworden ist – ganz zu schweigen von der Unsaat, die sich noch immer in den Mauern der Stadt aufhält – solange würde durch eine beidseitige Portalöffnung für uns eine Gefahr bestehen. Doch ich will ehrlich zu Euch sein, Botschafter“, gestand sie Kalith: „Unsere größte Sorge gilt den Menschen und Halbelfen, denen wir dadurch die Tore der Stadt öffnen würden und deren Anwesenheit in Immerschwinge den Rebellen neuen Zündstoff liefern würde. Diese Stadt steht kurz vor einem Bürgerkrieg und diese Portalöffnung, so wünschenswert der Gedanke einer Annäherung auch sein mag, kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Vergebt mir, doch ich kann diese Sache nicht gutheißen. Unsere einzige Waffe war seit jeher die Abgeschiedenheit. Wir sollten sie nicht so leichtfertig aufgeben.“
Nimoroth schätze die Ehrlichkeit der jungen Admiralin. Und doch kam er nicht umhin, den Funken von Überheblichkeit in ihren Worten zu bemerken. Kalith schien es ähnlich zu gehen.
„Ist die Frage nach der beidseitigen Öffnung des Portals nicht eine Sache, die auch Myth Drannor etwas angeht?“, fragte er.
„Es tut mir leid“, sagte Shelisale ein wenig steif. „Ich kann Euch und Eure Königin nur bitten, Verständnis für unsere Situation zu zeigen.“
Ihr Blick verlor sich in der Ferne und für eine Weile war es still. Als die Einhornjungfrau wieder sprach, hatte sich ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel gebildet.
„Mein Vater hätte die Chance Fürstin Mathalaya zu entmachten ergreifen sollen als sie sich ihm bot“, sagte sie mit einer Härte, die Nimoroth der zarten Elfe gar nicht zugetraut hätte. Er begriff, dass sie über ein Thema sprach, was bei Hof tabu war. „Damals, als das verfluchte Kind geboren wurde, hätte er juristisch das Recht dazu gehabt, die Shantilea und ihre elenden Kinder aus der Stadt zu verbannen.“
„Welches Kind?“, fragte Nimoroth.
„Vanyas Kind. Der rechtmäßige Thronfolger. Es starb gleich nach der Geburt. Die Priesterin behauptete, es sei ohne Seele zur Welt gekommen. Wollt ihr wissen, weshalb die Seldarine ihm eine Seele verweigerten? Sie verdammten diese Missgeburt als ein Zeugnis der Unzucht zwischen der Hure Vanya Shantilea und ihrem degenerierten Bruder.“
Kalith und Winter waren zusammengezuckt; Nimoroth erstarrte.
„Ein Kind ohne Seele?“, wiederholte er. Sofort stand ihm alles wieder vor Augen. Ihre vergebliche Suche nach dem Seelenquell. Die jahrelangen Studien, in denen er das Geheimnis um die seelenlosen Geburten zu lüften versucht hatte.
„Ich denke nicht, dass die Götter dieses Kind verdammt haben“, sagte er mit belegter Stimme.
Ein weiteres Opfer.
Wer wusste, wie viele es dort draußen noch gab?
Nimoroth erwachte aus seiner Starre, als ein leiser Windhauch seine Wange streifte. Die Zweige der Blaublatt-Bäume teilten sich und ein geflügeltes Einhorn tauchte aus dem Dickicht des Waldes. In seinen klugen schwarzen Augen leuchtete ein celestisches Licht. Als Nimoroth sich dem Tier näherte, schreckte es zurück.
„Sie lässt sich nur von Jungfrauen berühren“, erklärte Shelisale, während sie dem Einhorn sanft die Nüstern streichelte.
Winter
Kurz darauf in der Nähe der Drachenhöhle
„Ein Liebesbrief, hm?“, löcherte Winter einen verkaterten Dorien, während die Gefährten durch die Kälte stapften. Grimwardt hatte darauf bestanden den Ort, den der Blinde Bibliothekar ihm auf der Karte gezeigt hatte, genauer unter die Lupe zu nehmen. Winter musste sich jedoch eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, was sie hier eigentlich suchten. Während des Berichts ihres Bruders hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Brief gegolten, den Grimwardt Dorien mit einem Grummeln auf die Brust gedrückt hatte und sie hatte keine Ruhe gegeben, ehe Nimoroth ihr den Inhalt übersetzt hatte. Als sie die Drachenhöhle erreichten, war sie noch nicht einmal annähernd mit ihm fertig, und erst, als Grimwardt sie zur Ordnung rief, weil ihre Stimme von den Wänden widerhallte, hielt sie für einen Augenblick die Luft an.
In diesem Moment setzte der Gesang ein. Ein grollender Singsang.
Kalith und Nimoroth tauschten einen Blick und der Druide wechselte lautlos die Gestalt. Ein Schneehase flitzte kurz darauf zwischen Winters Beinen hindurch. Winter konzentrierte sich auf ihre Mission und schloss, einen Zauber auf den Lippen, die Augen, um die Gedanken der mysteriösen Höhlenbesucher wahrzunehmen.
„Verfluchter Mist“, entfuhr es ihr.
„Was ist?“
„Sie haben mich bemerkt. Jetzt wissen sie, dass wir hier sind.“
Grimwardt war bereits vorausgeeilt. Winter, Dorien und Kalith folgten ihm und betraten kurz darauf eine Eishöhle von gigantischem Ausmaß. An einer Seite des Raumes waren große Stücke aus der Eiswand heraus gebrochen. Vor den weißen Trümmern kauerte ein Frostriesenschamane mit einem zähnefletschenden Winterwolf, flankiert von zwei bewaffneten Kriegern, die ihre Knüppel gegen die Eindringlinge erhoben hatten und mit blutgiereigen Blicken auf den Befehl zum Angriff warteten. Kaum hatte der Schamane seine Stimme erhoben, preschten sie auch schon vor. Der Schneehase, der als erster die Höhle erreichte, verwandelte sich im Sprung und hielt geradewegs auf den Schamanen zu. Der schleuderte ihm mit wütendem Gebrüll einen mannsgroßen Eiszapfen entgegen, den er mit bloßen Händen aus dem Boden riss, doch das Geschoss verfehlte Nimoroth um Haaresbreite. Als dieser den Schamanen erreichte, gab es längst nichts mehr zu tun: Ein Zauber Doriens hatte den Schamanen in einen Schmetterling verwandelt; Winters sengende Strahlen waren dem Winterwolf zum Verhängnis geworden und Kalith und Grimwardt hatten sich um die beiden Barbaren gekümmert.
„Ein Schmetterling?“ protestierte Winter und stemmte empört die Hände in die Hüften. „Dorien, er wird in der Kälte elendig zugrunde gehen! Etwas Brutaleres ist dir wohl nicht eingefallen, hm?“
Dorien erwiderte die Anschuldigung mit einem seiner säuerlichen schlechter-Tag-Blicke und wandte sich Grimwardt und Kalith zu, die einen der bewusstlosen Frostriesen mit ihren Waffen bedrohten.
„Verwandle ihn in irgendetwas Harmloses“, kommandierte Grimwardt. „Ich will ihn befragen.“
Dorien tat wie ihm geheißen und kurz darauf erwachte Gargantul der Fürchterliche als greiser Gnom.
„Na, der Name war wohl etwas hochgegriffen“, kommentierte Nimoroth trocken. Gargantul winselte beschämt und schielte nach seinem Knüppel. Offenbar verbot es ihm seine Frostriesenehre in der Gestalt von etwas zu leben, das weniger wog als seine rechte Faust.
„Wenn du jemals wieder in der Lage sein willst, diesen Knüppel auch nur anzuheben“, knurrte Grimwardt. „dann erzähl uns, warum ihr uns angegriffen habt und was ihr hier tut.“
Mit einem Stimmchen, das ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb, begann der verwandelte Frostriese zu erzählen: Er und sein Volk hatten den weißen Wyrm, der hier bis vor acht Jahren im Eis eingeschlossen gewesen war, als ihre Göttin verehrt. Noch immer kamen sie oft her, um ihr Andenken zu bewahren und ihr Opfer darzubringen.
„Einmal im Jahr“, erklärte Gargantul, „kommt auferstandene Göttin ins Dorf. Nimmt die besten unserer Krieger mit, um sie zu ihren Dienern zu machen.“
„Auserwählte, so so“, grummelte Grimwardt. „Und wie genau funktioniert das: dass sie sie zu ihren Dienern macht?“
„Ein Opfertod“, erklärter Gargantul. „Ein guter Tod. Göttin nimmt die Toten mit wenn wir sie das nächste Mal sehen sind sie… verändert. Göttlicher.“
Grimwardt wandte sich mit viel sagendem Blick zu den anderen um. Nimoroth nickte besorgt.
„Untote“, sagte er. „Irgendwer hat vor acht Jahren den toten Drachen aufgeweckt und rekrutiert nun eine Armee.“
Nimoroth
Abends an der alten Miene
Nimoroth hing kopfüber über dem Eingang der Höhle und wartete. Er mochte diese Gestalt. Seine Ohren nahmen selbst das leiseste Geräusch wahr und die Fähigkeit in völliger Dunkelheit sehen zu können, hatte ihm schon so manches Mal zum Vorteil gereicht. Außerdem waren Fledermäuse schnell und wendig und zu alltäglich, um Misstrauen zu erregen. Abgesehen davon war sein Versteck um einiges geräumiger als das seiner Freunde, die zu viert unter einer magischen Illusion zwischen den Felsen harrten. Sie warteten auf Elijas Avalior und seinen Kontaktmann. Winter hatte auf dem Tränenball eine Nachricht abgefangen, die ein geheimes Treffen zwischen dem Fürsten und den Rebellen vermuten ließ.
Plötzlich ein gleißendes Licht.
In Nimoroths schwarzen Augen spiegelte sich das Feuer, als ein sengender Strahl die Illusion durchbrach, unter der sich die anderen versteckt hielten. Abwartend starrte er in Richtung der Felsen, bereit in Windeseile seine Gestalt zu wechseln, falls es zum Kampf kommen sollte. Zwei Ungeflügelte traten mit gezogenen Waffen aus dem Nichts; ein Avariel landete mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück von ihnen entfernt. Nimoroth erkannte ihn als den Rebellenführer Thanduin, dessen Auftritt auf dem Ball der Shantileas für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Die Rebellen mussten sich unter einer magischen Aura der Unsichtbarkeit und Stille angeschlichen haben, denn Nimoroth hatte sie trotz seiner geschärften Sinne nicht kommen gehört.
Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen, erinnerte er sich an den Wortlaut der Nachricht. Offenbar hatten die Rebellen mit einem Hinterhalt gerechnet. Doch das hatten sie offenbar nicht erwartet.
„Halt!“, befahl Thanduin den anderen beiden auf Elfisch. „Es sind die Fremden.“
Seine beiden Begleiter traten zurück, ließen ihre Waffen jedoch gezückt.
„Ist das einer deiner Tricks, Elijas?“, fragte Thanduin argwöhnisch. Auf sein Zeichen hin wirkte einer der Ungeflügelten einen Erkenntniszauber. Einen Augenblick später gab er nickend Entwarnung. Keine Illusion. Nimoroth entspannte sich.
„Verzeiht die feurige Begrüßung“, entschuldigte sich der Rebellenführer und musterte die ertappten Spione mit einer Mischung aus Erheiterung und Achtsamkeit. Seine Flügel waren weiß mit schwarzen Schwungfedern und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten ebenso wie seine verschmutze Elfenrüstung vom harten Leben in den Bergen. „Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.“
Von seinem Versteck aus beobachtete Nimoroth wie er die anderen in die Höhle führte, während die seine Begleiter vor dem Höhleneingang Wache hielten. Winter setzte zu einer weitschweifigen Lüge an, kaum dass sie die Miene betreten hatten. Doch Grimwardt winkte ab. Offenbar hielt er in diesem Fall die Wahrheit für angebrachter. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, blickte Thanduin eine zeitlang grüblerisch von einem zum anderen.
„Ein gestohlenes Drowartefakt, ein untoter Drache und eine verschwundene Nekromantin“, fasste er zusammen. „Und ihr glaubt, dass Elijas mit all dem etwas zu tun haben könnte?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier“, erklärte Grimwardt. „Habt Ihr eine Ahnung, weshalb er mit Euch sprechen will?“
„Nein“, erklärte Thanduin. Ein düsterer Funke trat in seine heiteren Augen und er zögerte, ehe er fortfuhr. „Elijas und ich waren Freunde… Waffenbrüder. Damals in Myth Drannor. Der Elfenkreuzzug hat viele von uns verändert. Für viele war es das erste Mal, dass sie die Welt jenseits der Berge kennen lernten. Mit der neuen Welt kamen neue Ideen. Wir begannen die Gesellschaftsordnung unserer Väter in Frage zu stellen. Wenn alles Leben den gleichen Wert hat, wie der Kronrat und die Gueserim predigten, weshalb behandelten wir die Ungeflügelten wie Bürger zweiter Klasse? Wieso ließen wir die Welt im Stich, deren krönende Spitze wir angeblich waren? Fragen, denen wir uns stellen mussten.“ Er breitete selbstironisch die Arme aus. „Ihr wisst, wohin sie mich geführt haben. Elijas und ich riefen die Bewegung der Rebellen gemeinsam ins Leben. Doch Elijas ging die Sache zu weit, als wir anfingen, Patrouillen anzugreifen. Er sagte, wir steuerten auf einen Bürgerkrieg zu, den wir nicht gewinnen können.“ Thanduins Züge wurden hart. „Und dann verriet er mich an den Kronrat. Als Admiral der Valendár hatte ich heimlich angefangen, Ungeflügelte in den Kriegskünsten der Klingensänger auszubilden. Elijas verriet mich an seine Tante. Dadurch war ich gezwungen, aus der Stadt zu fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.“
„Seine Tante?“, entfuhr es Winter.
Thanduin schnaubte düster. „Das hat er wohl vergessen zu erwähnen, wie? Seine Mutter war die Schwester der Fürstin Shantilea.“
„Dann steht er also jetzt auf deren Seite?“
„Unwahrscheinlich. Die Shantileas lassen niemanden in den engeren Kreis, der nicht reinen Blutes ist.“
„Vielleicht hat er versucht, in diesen Kreis hinein zu kommen.“
Thanduin zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit der Nekromantin?“, bohrte Winter weiter. „Anael Silbertau, die verschwundene Magierin. Hat Elijas je von ihr gesprochen? Vielleicht hat er einige ihrer Vorlesungen besucht?“
„Gut möglich. Anael Silbertau war seine Geliebte.“
„Seine…? Oh.“
„Heimliche Geliebte, genauer gesagt. Sie war schließlich eine Ungeflügelte und er stammt aus einer hoch angesehenen Familie.“
„Und nun trefft ihr Euch hier mit ihm, obwohl er Euch verraten hat?“, wunderte sich Kalith. „Haltet ihr das nicht für…“
„…einen Fehler?“ Thanduin lächelte schief. „Vielleicht. Ich bin neugierig, das ist alles.“
In diesem Moment trat einer der beiden Rebellen, die vor der Höhle Wache hielten, an Thanduin heran, um Elijas’ Ankunft anzukündigen. Während seine Freunde sich in einem der Stollen versteckten, kroch Nimoroth an der Decke entlang nach draußen, wo Elijas gerade von dem zweiten Rebellen nach Waffen durchsucht wurde. Der Avariel zögerte, bevor er die Höhle betrat, und blieb schließlich unschlüssig im Höhleneingang stehen.
„Elijas.“ Thanduin trat aus dem Dunkel der Höhle auf ihn zu.
„Können wir nicht draußen reden?“ Elijas’ Blicke streiften unruhig das Höhleninnere. „Du weißt, was ich von geschlossenen Räumen halte.“
Klaustrophobie, dachte Nimoroth. Eine Schwäche, die zu kennen ihnen womöglich von Vorteil sein konnte.
„Rede.“ Argwöhnisch verschränkte der Rebellenführer die Arme vor der Brust.
„Komm morgen während der Portalöffnung in die Stadt.“
„Warum?“
„Die Bürger der Stadt sollen sehen, dass du die Portalöffnung unterstützt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
„Die Wachen werden mich festnehmen, ehe ich die Festwiese erreiche.“
„Nein. Vertrau mir. Niemand wird dich aufhalten.“
„Dir vertrauen?“ Thanduin zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Klar. Sehr überzeugend.“
Für einen Augenblick maß Elijas Avalior seinen einstigen Freund mit kühlen Blicken.
„Welche Alternative hast du, Thanduin?“, fragte er schließlich mit leiser, schneidender Stimme. „Willst du die Revolution ausrufen und Mathalaya das perfekte Alibi liefern, endgültig mit dir und deinen Leuten abzurechnen? Komm morgen oder führe deine Freunde in den Untergang. Deine Entscheidung.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und flog davon. Nimoroth folgte ihm. Doch schon nach kurzem hatte er den Avariel im Nebel verloren. Er war schnell. Verdammt schnell.
Als Nimoroth wieder am Treffpunkt an der Alten Miene eintraf, waren Thanduin und seine beiden Begleiter bereits im Aufbruch.
„Reine Zeitverschwendung“, knurrte der Rebellenführer, während er wütend aus der Höhle stapfte.
„Dann werdet Ihr also nicht darauf eingehen?“, fragte Winter, die ihm gefolgt war.
„Und geradewegs in die Falle tappen?“, schnaubte Thanduin. „Glaubt er, ich sei zu blöd oder dieser Hinterhalt zu offensichtlich?“ Doch seine Blicke glitten unruhig über die Landschaft und sein Zorn bezeugte, dass Elijas’ Warnung ihn an einem wunden Punkt getroffen hatte.
„Eines noch“, wollte Winter wissen. „Wenn Ihr nicht in die Stadt hinein könnt, wie erklärt sich dann Euer Auftritt auf dem Tränenball?“
Thanduin sah sie verdutzt an. Dann lachte er plötzlich auf und seine düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf.
„Ein Bubenstreich“, sagte er zwinkernd. „Wie ich sagte: Ich war Admiral bei den Valendár. Schön zu wissen, dass sich der ein oder anderer meiner Schüler noch an mich erinnert.“
Nachdem Thanduin und die beiden Rebellen den Treffpunkt verlassen hatten, verwandelte sich Nimoroth zurück.
„Und?“, fragte Winter. „Was hältst du davon?“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Nimoroth. „Aber irgendetwas wird morgen bei der Portalöffnung geschehen und Elijas Avalior scheint mehr darüber zu wissen. Wir sollten ihm einen Besuch abstatten.“
Winter nickte.
Kalith
Am nächsten Tag im Sonnenaufgangsgebirge
Ihnen blieb nicht viel Zeit, um die verschwundene Nekromantin zu finden. Die Portalöffnung sollte zur siebten Stunde stattfinden und selbst auf den Greifen, die sie geliehen hatten, dauerte der Flug bis zur Ruine mehr als vier Stunden.
Als sie am Abend zuvor nach Immerschwinge zurückgekehrt waren, hatten sie Elijas nicht in seinem Palast angetroffen. Kalith hatte daraufhin zusammen mit Nimoroth die Hochadmiralin der Valendár aufgesucht, um sie von der möglichen Bedrohung zu unterrichten und einen Haftbefehl für den Avarielfürst zu erwirken. Doch wie sie befürchtet hatten, waren der Einhornjungfrau die Hände gebunden, solange nichts Konkretes gegen Elijas Avalior vorlag. Sie hatte den Cousins lediglich zusichern können, dass sie die Wachen, die um die Festwiese placiert werden sollten, verstärken und auf einen möglichen Anschlag vorbereiten würde.
Während die Täler und Berge des Sonnenaufgangsgebirges unter ihnen dahin flogen, hing Kalith seinen Gedanken nach. Erster Leutnant unter Hauptmann Fflar Sternbraue und Botschafter von Myth Drannor. So war nun sein offizieller Titel. Er hatte es weit gebracht. Mit nicht einmal 100 Jahren hielt er die drittwichtigste Position am Elfenhof von Cormanthyr inne. Und doch blieb ein Funken Wermut. Kalith war sich bewusst, dass ihm ohne Aryvelahr Kerym keine dieser Ehren jemals zuteil geworden wäre. Was, wenn er es einfach hätte im Staub der Arena liegenlassen, jenes verrostete alte Schwert? Damals in jener Ruinenstadt im Unterreich? Was wenn Corellon ihn nicht als Träger einer Elfenklinge für würdig erachtet hätte? Man hätte ihn nie nach Myth Drannor eingeladen, hätte ihm nie einen Sitz im Elfenrat angeboten. Manchmal fragte er sich, was die Großen von Myth Drannor tatsächlich von ihm hielten. All die Mondelefen, die respektvoll den Kopf neigten, wenn er ihnen morgens auf dem Weg ins Hauptquartier der Elfenritter begegnete. Genau wie Fürstin Ilsevele war er ein Auserwählter Corellons; sie würden seinen Machtanspruch niemals öffentlich in Frage stellen. Und doch: Er war ein Waldelf, ein Unzivilisierter in den Augen vieler. Er würde niemals wirklich Teil ihrer Gesellschaft sein und manchmal fragte er sich, ob er das überhaupt gewollt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er war ein Krieger und Abenteurer; die Diplomatie lag ihm nicht. Nimoroth sollte Botschafter von Myth Drannor sein, nicht er.
„Das muss es sein“, übertönte in diesem Moment Winters Ausruf seine Gedanken.
Die Greifen kreisten über einer kleinen Flussinsel, die den Thaylambar westlich der Wasserfälle teilte. In ihrer Mitte erhoben sich die Ruinen eines ehemaligen Außenpostens der Raumatar. Die Gefährten ließen sich bei der Ruine absetzen. Nur ein paar überwucherte Mauern und Schutthaufen, längst von der Natur zurück erobert, waren von der Festung geblieben. Die Gefährten begannen sofort mit der Suche nach einem Zugang zu den unterirdischen Gängen des ehemaligen Gebäudekomplexes.
Kalith fand durch einen Erkenntniszauber heraus, dass es auf der anderen Flussseite einen Geheimgang gab. Wahrscheinlich ein Fluchtweg für Notfälle. Dort angekommen, fanden sie eine Bodenklappe, die eine Stufenleiter enthüllte, die in einem Gang endete, der unter dem Fluss hindurch in die Kellerräume der Festungsanlagen führte. Die Gefährten passierten Gänge, von denen ehemalige Vorratskammern abzweigen, und gelangten schließlich in einen alten Gefängnistrakt. Winter, die alle Türen nach Fallen untersuchte, führte die kleine Gruppe an; Kalith bildete das Schlusslicht. Als sie um eine Ecke in einen weiteren Gang einbogen, schrie Winter plötzlich auf. Im nächsten Moment senkte sich die Decke auf sie herab und…. verschlang sie.
Kalith erhaschte gerade noch einen Blick auf drei schleimige Tentakel, die aus dem gigantischen Schlund wuchsen, ehe sich vor ihm eine steinerne Barriere in die Höhe wand, die ihn von Winter und dem Höhlenmonster trennte.
Winter
„Versuch dich raus zu schneiden“, klang dumpf Grimwardts Stimme an Winters Ohren. Sie versuchte zu antworten, doch etwas quetschte ihren Brustkorb zusammen und raubte ihr den Atem. Der Gestank war unerträglich. Ein Schwall klebriger, säureartiger Substanz goss sich von oben auf sie herab und Winter begriff, dass dieses Ding gerade im Begriff war, sie zu verdauen.
Der Gedanke machte sie wütend.
Strampelnd griff sie nach ihrem Dolch und stieß ihn in das schwammige Fleisch, das sie von allen Seiten erdrückte. Das Ding, das sie auffraß, zuckte zusammen und für einen Augenblick ließ der Druck auf ihre Brust nach. Winter schnappte nach Luft. Kurz darauf durchzuckte sie ein sengender Schmerz, als elektrische Stöße ihren Körper erbeben ließen. Glücklicherweise war auch das Monster getroffen, was Winter einen weiteren Atemzug verschaffte. Weitere elektrische Stöße blieben aus. Die anderen mussten begriffen haben, dass ihre Zauber auch ihr schadeten. Winter hackte weiter auf ihren Peiniger ein und kämpfte darum nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann spürte sie Doriens Geist in ihrem Kopf.
Na endlich, das wurde aber auch Zeit.
Winter gab dem Drängen von Doriens Versetzungstrick-Zauber nach und lag im nächsten Moment schwer atmend dort, wo eben noch der Hexenmeister gestanden hatte. Grimwardt beugte sich über sie.
„Alles in Ordnung?“
Sie warf ihm einen säuerlichen Nach-was-siehts-denn-aus-Blick zu und taumelte auf die Beine.
„Kannst du mich da rein befördern?“, rief ihr Nimoroth von der Frontlinie aus zu. „Ich fetz’ das Vieh auseinander!“
Mit einem verwandten Versetzungszauber vertauschte Winter die Standorte von Dorien und Nimoroth. Der Elfendruide hatte nicht zu viel versprochen. Winter sah noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Säbel aus dem Rücken des Monsters herausragen. Dann regnete es Eingeweide.
„Schnell, wir müssen weiter“, erklärte Winter, nachdem Grimwardt ihre gebrochenen Knochen geheilt hatte. „Die Zeit rennt uns davon.“
„Moment“, sagte Dorien. Mit soviel Würde, wie ein halbverdauter, mit Speichel und Galle überzogener Dandy aufzubringen im Stande ist, rappelte er sich auf und stellte das faustgroße Replikat seiner magischen Villa vor sich auf. Nachdem er die magische Formel gesprochen hatte, öffnete sich ein Eingang in das außerdimensionale Eigenheim.
„Dorien, was hast du vor?“
„Waschen!“ Dorien war bereits im Innern seiner Villa verschwunden. „Solltest du auch tun.“
Winter schloss ergeben die Augen.
„Kommt“, sagte sie seufzend an die anderen gewandt, und schritt den Gang entlang.
Kurz darauf betraten sie einen Raum, der einmal eine Gebetshalle gewesen sein mochte.
Nimoroth
Sie hatten jeden Winkel der Gebetskammer durchforstet. Das Bodenmosaik, die Wände, den ehemaligen Altar. Nichts. Keinen Hinweis auf einen Geheimgang oder ein außerdimensionales Versteck. Da er sonst bereits alles untersucht hatte, konzentrierte Nimoroth sich auf die zertrümmerten Skulpturen. Eine Steinsstatue, die bis auf eine abgebrochene Hand noch vollständig erhalten war, erregte seine Aufmerksamkeit. Die Statue zeigte eine Elfe, was an diesem Ort ungewöhnlich genug war. Doch noch ungewöhnlicher war es, dass Nimoroth glaubte, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
„Die Drow-Priesterin“, durchfuhr es ihn. Kalith sah auf.
„Bei Corellon“, murmelte er, als er einen Blick auf die Statue geworfen hatte. „Du hast Recht!“
Irae T’sarran.
Das war der Name der Drow-Priesterin, die Nimoroth und Kalith im Unterreich im Augenblick ihres Todes entwicht war. Die Trägerin der zweiten Klaue, die mit einer mächtigen Zauberformel Tod und Verwüstung über die Talländer hatte bringen wollen. Jemand musste sie versteinert und sich das Artefakt unter den Nagel gerissen haben.
„Das heißt, wer immer unsere Klaue hat, ist vermutlich auch im Besitz der Zwillingsklaue?“, fragte Winter, nachdem Nimoroth sie aufgeklärt hatte. „Was hat das zu bedeuten? Und wie kommt sie überhaupt hierher?“
„Das sollten wir sie fragen“, sagte Nimoroth. „Aber gebt Acht. Sie ist gefährlich.“
Während Kalith und Grimwardt die Steinstatue an den Armen festhielten und Dorien den Zauber vorbereitete, der Irae zurückverwandeln sollte, baute sich Nimoroth vor ihr auf, bereit die klaffende Wunde an ihrem verstümmelten Arm zu heilen, sobald sie wieder sie selbst war. Oder zuzuschlagen, falls sie zu sehr sie selbst sein sollte.
Der Zauber hüllte die Steinstatue in ein gleißendes Licht.
Irae schnappte nach Luft. Sich der Zeit ihrer Versteinerung nicht bewusst, vollendete sie zischend einen Schwall elfischer Verwünschungen, den sie vor acht Jahren begonnen hatte. Abrupt brach sie ab, als sie sich der Gegenwart der anderen bewusst wurde.
„Was…?“
Begreifen dämmerte in den blassroten Augen der Albino-Drow. Als Nimoroth sie zuletzt gesehen hatte, war ihr Kopf kahl rasiert gewesen, doch nun fiel silberweißes Haar ihr in langen Strähnen über die Schultern. Iraes schmales, bleiches Gesicht hätte schön sein können, hätte ihr nagender Hass es nicht zu einer Grimasse der Niedertracht verzerrt.
„Ich kenne euch“, zischte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Nimoroth… und Kalith, das waren eure Namen! Ihr habt mich vernichtet!“ Sie machte eine plötzliche Bewegung und versuchte sich loszureißen.
„Offenbar nicht sehr erfolgreich“, bemerkte Nimoroth.
„Hat Elijas euch geschickt?“
Elijas. Wieder einmal.
„Nein. Was hat er Euch angetan?“
Irae musterte Nimoroth lauernd. Dann stahl sich ein finsteres Lächeln auf ihr Gesicht.
„Meine Informationen gegen meine Freiheit“, zischte sie. „Das oder ich nehme mindestens einen von euch mit ins Grab.“
Nimoroth betrachtete sie kühl. „Nein“, sagte er. „Was werdet Ihr tun, wenn wir Euch freilassen? Wie oft soll die Welt noch unter Eurem Irrsinn zu leiden haben?“
„Was glaubt Ihr?“, knurrte Irae bitter. „Zweimal habe ich meine Göttin bereits enttäuscht. Was glaubt Ihr, wie viele Chancen Kiaransalee mir noch gewährt?“
Nimoroth sah die anderen an.
„Die Zeit läuft uns davon“, erinnerte ihn Winter.
Er nickte: „Also schön. Rede.“
„Was?“, spottete die Drow. „Habe ich etwa Euer Wort? Das reicht mir nicht. Schwört bei Euren Göttern, dass ihr mich unversehrt gehen lasst, wenn ich geredet habe. Ihr alle.“
Sie schworen. Alle bis auf Grimwardt.
„Nichts da“, knurrte der Tempuspriester, dem die Drow des Unterreichs seit dem Überfall auf die Abtei ein ständiger Dorn im Auge waren. „Ich werde einen Teufel tun, der da mein Wort zu geben.“
Irae warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, gab jedoch nach. Ihr Drang mit dem Leben davon zu kommen schien übermächtig. Schon früher war Nimoroth diese Eigenschaft an ihr aufgefallen. Ein eigenartiger Zug für eine Nekromantin.
„Es begann vor… wie lange war ich versteinert?“
„Acht Jahre.“
„Dann vor etwa neun Jahren.“ Ihr Blick schweifte zwischen Nimoroth und Kalith hin und her. „Ihr hattet meinen Tempel zerstört und meine Pläne zur Invasion der Talländer zu Nichte gemacht. Doch töten konntet ihr mich nicht“, erklärte sie mit einem Glitzern des Triumphs in den Augen. „Als ich das Bewusstsein verlor, wurde ein Zauber aktiviert, der mich vor dem Tod bewahrte und mich in ein außerdimensionales Versteck transportierte. Meine untoten Diener pflegten mich gesund und ich kehrte zurück in meine Heimatstadt Maerimydra im Unterreich. Doch die Stadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Inzwischen hatte die alte Hure Lolth ihr Schweigen gebrochen und war als eine noch mächtigere Göttin wiederauferstanden. Überall im Unterreich hatten ihre Priesterinnen die Macht wieder an sich gerissen. Jene, die wie ich der Göttin der Untoten gefolgt waren, wurden gefoltert, gepfählt und der widerlichen alten Spinne zum Fraß vorgeworfen. Zahlreiche Feiglinge konvertierten. Doch nicht ich. Ich hatte mich Kiaransalee mit Leib und Seele verpfändet – es gab keine Kompromisse. Lolths Häscher waren mir dicht auf den Fersen. Ich floh an die Oberfläche. Irgendwo in den Wäldern muss ich vor Erschöpfung das Bewusstsein verloren haben. Elfen fanden mich und brachten mich in ihr Dorf. Meiner hellen Haut wegen glaubten diese Narren ich wäre eine von ihnen. Es war das perfekte Versteck. Wer vermutet eine Drow in einem Elfendorf? Ich blieb länger als ein Jahr. In dieser Zeit schmiedete ich Pläne, wie ich Kiaransalees Ansehen unter meinem Volk wieder herstellen konnte. Während der Invasion der Fey’ri wurde mein Dorf erobert, doch der Elfenhof sandte Truppen zur Befreiung. Unter dem Bataillon, das uns ‚befreite’, waren zwei geflügelte Elfen; einer von ihnen war Elijas Avalior.“ Sie schnaubte verächtlich. „Es war so einfach ihn zu verführen. Nach der Befreiung von Myth Drannor kehrte er zurück in seine Heimat. Mich ließ er nachkommen. Mein Plan schien aufzugehen. Immerhin hatte ich noch immer die Klaue des Widergängers. Ich würde eine Armee aus Untoten zusammenstellen, Drachen, Frostriesen, Avariel, was auch immer das Gebirge zu bieten hatte. Dann würde ich die Wolkenstadt dem Erdboden gleichmachen. Welchen Ruhm hätte das für meine Göttin bedeutet! Welche Schande für die Spinnenkönigin, wenn sie erkennen sollte, dass Kiaransalee, ihrer Vasallin, das gelungen war, woran sie in Ewigkeiten gescheitert war. Doch Elijas vereitelte meinen Plan. Ich war hierher gekommen, weil ich hoffte in der Ruine alte, mächtige Magie zu finden, die mir bei der Invasion der Stadt von Vorteil sein konnte. Er war mir gefolgt und stellte mich zur Rede. Es kam zum Kampf und diesmal verlor ich alles.“
„Dann seid Ihr Anael Silbertau, die verschwundene Nekromantin“, erkannte Winter.
„Eine Maske.“ Irae zuckte verächtlich mit den Schultern. „Und nun lasst mich gehen“, forderte sie. „Ich habe alles erzählt, was ich weiß.“
Grimwardt schien die Idee, die Priesterin gehen zu lassen, wenig zuzusagen, doch der Zeitdruck ließ ihnen keine andere Wahl. Ein Kampf würde sie nur länger aufhalten.
Während des Rückflugs versuchte Nimoroth das Gehörte in einen Zusammenhang zu bringen. Elijas musste die Klaue des Widergängers an sich genommen haben, doch zu welchem Zweck? Wollte er Iraes Plan zu Ende führen und allen Ruhm für sich beanspruchen? Oder war er den Einflüsterungen der Klaue erlegen und handelte wider seinen Willen so wie der Baelnorn, dem sie in Myth Drannor begegnet waren? Hatte Irae ihn tatsächlich verführt oder hatte er sie das nur glauben gemacht? Wer spielte hier mit wem? Und wer war im Besitz der zweiten Klaue? Es gab nur einen, der ihnen diese Fragen beantworten konnte. Sie mussten Elijas Avalior finden, bevor das Portal nach Myth Drannor geöffnet wurde.
Grimwardt
Zwei Stunden später auf dem Ästhetenplateau
Grimwardt wartete vor der Zauberakademie auf seine Bekanntschaft vom letzten Abend. Immerhin schien sich das lächerliche Rumgehopse auf dem Ball gelohnt zu haben: Im Gespräch mit seiner Tanzpartnerin, einer jungen Adligen namens Iluvie, hatte Grimwardt erfahren, dass vor etwa sieben Jahren eine Magierin aus der Stadt verschwunden war, von der bekannt war, dass sie sich mit nekromantischen Studien beschäftigt hatte: der erste Hinweis auf die Todesklaue? Um mehr zu erfahren, hatte Grimwardt sich mit Iluvie vor der Kristallzitadelle verabredet. Sie wollte ihn mit dem Blinden Bibliothekar bekannt machen, den sie als das lebende Gedächtnis der Stadt beschrieben hatte. Als Chronist Immerschwinges war er einer der wenigen ungeflügelten Elfen, die sich den Respekt der Adelshäuser verdient hatten. Es hieß von ihm, dass er als Kind durch ein Portal aus dem besetzten Myth Drannor in die Stadt der gläsernen Gesänge geflohen sei.
Grimwardt musste nicht lange warten. Doch statt seiner Bekanntschaft vom letzten Abend trat eine junge Ungeflügelte - vermutlich eine Dienerin - an ihn heran und überreichte ihm zwei versiegelte Briefe. Auf dem einen stand sein Name, der andere war an Dorien gerichtet. In dem Brief an Grimwardt entschuldigte sich Iluvie für ihr Fernbleiben und erklärte, dass ihr Vater ihr und ihrer Schwester den Umgang mit den Fremden verboten hatte, nachdem ihm gewisse Gerüchte über unzüchtiges Treiben im Haus der Gesandten zu Ohren gekommen seien.
„Dorien mal wieder“, knurrte Grimwardt. Was hatte sich der Sune-Anhänger bloß dabei gedacht, ausgerechnet in einer Stadt über die Strenge zu schlagen, deren Heiratspolitik sogar Ehen zwischen Adligen und Ungeflügelten verbot?
Grimwardt blieb keine andere Wahl als die Magierschule allein zu erkunden. Die Kristallzitadelle bestand aus drei gläsernen Türmen, die wie bei einer Kristallformation auseinander wuchsen. Da es keine Türen gab, fragte Grimwardt einige Passanten und erfuhr, dass sich der Haupteingang auf dem Dach der Konstruktion befand. Zudem erhielt Grimwardt die eigenartige Auskunft, dass der Turm all jene wieder „ausspucke“, die keine Zugangsberechtigung hatten, was wohl vor allem den Ungeflügelten den Zugang zu magischen Schriften verwehren sollte. Grimwardt hatte Glück: Der Turm ließ ihn ein.
Die Bibliothek befand sich in einem inneren etagenlosen Turm, der den äußeren Turm in Form und Höhe nachahmte: Bücherregale bedeckten die Wände vom Boden bis unters Dach und geflügelte Avariel spazierten auf Brücken, die sich kreuz und quer durch den schier bodenlosen Bücherturm spannten. Grimwardt wurde allein vom Hingucken schwindelig.
Der Blinde Bibliothekar war gerade im Begriff einige schwere Folianten einzusortieren, als Grimwardt ihn entdeckte und sich beeilte ihm zur Hand zu gehen. Der Mondelf war so alt, dass er durchscheinend wirkte - geistergleich. Seine blicklosen Augen starrten ins Leere und auf seinen Schultern saß ein weißer Rabe. Als Grimwardt sich ihm näherte, wandte sich der Bibliothekar zu ihm um. Doch es waren die Blicke des Raben, die Grimwardt zu durchbohren schienen.
„Grimwardt Fedaykin“, erkannte der Bibliothekar noch ehe der Priester sich vorgestellt hatte. Seine Stimme knisterte wie zertretenes Laub. „Ein Gesandter Myth Drannors… nach all den Jahren.“ Nachdem der Alte für eine Weile in Erinnerungen geschwelgt hatte, rückte Grimwardt mit seinen Fragen zu der verschwundenen Nekromantin heraus.
„Ja, ich entsinne mich“, sagte der Bibliothekar. „Anael Silbertau war eine der Elfen, die zusammen mit den Rückkehrern von Myth Drannor in die Stadt kamen.“ Als er Grimwardts fragenden Blick spürte, fügte er erklärend hinzu: „Der Kronrat sandte offiziell keine Truppen zur Unterstützung der Streitkräfte von Immerdar, doch einige junge Avariel zogen aus eigenem Entschluss aus, um sich dem Kreuzzug der Elfen anzuschließen. Als sie zurückkehrten, schlossen sich ihnen einige Mond- und Sonnenelfen an. Eine von ihnen war Anael Silbertau. Sie war in vielerlei Hinsicht… ungewöhnlich. Nicht viele Elfen studieren die Kunst der Nekromantie. In den meisten Elfenreichen ist die Todesmagie selbst in ihren erkenntnisbezogenen Ausrichtungen verboten, da der Gedanke der Manipulation lebender Materie nicht vereinbar ist mit dem Credo der Seldarine, dem Schutz allen Lebens. Ihr könnt Euch sicher denken, welch einen Eklat es auslöste, als Anael Silbertau bei der Kristallzitadelle um die Errichtung eines Lehrstuhls für Nekromantie bat. Der Meister der Mysterien forderte zunächst ihre Ausweisung. Doch zur gleichen Zeit sammelte Thanduin Aerdimon die ersten Rebellen um sich und da zu befürchten stand, dass sich Anael Silbertau aus Protest gegen die Politik der Kristallzitadelle den Rebellen anschloss, erklärte der Meister der Mysterien sich letztendlich bereit, ihre Forderungen zu erfüllen. Besser eine Nekromantin unter seiner Aufsicht als im Lager der Rebellen. Anael stand der neuen Disziplin vor, doch bereits nach zwei Wochen kehrte sie von einer ihrer Expeditionen in die umliegenden Berge nicht zurück. Der Meister der Mysterien ließ nach ihr suchen, doch ohne Erfolg. Damals vermuteten viele eine Verschwörung der Konformisten gegen die Nekromantin. Möglich, dass sie erpresst wurde die Stadt zu verlassen.“
„Wo verschwand sie?“, fragte Grimwardt.
„Das muss in einer der Ruinen gewesen sein“, erklärte der Blinde Bibliothekar. „Ihre Studien beschäftigten sich mit der Magie des alten Raumatar. Es gibt zwei größere Turmruinen in der näheren Umgebung, eine im westlichen und eine im östlichen Ausläufer des Gebirges.“
Grimwardt nickte. Er und seine Gefährten waren auf ihrem Weg durch die Berge auf Hinweise auf eine alte Menschenzivilisation gestoßen.
„Erzählt mit mehr über die Raumatar.“
„Ein Volk von Kriegsmagiern, doch sie sollen auch mit Nekromantie experimentiert haben. Die Zivilisation ging vor über 1000 Jahren unter und nichts als ein paar alte Ruinen sind geblieben.“
Grimwardt stellte noch ein paar Fragen zu der Nekromantin, zu den Studenten, die ihre Vorlesungen besucht hatten, und nach Namenslisten, doch hier konnte der Bibliothekar ihm nicht weiter helfen. Schließlich entschloss sich Grimwardt zu einem riskanten Schritt. Er erzählte dem alten Bibliothekar von der Todesklaue.
„Meine Gefährten und ich sind vom Hauptmann der Elfenritter von Myth Drannor mit dem Auftrag betraut worden, die gestohlene Klaue wiederzubeschaffen“, beendete Grimwardt seinen Bericht. Wie sie zu dieser Ehre gekommen waren, verschwieg er wohlweißlich. „Unsere einzige Spur hat uns hierher geführt.“
„Die Todesklaue.“ Der Alte ließ die Worte im Raum schweben, als könne das seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. „Nein“, erklärte er schließlich. „Der Name sagt mir nichts. Doch mir ist, als hätte ich schon einmal davon gehört. Allein der Name ist damals nicht gefallen.“
„Wer hat Euch damals danach gefragt?“
„Das muss der Avalior-Junge gewesen sein.“
„Wer?“
„Verzeiht, ich lebe in der Vergangenheit. Fürst Elijas Avalior, meine ich. Er kam vor etwa acht Jahren zu mir und fragte nach Büchern zur Geschichte der Drow. Er suchte Informationen zu einem Artefakt, ganz wie jenes, das Ihr mir beschrieben habt. Doch ich konnte ihm so wenig weiterhelfen wie Euch heute.“
Grimwardt runzelte nachdenklich die Stirn. Offenbar war ihr Gastgeber nicht so neutral, wie er den Anschein erwecken wollte. Acht Jahre. Etwa zur gleichen Zeit war die Nekromantin verschwunden. Was auch immer damals geschehen war, der Schlüssel lag irgendwo in einer alten Bergruine.
„Eines noch“, Grimwardt räusperte sich. „Unsere kleine Unterhaltung bleibt doch unter uns, hm?“
Der Alte gluckste leise. „Grimwardt, was glaubt Ihr, weshalb die Adligen dieser Stadt mich, einen Mondlelf, in dieser Position akzeptieren? Ich gebe Informationen preis, das ist meine Aufgabe. Aber ich weiß auch, wann ich zu schweigen habe.“
Grimwardt nickte zufrieden. Er ließ sich einige Karten von der Umgebung zeigen, auf denen die Ruinen eingezeichnet waren, die der Alte erwähnt hatte, um sie zu kopieren. Beim Abzeichnen fiel ihm ein Ort auf, der auf der Karte als Drachenfriedhof ausgewiesen war. Der Name kam ihm bekannt vor. Delon Jadsat, der Bergführer, hatte ihn auf dem Hinweg erwähnt.
„Eine Eishöhle im östlichen Ausläufer des Gebirges“, erklärte der Bibliothekar, als Grimwardt ihn danach fragte. „So lange ich denken kann ist ein weißer Wyrm in einer Eiswand im Innern der Höhle eingeschlossen. Niemand weiß, wann oder woran er gestorben ist oder warum das Eis ihn eingeschlossen hat. Die Valendár-Patrouillen wagen sich nur selten in diese Gegend. Die Eishöhle gehört zum Gebiet der Frostriesen. Alle paar Jahrzehnte schickt Hochadmiralin Shelisale einen Erkundungstrupp aus, um sich zu vergewissern, dass der Drache noch dort ist und sich nicht der Drachenkult an seinen sterblichen Überresten vergriffen hat.“
Grimwardt bedankte sich und beieilte sich zu den anderen zurück zu kommen.
Es gab viel zu bereden.
Nimoroth
Zur gleichen Zeit in den Palastgärten
Während Grimwardt aufgebrochen war, um in der Zauberakademie dem Verschwinden der Magierin auf den Grund zu gehen, hatte sich Nimoroth mit Kalith und Winter auf die Suche nach Hochadmiral Shelisale Bareithior gemacht. Fürst Elijas hatte ihnen die Tochter des Coronal aus einer früheren Ehe als „die Einhornjungfrau“ vorgestellt. Nimoroth war bei diesem Titel aufmerksam geworden, da er sich an seine Vision erinnert fühlte. Sicher, das Einhorn war ein Symbol Mielikkis, doch die Göttin mochte ihm auch einen Hinweis gegeben haben, der ihm bei der Suche nach dem gestohlenen Artefakt dienlich sein konnte.
Im Hauptquartier der Valendár hatte eine Gruppe von Schülern, die sich an diesem Festtag einen Spaß erlaubt und die überlebensgroße Pappfigur eines verfassten Lehrers an der Fassade des Gebäudes aufgehängt hatten, den drei Besuchern weitergeholfen und sie in den Seldarinehain in den Palastgärten geschickt. Hier sei die Admiralin in ihrer Freizeit häufig anzutreffen.
Die Palastgärten waren ein ruhiger und beschaulicher Ort: ein wilder, blühender Garten, der dank seiner ungewöhnlichen Nähe zur Sonne und der magischen Bewässerungsmechanismen der Avariel eine beeindruckende Artenvielfalt zu bieten hatte. Sein größter Stolz war silye, die Silbertraube, die nur in Immerschwinge vorkam. Nach Glasstahl war Silberwein das bedeutendste Exportgut der Stadt der gläsernen Gesänge. Zwischen silye-Stauden und Schattenwipfeln befand sich ein kleiner Blaublatt-Hain. Seldarine-Schreine zwischen den bläulich glitzernden Stämmen der Blaublatte wiesen den Hain als einen heiligen Ort aus. Der größte Schrein war Aerdrie Faenya, der Hauptgöttin der Avariel, gewidmet. Die Einhornjungfrau jedoch kniete betend vor dem Schrein des Corellon. Nimoroth wollte auf sie zugehen, doch Winter hielt ihn zurück.
„Achte darauf, ob sie uns anlügt“, raunte sie ihm zu.
„Das wird sie nicht“, flüsterte Nimoroth zurück. Er hatte gleich erkannt, dass die Einhornjungfrau nichts mit dem Verschwinden des Artefakts zu tun haben konnte: Die junge Avariel war von einer Aura der Güte und Rechtschaffenheit umgeben. Sie schien sich der Gegenwart der drei Fremden bewusst, sprach ihr Gebet jedoch zu Ende, ehe sie sich aufrichtete, um Nimoroth und seine Freunde zu begrüßen. Nach Austausch der üblichen Höflichkeiten begann Kalith damit, der Anführerin der Valendár Fragen zur geplanten Öffnung des Portals zu stellen.
„Hat dieser Rebellenführer die Wahrheit gesprochen?“
„Es ist noch nicht entschieden, ob das Portal nach Cormanthyr in beide Richtungen geöffnet werden wird.“, gab Shelisale zögernd zu und ihre ernsten grauen Augen waren unverwandt auf Kalith gerichtet. „Solange Ilsevele von Myth Drannor noch nicht der Zhentarim im Norden und der Drow des Waldes Herr geworden ist – ganz zu schweigen von der Unsaat, die sich noch immer in den Mauern der Stadt aufhält – solange würde durch eine beidseitige Portalöffnung für uns eine Gefahr bestehen. Doch ich will ehrlich zu Euch sein, Botschafter“, gestand sie Kalith: „Unsere größte Sorge gilt den Menschen und Halbelfen, denen wir dadurch die Tore der Stadt öffnen würden und deren Anwesenheit in Immerschwinge den Rebellen neuen Zündstoff liefern würde. Diese Stadt steht kurz vor einem Bürgerkrieg und diese Portalöffnung, so wünschenswert der Gedanke einer Annäherung auch sein mag, kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Vergebt mir, doch ich kann diese Sache nicht gutheißen. Unsere einzige Waffe war seit jeher die Abgeschiedenheit. Wir sollten sie nicht so leichtfertig aufgeben.“
Nimoroth schätze die Ehrlichkeit der jungen Admiralin. Und doch kam er nicht umhin, den Funken von Überheblichkeit in ihren Worten zu bemerken. Kalith schien es ähnlich zu gehen.
„Ist die Frage nach der beidseitigen Öffnung des Portals nicht eine Sache, die auch Myth Drannor etwas angeht?“, fragte er.
„Es tut mir leid“, sagte Shelisale ein wenig steif. „Ich kann Euch und Eure Königin nur bitten, Verständnis für unsere Situation zu zeigen.“
Ihr Blick verlor sich in der Ferne und für eine Weile war es still. Als die Einhornjungfrau wieder sprach, hatte sich ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel gebildet.
„Mein Vater hätte die Chance Fürstin Mathalaya zu entmachten ergreifen sollen als sie sich ihm bot“, sagte sie mit einer Härte, die Nimoroth der zarten Elfe gar nicht zugetraut hätte. Er begriff, dass sie über ein Thema sprach, was bei Hof tabu war. „Damals, als das verfluchte Kind geboren wurde, hätte er juristisch das Recht dazu gehabt, die Shantilea und ihre elenden Kinder aus der Stadt zu verbannen.“
„Welches Kind?“, fragte Nimoroth.
„Vanyas Kind. Der rechtmäßige Thronfolger. Es starb gleich nach der Geburt. Die Priesterin behauptete, es sei ohne Seele zur Welt gekommen. Wollt ihr wissen, weshalb die Seldarine ihm eine Seele verweigerten? Sie verdammten diese Missgeburt als ein Zeugnis der Unzucht zwischen der Hure Vanya Shantilea und ihrem degenerierten Bruder.“
Kalith und Winter waren zusammengezuckt; Nimoroth erstarrte.
„Ein Kind ohne Seele?“, wiederholte er. Sofort stand ihm alles wieder vor Augen. Ihre vergebliche Suche nach dem Seelenquell. Die jahrelangen Studien, in denen er das Geheimnis um die seelenlosen Geburten zu lüften versucht hatte.
„Ich denke nicht, dass die Götter dieses Kind verdammt haben“, sagte er mit belegter Stimme.
Ein weiteres Opfer.
Wer wusste, wie viele es dort draußen noch gab?
Nimoroth erwachte aus seiner Starre, als ein leiser Windhauch seine Wange streifte. Die Zweige der Blaublatt-Bäume teilten sich und ein geflügeltes Einhorn tauchte aus dem Dickicht des Waldes. In seinen klugen schwarzen Augen leuchtete ein celestisches Licht. Als Nimoroth sich dem Tier näherte, schreckte es zurück.
„Sie lässt sich nur von Jungfrauen berühren“, erklärte Shelisale, während sie dem Einhorn sanft die Nüstern streichelte.
Winter
Kurz darauf in der Nähe der Drachenhöhle
„Ein Liebesbrief, hm?“, löcherte Winter einen verkaterten Dorien, während die Gefährten durch die Kälte stapften. Grimwardt hatte darauf bestanden den Ort, den der Blinde Bibliothekar ihm auf der Karte gezeigt hatte, genauer unter die Lupe zu nehmen. Winter musste sich jedoch eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, was sie hier eigentlich suchten. Während des Berichts ihres Bruders hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Brief gegolten, den Grimwardt Dorien mit einem Grummeln auf die Brust gedrückt hatte und sie hatte keine Ruhe gegeben, ehe Nimoroth ihr den Inhalt übersetzt hatte. Als sie die Drachenhöhle erreichten, war sie noch nicht einmal annähernd mit ihm fertig, und erst, als Grimwardt sie zur Ordnung rief, weil ihre Stimme von den Wänden widerhallte, hielt sie für einen Augenblick die Luft an.
In diesem Moment setzte der Gesang ein. Ein grollender Singsang.
Kalith und Nimoroth tauschten einen Blick und der Druide wechselte lautlos die Gestalt. Ein Schneehase flitzte kurz darauf zwischen Winters Beinen hindurch. Winter konzentrierte sich auf ihre Mission und schloss, einen Zauber auf den Lippen, die Augen, um die Gedanken der mysteriösen Höhlenbesucher wahrzunehmen.
„Verfluchter Mist“, entfuhr es ihr.
„Was ist?“
„Sie haben mich bemerkt. Jetzt wissen sie, dass wir hier sind.“
Grimwardt war bereits vorausgeeilt. Winter, Dorien und Kalith folgten ihm und betraten kurz darauf eine Eishöhle von gigantischem Ausmaß. An einer Seite des Raumes waren große Stücke aus der Eiswand heraus gebrochen. Vor den weißen Trümmern kauerte ein Frostriesenschamane mit einem zähnefletschenden Winterwolf, flankiert von zwei bewaffneten Kriegern, die ihre Knüppel gegen die Eindringlinge erhoben hatten und mit blutgiereigen Blicken auf den Befehl zum Angriff warteten. Kaum hatte der Schamane seine Stimme erhoben, preschten sie auch schon vor. Der Schneehase, der als erster die Höhle erreichte, verwandelte sich im Sprung und hielt geradewegs auf den Schamanen zu. Der schleuderte ihm mit wütendem Gebrüll einen mannsgroßen Eiszapfen entgegen, den er mit bloßen Händen aus dem Boden riss, doch das Geschoss verfehlte Nimoroth um Haaresbreite. Als dieser den Schamanen erreichte, gab es längst nichts mehr zu tun: Ein Zauber Doriens hatte den Schamanen in einen Schmetterling verwandelt; Winters sengende Strahlen waren dem Winterwolf zum Verhängnis geworden und Kalith und Grimwardt hatten sich um die beiden Barbaren gekümmert.
„Ein Schmetterling?“ protestierte Winter und stemmte empört die Hände in die Hüften. „Dorien, er wird in der Kälte elendig zugrunde gehen! Etwas Brutaleres ist dir wohl nicht eingefallen, hm?“
Dorien erwiderte die Anschuldigung mit einem seiner säuerlichen schlechter-Tag-Blicke und wandte sich Grimwardt und Kalith zu, die einen der bewusstlosen Frostriesen mit ihren Waffen bedrohten.
„Verwandle ihn in irgendetwas Harmloses“, kommandierte Grimwardt. „Ich will ihn befragen.“
Dorien tat wie ihm geheißen und kurz darauf erwachte Gargantul der Fürchterliche als greiser Gnom.
„Na, der Name war wohl etwas hochgegriffen“, kommentierte Nimoroth trocken. Gargantul winselte beschämt und schielte nach seinem Knüppel. Offenbar verbot es ihm seine Frostriesenehre in der Gestalt von etwas zu leben, das weniger wog als seine rechte Faust.
„Wenn du jemals wieder in der Lage sein willst, diesen Knüppel auch nur anzuheben“, knurrte Grimwardt. „dann erzähl uns, warum ihr uns angegriffen habt und was ihr hier tut.“
Mit einem Stimmchen, das ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb, begann der verwandelte Frostriese zu erzählen: Er und sein Volk hatten den weißen Wyrm, der hier bis vor acht Jahren im Eis eingeschlossen gewesen war, als ihre Göttin verehrt. Noch immer kamen sie oft her, um ihr Andenken zu bewahren und ihr Opfer darzubringen.
„Einmal im Jahr“, erklärte Gargantul, „kommt auferstandene Göttin ins Dorf. Nimmt die besten unserer Krieger mit, um sie zu ihren Dienern zu machen.“
„Auserwählte, so so“, grummelte Grimwardt. „Und wie genau funktioniert das: dass sie sie zu ihren Dienern macht?“
„Ein Opfertod“, erklärter Gargantul. „Ein guter Tod. Göttin nimmt die Toten mit wenn wir sie das nächste Mal sehen sind sie… verändert. Göttlicher.“
Grimwardt wandte sich mit viel sagendem Blick zu den anderen um. Nimoroth nickte besorgt.
„Untote“, sagte er. „Irgendwer hat vor acht Jahren den toten Drachen aufgeweckt und rekrutiert nun eine Armee.“
Nimoroth
Abends an der alten Miene
Nimoroth hing kopfüber über dem Eingang der Höhle und wartete. Er mochte diese Gestalt. Seine Ohren nahmen selbst das leiseste Geräusch wahr und die Fähigkeit in völliger Dunkelheit sehen zu können, hatte ihm schon so manches Mal zum Vorteil gereicht. Außerdem waren Fledermäuse schnell und wendig und zu alltäglich, um Misstrauen zu erregen. Abgesehen davon war sein Versteck um einiges geräumiger als das seiner Freunde, die zu viert unter einer magischen Illusion zwischen den Felsen harrten. Sie warteten auf Elijas Avalior und seinen Kontaktmann. Winter hatte auf dem Tränenball eine Nachricht abgefangen, die ein geheimes Treffen zwischen dem Fürsten und den Rebellen vermuten ließ.
Plötzlich ein gleißendes Licht.
In Nimoroths schwarzen Augen spiegelte sich das Feuer, als ein sengender Strahl die Illusion durchbrach, unter der sich die anderen versteckt hielten. Abwartend starrte er in Richtung der Felsen, bereit in Windeseile seine Gestalt zu wechseln, falls es zum Kampf kommen sollte. Zwei Ungeflügelte traten mit gezogenen Waffen aus dem Nichts; ein Avariel landete mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück von ihnen entfernt. Nimoroth erkannte ihn als den Rebellenführer Thanduin, dessen Auftritt auf dem Ball der Shantileas für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Die Rebellen mussten sich unter einer magischen Aura der Unsichtbarkeit und Stille angeschlichen haben, denn Nimoroth hatte sie trotz seiner geschärften Sinne nicht kommen gehört.
Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen, erinnerte er sich an den Wortlaut der Nachricht. Offenbar hatten die Rebellen mit einem Hinterhalt gerechnet. Doch das hatten sie offenbar nicht erwartet.
„Halt!“, befahl Thanduin den anderen beiden auf Elfisch. „Es sind die Fremden.“
Seine beiden Begleiter traten zurück, ließen ihre Waffen jedoch gezückt.
„Ist das einer deiner Tricks, Elijas?“, fragte Thanduin argwöhnisch. Auf sein Zeichen hin wirkte einer der Ungeflügelten einen Erkenntniszauber. Einen Augenblick später gab er nickend Entwarnung. Keine Illusion. Nimoroth entspannte sich.
„Verzeiht die feurige Begrüßung“, entschuldigte sich der Rebellenführer und musterte die ertappten Spione mit einer Mischung aus Erheiterung und Achtsamkeit. Seine Flügel waren weiß mit schwarzen Schwungfedern und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten ebenso wie seine verschmutze Elfenrüstung vom harten Leben in den Bergen. „Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.“
Von seinem Versteck aus beobachtete Nimoroth wie er die anderen in die Höhle führte, während die seine Begleiter vor dem Höhleneingang Wache hielten. Winter setzte zu einer weitschweifigen Lüge an, kaum dass sie die Miene betreten hatten. Doch Grimwardt winkte ab. Offenbar hielt er in diesem Fall die Wahrheit für angebrachter. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, blickte Thanduin eine zeitlang grüblerisch von einem zum anderen.
„Ein gestohlenes Drowartefakt, ein untoter Drache und eine verschwundene Nekromantin“, fasste er zusammen. „Und ihr glaubt, dass Elijas mit all dem etwas zu tun haben könnte?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier“, erklärte Grimwardt. „Habt Ihr eine Ahnung, weshalb er mit Euch sprechen will?“
„Nein“, erklärte Thanduin. Ein düsterer Funke trat in seine heiteren Augen und er zögerte, ehe er fortfuhr. „Elijas und ich waren Freunde… Waffenbrüder. Damals in Myth Drannor. Der Elfenkreuzzug hat viele von uns verändert. Für viele war es das erste Mal, dass sie die Welt jenseits der Berge kennen lernten. Mit der neuen Welt kamen neue Ideen. Wir begannen die Gesellschaftsordnung unserer Väter in Frage zu stellen. Wenn alles Leben den gleichen Wert hat, wie der Kronrat und die Gueserim predigten, weshalb behandelten wir die Ungeflügelten wie Bürger zweiter Klasse? Wieso ließen wir die Welt im Stich, deren krönende Spitze wir angeblich waren? Fragen, denen wir uns stellen mussten.“ Er breitete selbstironisch die Arme aus. „Ihr wisst, wohin sie mich geführt haben. Elijas und ich riefen die Bewegung der Rebellen gemeinsam ins Leben. Doch Elijas ging die Sache zu weit, als wir anfingen, Patrouillen anzugreifen. Er sagte, wir steuerten auf einen Bürgerkrieg zu, den wir nicht gewinnen können.“ Thanduins Züge wurden hart. „Und dann verriet er mich an den Kronrat. Als Admiral der Valendár hatte ich heimlich angefangen, Ungeflügelte in den Kriegskünsten der Klingensänger auszubilden. Elijas verriet mich an seine Tante. Dadurch war ich gezwungen, aus der Stadt zu fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.“
„Seine Tante?“, entfuhr es Winter.
Thanduin schnaubte düster. „Das hat er wohl vergessen zu erwähnen, wie? Seine Mutter war die Schwester der Fürstin Shantilea.“
„Dann steht er also jetzt auf deren Seite?“
„Unwahrscheinlich. Die Shantileas lassen niemanden in den engeren Kreis, der nicht reinen Blutes ist.“
„Vielleicht hat er versucht, in diesen Kreis hinein zu kommen.“
Thanduin zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit der Nekromantin?“, bohrte Winter weiter. „Anael Silbertau, die verschwundene Magierin. Hat Elijas je von ihr gesprochen? Vielleicht hat er einige ihrer Vorlesungen besucht?“
„Gut möglich. Anael Silbertau war seine Geliebte.“
„Seine…? Oh.“
„Heimliche Geliebte, genauer gesagt. Sie war schließlich eine Ungeflügelte und er stammt aus einer hoch angesehenen Familie.“
„Und nun trefft ihr Euch hier mit ihm, obwohl er Euch verraten hat?“, wunderte sich Kalith. „Haltet ihr das nicht für…“
„…einen Fehler?“ Thanduin lächelte schief. „Vielleicht. Ich bin neugierig, das ist alles.“
In diesem Moment trat einer der beiden Rebellen, die vor der Höhle Wache hielten, an Thanduin heran, um Elijas’ Ankunft anzukündigen. Während seine Freunde sich in einem der Stollen versteckten, kroch Nimoroth an der Decke entlang nach draußen, wo Elijas gerade von dem zweiten Rebellen nach Waffen durchsucht wurde. Der Avariel zögerte, bevor er die Höhle betrat, und blieb schließlich unschlüssig im Höhleneingang stehen.
„Elijas.“ Thanduin trat aus dem Dunkel der Höhle auf ihn zu.
„Können wir nicht draußen reden?“ Elijas’ Blicke streiften unruhig das Höhleninnere. „Du weißt, was ich von geschlossenen Räumen halte.“
Klaustrophobie, dachte Nimoroth. Eine Schwäche, die zu kennen ihnen womöglich von Vorteil sein konnte.
„Rede.“ Argwöhnisch verschränkte der Rebellenführer die Arme vor der Brust.
„Komm morgen während der Portalöffnung in die Stadt.“
„Warum?“
„Die Bürger der Stadt sollen sehen, dass du die Portalöffnung unterstützt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
„Die Wachen werden mich festnehmen, ehe ich die Festwiese erreiche.“
„Nein. Vertrau mir. Niemand wird dich aufhalten.“
„Dir vertrauen?“ Thanduin zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Klar. Sehr überzeugend.“
Für einen Augenblick maß Elijas Avalior seinen einstigen Freund mit kühlen Blicken.
„Welche Alternative hast du, Thanduin?“, fragte er schließlich mit leiser, schneidender Stimme. „Willst du die Revolution ausrufen und Mathalaya das perfekte Alibi liefern, endgültig mit dir und deinen Leuten abzurechnen? Komm morgen oder führe deine Freunde in den Untergang. Deine Entscheidung.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und flog davon. Nimoroth folgte ihm. Doch schon nach kurzem hatte er den Avariel im Nebel verloren. Er war schnell. Verdammt schnell.
Als Nimoroth wieder am Treffpunkt an der Alten Miene eintraf, waren Thanduin und seine beiden Begleiter bereits im Aufbruch.
„Reine Zeitverschwendung“, knurrte der Rebellenführer, während er wütend aus der Höhle stapfte.
„Dann werdet Ihr also nicht darauf eingehen?“, fragte Winter, die ihm gefolgt war.
„Und geradewegs in die Falle tappen?“, schnaubte Thanduin. „Glaubt er, ich sei zu blöd oder dieser Hinterhalt zu offensichtlich?“ Doch seine Blicke glitten unruhig über die Landschaft und sein Zorn bezeugte, dass Elijas’ Warnung ihn an einem wunden Punkt getroffen hatte.
„Eines noch“, wollte Winter wissen. „Wenn Ihr nicht in die Stadt hinein könnt, wie erklärt sich dann Euer Auftritt auf dem Tränenball?“
Thanduin sah sie verdutzt an. Dann lachte er plötzlich auf und seine düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf.
„Ein Bubenstreich“, sagte er zwinkernd. „Wie ich sagte: Ich war Admiral bei den Valendár. Schön zu wissen, dass sich der ein oder anderer meiner Schüler noch an mich erinnert.“
Nachdem Thanduin und die beiden Rebellen den Treffpunkt verlassen hatten, verwandelte sich Nimoroth zurück.
„Und?“, fragte Winter. „Was hältst du davon?“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Nimoroth. „Aber irgendetwas wird morgen bei der Portalöffnung geschehen und Elijas Avalior scheint mehr darüber zu wissen. Wir sollten ihm einen Besuch abstatten.“
Winter nickte.
Kalith
Am nächsten Tag im Sonnenaufgangsgebirge
Ihnen blieb nicht viel Zeit, um die verschwundene Nekromantin zu finden. Die Portalöffnung sollte zur siebten Stunde stattfinden und selbst auf den Greifen, die sie geliehen hatten, dauerte der Flug bis zur Ruine mehr als vier Stunden.
Als sie am Abend zuvor nach Immerschwinge zurückgekehrt waren, hatten sie Elijas nicht in seinem Palast angetroffen. Kalith hatte daraufhin zusammen mit Nimoroth die Hochadmiralin der Valendár aufgesucht, um sie von der möglichen Bedrohung zu unterrichten und einen Haftbefehl für den Avarielfürst zu erwirken. Doch wie sie befürchtet hatten, waren der Einhornjungfrau die Hände gebunden, solange nichts Konkretes gegen Elijas Avalior vorlag. Sie hatte den Cousins lediglich zusichern können, dass sie die Wachen, die um die Festwiese placiert werden sollten, verstärken und auf einen möglichen Anschlag vorbereiten würde.
Während die Täler und Berge des Sonnenaufgangsgebirges unter ihnen dahin flogen, hing Kalith seinen Gedanken nach. Erster Leutnant unter Hauptmann Fflar Sternbraue und Botschafter von Myth Drannor. So war nun sein offizieller Titel. Er hatte es weit gebracht. Mit nicht einmal 100 Jahren hielt er die drittwichtigste Position am Elfenhof von Cormanthyr inne. Und doch blieb ein Funken Wermut. Kalith war sich bewusst, dass ihm ohne Aryvelahr Kerym keine dieser Ehren jemals zuteil geworden wäre. Was, wenn er es einfach hätte im Staub der Arena liegenlassen, jenes verrostete alte Schwert? Damals in jener Ruinenstadt im Unterreich? Was wenn Corellon ihn nicht als Träger einer Elfenklinge für würdig erachtet hätte? Man hätte ihn nie nach Myth Drannor eingeladen, hätte ihm nie einen Sitz im Elfenrat angeboten. Manchmal fragte er sich, was die Großen von Myth Drannor tatsächlich von ihm hielten. All die Mondelefen, die respektvoll den Kopf neigten, wenn er ihnen morgens auf dem Weg ins Hauptquartier der Elfenritter begegnete. Genau wie Fürstin Ilsevele war er ein Auserwählter Corellons; sie würden seinen Machtanspruch niemals öffentlich in Frage stellen. Und doch: Er war ein Waldelf, ein Unzivilisierter in den Augen vieler. Er würde niemals wirklich Teil ihrer Gesellschaft sein und manchmal fragte er sich, ob er das überhaupt gewollt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er war ein Krieger und Abenteurer; die Diplomatie lag ihm nicht. Nimoroth sollte Botschafter von Myth Drannor sein, nicht er.
„Das muss es sein“, übertönte in diesem Moment Winters Ausruf seine Gedanken.
Die Greifen kreisten über einer kleinen Flussinsel, die den Thaylambar westlich der Wasserfälle teilte. In ihrer Mitte erhoben sich die Ruinen eines ehemaligen Außenpostens der Raumatar. Die Gefährten ließen sich bei der Ruine absetzen. Nur ein paar überwucherte Mauern und Schutthaufen, längst von der Natur zurück erobert, waren von der Festung geblieben. Die Gefährten begannen sofort mit der Suche nach einem Zugang zu den unterirdischen Gängen des ehemaligen Gebäudekomplexes.
Kalith fand durch einen Erkenntniszauber heraus, dass es auf der anderen Flussseite einen Geheimgang gab. Wahrscheinlich ein Fluchtweg für Notfälle. Dort angekommen, fanden sie eine Bodenklappe, die eine Stufenleiter enthüllte, die in einem Gang endete, der unter dem Fluss hindurch in die Kellerräume der Festungsanlagen führte. Die Gefährten passierten Gänge, von denen ehemalige Vorratskammern abzweigen, und gelangten schließlich in einen alten Gefängnistrakt. Winter, die alle Türen nach Fallen untersuchte, führte die kleine Gruppe an; Kalith bildete das Schlusslicht. Als sie um eine Ecke in einen weiteren Gang einbogen, schrie Winter plötzlich auf. Im nächsten Moment senkte sich die Decke auf sie herab und…. verschlang sie.
Kalith erhaschte gerade noch einen Blick auf drei schleimige Tentakel, die aus dem gigantischen Schlund wuchsen, ehe sich vor ihm eine steinerne Barriere in die Höhe wand, die ihn von Winter und dem Höhlenmonster trennte.
Winter
„Versuch dich raus zu schneiden“, klang dumpf Grimwardts Stimme an Winters Ohren. Sie versuchte zu antworten, doch etwas quetschte ihren Brustkorb zusammen und raubte ihr den Atem. Der Gestank war unerträglich. Ein Schwall klebriger, säureartiger Substanz goss sich von oben auf sie herab und Winter begriff, dass dieses Ding gerade im Begriff war, sie zu verdauen.
Der Gedanke machte sie wütend.
Strampelnd griff sie nach ihrem Dolch und stieß ihn in das schwammige Fleisch, das sie von allen Seiten erdrückte. Das Ding, das sie auffraß, zuckte zusammen und für einen Augenblick ließ der Druck auf ihre Brust nach. Winter schnappte nach Luft. Kurz darauf durchzuckte sie ein sengender Schmerz, als elektrische Stöße ihren Körper erbeben ließen. Glücklicherweise war auch das Monster getroffen, was Winter einen weiteren Atemzug verschaffte. Weitere elektrische Stöße blieben aus. Die anderen mussten begriffen haben, dass ihre Zauber auch ihr schadeten. Winter hackte weiter auf ihren Peiniger ein und kämpfte darum nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann spürte sie Doriens Geist in ihrem Kopf.
Na endlich, das wurde aber auch Zeit.
Winter gab dem Drängen von Doriens Versetzungstrick-Zauber nach und lag im nächsten Moment schwer atmend dort, wo eben noch der Hexenmeister gestanden hatte. Grimwardt beugte sich über sie.
„Alles in Ordnung?“
Sie warf ihm einen säuerlichen Nach-was-siehts-denn-aus-Blick zu und taumelte auf die Beine.
„Kannst du mich da rein befördern?“, rief ihr Nimoroth von der Frontlinie aus zu. „Ich fetz’ das Vieh auseinander!“
Mit einem verwandten Versetzungszauber vertauschte Winter die Standorte von Dorien und Nimoroth. Der Elfendruide hatte nicht zu viel versprochen. Winter sah noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Säbel aus dem Rücken des Monsters herausragen. Dann regnete es Eingeweide.
„Schnell, wir müssen weiter“, erklärte Winter, nachdem Grimwardt ihre gebrochenen Knochen geheilt hatte. „Die Zeit rennt uns davon.“
„Moment“, sagte Dorien. Mit soviel Würde, wie ein halbverdauter, mit Speichel und Galle überzogener Dandy aufzubringen im Stande ist, rappelte er sich auf und stellte das faustgroße Replikat seiner magischen Villa vor sich auf. Nachdem er die magische Formel gesprochen hatte, öffnete sich ein Eingang in das außerdimensionale Eigenheim.
„Dorien, was hast du vor?“
„Waschen!“ Dorien war bereits im Innern seiner Villa verschwunden. „Solltest du auch tun.“
Winter schloss ergeben die Augen.
„Kommt“, sagte sie seufzend an die anderen gewandt, und schritt den Gang entlang.
Kurz darauf betraten sie einen Raum, der einmal eine Gebetshalle gewesen sein mochte.
Nimoroth
Sie hatten jeden Winkel der Gebetskammer durchforstet. Das Bodenmosaik, die Wände, den ehemaligen Altar. Nichts. Keinen Hinweis auf einen Geheimgang oder ein außerdimensionales Versteck. Da er sonst bereits alles untersucht hatte, konzentrierte Nimoroth sich auf die zertrümmerten Skulpturen. Eine Steinsstatue, die bis auf eine abgebrochene Hand noch vollständig erhalten war, erregte seine Aufmerksamkeit. Die Statue zeigte eine Elfe, was an diesem Ort ungewöhnlich genug war. Doch noch ungewöhnlicher war es, dass Nimoroth glaubte, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
„Die Drow-Priesterin“, durchfuhr es ihn. Kalith sah auf.
„Bei Corellon“, murmelte er, als er einen Blick auf die Statue geworfen hatte. „Du hast Recht!“
Irae T’sarran.
Das war der Name der Drow-Priesterin, die Nimoroth und Kalith im Unterreich im Augenblick ihres Todes entwicht war. Die Trägerin der zweiten Klaue, die mit einer mächtigen Zauberformel Tod und Verwüstung über die Talländer hatte bringen wollen. Jemand musste sie versteinert und sich das Artefakt unter den Nagel gerissen haben.
„Das heißt, wer immer unsere Klaue hat, ist vermutlich auch im Besitz der Zwillingsklaue?“, fragte Winter, nachdem Nimoroth sie aufgeklärt hatte. „Was hat das zu bedeuten? Und wie kommt sie überhaupt hierher?“
„Das sollten wir sie fragen“, sagte Nimoroth. „Aber gebt Acht. Sie ist gefährlich.“
Während Kalith und Grimwardt die Steinstatue an den Armen festhielten und Dorien den Zauber vorbereitete, der Irae zurückverwandeln sollte, baute sich Nimoroth vor ihr auf, bereit die klaffende Wunde an ihrem verstümmelten Arm zu heilen, sobald sie wieder sie selbst war. Oder zuzuschlagen, falls sie zu sehr sie selbst sein sollte.
Der Zauber hüllte die Steinstatue in ein gleißendes Licht.
Irae schnappte nach Luft. Sich der Zeit ihrer Versteinerung nicht bewusst, vollendete sie zischend einen Schwall elfischer Verwünschungen, den sie vor acht Jahren begonnen hatte. Abrupt brach sie ab, als sie sich der Gegenwart der anderen bewusst wurde.
„Was…?“
Begreifen dämmerte in den blassroten Augen der Albino-Drow. Als Nimoroth sie zuletzt gesehen hatte, war ihr Kopf kahl rasiert gewesen, doch nun fiel silberweißes Haar ihr in langen Strähnen über die Schultern. Iraes schmales, bleiches Gesicht hätte schön sein können, hätte ihr nagender Hass es nicht zu einer Grimasse der Niedertracht verzerrt.
„Ich kenne euch“, zischte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Nimoroth… und Kalith, das waren eure Namen! Ihr habt mich vernichtet!“ Sie machte eine plötzliche Bewegung und versuchte sich loszureißen.
„Offenbar nicht sehr erfolgreich“, bemerkte Nimoroth.
„Hat Elijas euch geschickt?“
Elijas. Wieder einmal.
„Nein. Was hat er Euch angetan?“
Irae musterte Nimoroth lauernd. Dann stahl sich ein finsteres Lächeln auf ihr Gesicht.
„Meine Informationen gegen meine Freiheit“, zischte sie. „Das oder ich nehme mindestens einen von euch mit ins Grab.“
Nimoroth betrachtete sie kühl. „Nein“, sagte er. „Was werdet Ihr tun, wenn wir Euch freilassen? Wie oft soll die Welt noch unter Eurem Irrsinn zu leiden haben?“
„Was glaubt Ihr?“, knurrte Irae bitter. „Zweimal habe ich meine Göttin bereits enttäuscht. Was glaubt Ihr, wie viele Chancen Kiaransalee mir noch gewährt?“
Nimoroth sah die anderen an.
„Die Zeit läuft uns davon“, erinnerte ihn Winter.
Er nickte: „Also schön. Rede.“
„Was?“, spottete die Drow. „Habe ich etwa Euer Wort? Das reicht mir nicht. Schwört bei Euren Göttern, dass ihr mich unversehrt gehen lasst, wenn ich geredet habe. Ihr alle.“
Sie schworen. Alle bis auf Grimwardt.
„Nichts da“, knurrte der Tempuspriester, dem die Drow des Unterreichs seit dem Überfall auf die Abtei ein ständiger Dorn im Auge waren. „Ich werde einen Teufel tun, der da mein Wort zu geben.“
Irae warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, gab jedoch nach. Ihr Drang mit dem Leben davon zu kommen schien übermächtig. Schon früher war Nimoroth diese Eigenschaft an ihr aufgefallen. Ein eigenartiger Zug für eine Nekromantin.
„Es begann vor… wie lange war ich versteinert?“
„Acht Jahre.“
„Dann vor etwa neun Jahren.“ Ihr Blick schweifte zwischen Nimoroth und Kalith hin und her. „Ihr hattet meinen Tempel zerstört und meine Pläne zur Invasion der Talländer zu Nichte gemacht. Doch töten konntet ihr mich nicht“, erklärte sie mit einem Glitzern des Triumphs in den Augen. „Als ich das Bewusstsein verlor, wurde ein Zauber aktiviert, der mich vor dem Tod bewahrte und mich in ein außerdimensionales Versteck transportierte. Meine untoten Diener pflegten mich gesund und ich kehrte zurück in meine Heimatstadt Maerimydra im Unterreich. Doch die Stadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Inzwischen hatte die alte Hure Lolth ihr Schweigen gebrochen und war als eine noch mächtigere Göttin wiederauferstanden. Überall im Unterreich hatten ihre Priesterinnen die Macht wieder an sich gerissen. Jene, die wie ich der Göttin der Untoten gefolgt waren, wurden gefoltert, gepfählt und der widerlichen alten Spinne zum Fraß vorgeworfen. Zahlreiche Feiglinge konvertierten. Doch nicht ich. Ich hatte mich Kiaransalee mit Leib und Seele verpfändet – es gab keine Kompromisse. Lolths Häscher waren mir dicht auf den Fersen. Ich floh an die Oberfläche. Irgendwo in den Wäldern muss ich vor Erschöpfung das Bewusstsein verloren haben. Elfen fanden mich und brachten mich in ihr Dorf. Meiner hellen Haut wegen glaubten diese Narren ich wäre eine von ihnen. Es war das perfekte Versteck. Wer vermutet eine Drow in einem Elfendorf? Ich blieb länger als ein Jahr. In dieser Zeit schmiedete ich Pläne, wie ich Kiaransalees Ansehen unter meinem Volk wieder herstellen konnte. Während der Invasion der Fey’ri wurde mein Dorf erobert, doch der Elfenhof sandte Truppen zur Befreiung. Unter dem Bataillon, das uns ‚befreite’, waren zwei geflügelte Elfen; einer von ihnen war Elijas Avalior.“ Sie schnaubte verächtlich. „Es war so einfach ihn zu verführen. Nach der Befreiung von Myth Drannor kehrte er zurück in seine Heimat. Mich ließ er nachkommen. Mein Plan schien aufzugehen. Immerhin hatte ich noch immer die Klaue des Widergängers. Ich würde eine Armee aus Untoten zusammenstellen, Drachen, Frostriesen, Avariel, was auch immer das Gebirge zu bieten hatte. Dann würde ich die Wolkenstadt dem Erdboden gleichmachen. Welchen Ruhm hätte das für meine Göttin bedeutet! Welche Schande für die Spinnenkönigin, wenn sie erkennen sollte, dass Kiaransalee, ihrer Vasallin, das gelungen war, woran sie in Ewigkeiten gescheitert war. Doch Elijas vereitelte meinen Plan. Ich war hierher gekommen, weil ich hoffte in der Ruine alte, mächtige Magie zu finden, die mir bei der Invasion der Stadt von Vorteil sein konnte. Er war mir gefolgt und stellte mich zur Rede. Es kam zum Kampf und diesmal verlor ich alles.“
„Dann seid Ihr Anael Silbertau, die verschwundene Nekromantin“, erkannte Winter.
„Eine Maske.“ Irae zuckte verächtlich mit den Schultern. „Und nun lasst mich gehen“, forderte sie. „Ich habe alles erzählt, was ich weiß.“
Grimwardt schien die Idee, die Priesterin gehen zu lassen, wenig zuzusagen, doch der Zeitdruck ließ ihnen keine andere Wahl. Ein Kampf würde sie nur länger aufhalten.
Während des Rückflugs versuchte Nimoroth das Gehörte in einen Zusammenhang zu bringen. Elijas musste die Klaue des Widergängers an sich genommen haben, doch zu welchem Zweck? Wollte er Iraes Plan zu Ende führen und allen Ruhm für sich beanspruchen? Oder war er den Einflüsterungen der Klaue erlegen und handelte wider seinen Willen so wie der Baelnorn, dem sie in Myth Drannor begegnet waren? Hatte Irae ihn tatsächlich verführt oder hatte er sie das nur glauben gemacht? Wer spielte hier mit wem? Und wer war im Besitz der zweiten Klaue? Es gab nur einen, der ihnen diese Fragen beantworten konnte. Sie mussten Elijas Avalior finden, bevor das Portal nach Myth Drannor geöffnet wurde.