Kapitel III: Der geflügelte Blitz
Winter
Später in Westtor.
Erschöpft ließen sich die Gefährten im Schatten der Marktstände auf einer Mauer nieder, um ihren dampfenden Füßen eine Rast zu gönnen. In der brütenden Sommerhitze war Westtor mit seinen sandigen Straßen und geschäftigen Kaufleuten der reinste Hexenkessel. Ihre Nachforschungen in der Stadt hatten die Gefährten nicht weit gebracht: Die Stadtbewohner waren keine große Hilfe gewesen. Die meisten hatten ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald sie den Namen „Urdo“ auch nur erwähnt hatten. Selbst die Priester der Morgenröte im Tempel des Lathander schienen sich mit dem abgefunden zu haben, was niemand hier auszusprechen wagte: dass Westtor längst in den Händen der Vampirgilde war, die die politischen Geschicke des Stadtstaats aus dem Verborgenen lenkte und die Regierung an der kurzen Leine hielt.
„Seht den Geflügelten Blitz in der Arena von Westtor!“, schallte es über den Marktplatz. Mit einer Trommel in der Hand und einer Werbetafel auf dem Rücken versuchte sich ein junger Marktschreier in all dem Trubel Gehör zu verschaffen. „Der Zitternde Daumen präsentiert: Kampf um Westtor. Heute zur Mittagsstunde in den Sandgruben.“
„Ist er gut?“, fragte Faust mit mäßigem Interesse und ruckte den Kopf in Richtung der Werbetafel. „Der Geflügelter Blitz?“
„Er ist der Beste!“, versicherte der Junge eifrig. „Sie stellen die Schlacht um Westtor nach. Er spielt den Engel, der an Soleilons Seite kämpfte. Und er ist wahnsinnig schnell!“
„Dann ist er wohl wirklich ein Engel?“ fragte Faust mit sanftem Spott.
„Naja, er hat Flügel!“, verteidigte der Junge seinen Helden. „Sie sehen ein wenig aus wie… wie Falkenflügel, aber warum sollte er kein Engel sein? Habt Ihr schon mal einen echten Engel gesehen?“
Winter horchte auf. Falkenflügel? Wahnsinnig schnell? Es mochte ein Zufall sein, doch die Beschreibung passte auf einen einstigen Widersacher ihrer alten Abenteuergruppe.
„Ist dein Engel vielleicht ein Avariel?“, fragte sie.
„Ein… was?“
„Ein geflügelter Elf.“
Der Junge überlegte.
„Nun, er hat spitze Ohren“, räumte er ein.
Elijas Avalior. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Das Intrigenspiel des Klingensängers hatte eine machtgierige Avarielfürstin zu einem verheerenden Angriff auf die Stadt der Gläsernen Gesänge verleitet, der ohne das Eingreifen der Gefährten in einem Desaster geendet hätte. Elijas’ Absichten mochten ehrenhaft gewesen sein: Durch den Angriff waren die korrupten Machenschaften der Regierung aufgeflogen und die Ungeflügelten hatten sich aus ihrer Jahrhunderte währenden Knechtschaft befreit. Doch das änderte nichts daran, dass er den Tod duzender Unschuldiger in Kauf genommen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Für seine Verbrechen war er aus der elfischen Gemeinschaft von Faerûn ausgestoßen worden. Aber es war nicht diese Erinnerung, die Winter im Sinn hatte, als sie sich nun an den jungen Marktschreier wandte.
„Wo finde ich diesen ‚Geflügelten Blitz’?“
„Die Gladiatoren werden in den Sandgruben des ‚Zitternden Daumen’ im Arenenviertel ausgebildet“, sagte der Junge. „Aber im Moment ist keine Besuchszeit. Ihr müsst bis nach dem Kampf warten, um…“
Doch Winter war bereits davongeeilt.
„Kannst du mir erklären, was das werden soll?“, knurrte Grimwardt, der wie Faust und Miu Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
„Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung mit Vampirdrake?“, fragte sie.
„Ja, gestern auf dem…“ Dann stockte er. „Du meinst den Einbruch bei den Wands?“
„Als er uns den Stein aus der Avarielstadt stahl, ganz recht“, bestätigte Winter.
Es war etwa zweieinhalb Monate her. Damals hatte ein Klon, den sie für Drake gehalten hatten, den magischen Steinsplitter entwendet, den Winter bei der Plünderung von Elijas’ persönlichem Hab und Gut gefunden hatte. Der Verlust war ihr als nicht weiter tragisch erschienen. Die einzige Fähigkeit des Steins schien es zu sein, seinem Träger den Grad an Verderbtheit seiner eigenen Seele aufzuzeigen. Nicht gerade die nützlichste Erfindung. Doch in Verbindung mit dem Geheimnis um die seelenlosen Geburten mochte der Stein eine weitaus größere Bedeutung haben, als sie damals hätten ahnen können. Und wer könnte mehr darüber wissen, als der vormalige Besitzer des Steins?
Vom Wächter am Tor der Gladiatorenschule erfuhren die Gefährten, dass die Sandgruben nicht nur Sklaven beherbergten. Der Politik der Arenenbetreiber, die jedem Gladiator, der die Sandgruben ein Jahr lang überlebte, die Freiheit versprachen, war es zu verdanken, dass es auch viele Gemeine in die Arena zog. Der Ruhm hatte schon so manchen Tagelöhner zum Stadthelden gemacht und die meisten der „Wiedergekehrten“ waren inzwischen erfolgreiche Söldner. Der Geflügelte Blitz jedoch war ein Gefangener, den ein Ausbilder einem Tayanischen Sklavenhändler abgekauft hatte. Winter bezweifelte, dass der „Stolz der Arena“ wie die anderen darauf hoffen durfte, in die Freiheit entlassen zu werden.
Während die anderen dem Wächter Karten für das Kampfspektakel abkauften, schlich sich die Zaubermeisterin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, durch das Tor. Die Sandgruben befanden sich hinter dem Hauptgebäude der Gladiatorenschule: In zwei Duzend Bodengruben, die mit stählernen Gitterluken abgedeckt waren, harrten Kreaturen verschiedenster Rassen ihrem Einsatz in der Arena. Die gleißende Mittagssonne drang gnadenlos bis in den letzten Winkel der Zellen und lieferte die Gefangenen den Blicken der Aufseher aus, die das Gelände von vier Wachtürmen überblickten. Immerhin schien es kein magisches Warnsystem zu geben: Unter ihrem Zauber blieb Winter unentdeckt. Nicht einmal als sie mit Hilfe eines Flugzaubers in die Höhe schwebte, um sich einen Überblick zu verschaffen, schlugen die Wachen Alarm.
Aus der Vogelperspektive war es ein Leichtes, den geflügelten Elfen in einer der Sandgruben ausfindig zu machen. Zusammengesunken kauerte der Avariel im schattigsten Winkel seiner Zelle, das Gesicht mit dem Ellbogen abgeschirmt und die Flügel eingeknickt: Die einst kupfer-weißen Schwingen waren an den Ellen angebrochen und mit Staub bedeckt. Der Bruch wirkte gewollt.
Ein Vogel im Käfig, dachte Winter.
„Elijas?“, flüsterte sie.
Er regte sich kurz, sah jedoch nicht auf.
„Ich bin es, Winter.“ Sie kauerte sich unsichtbar an den Rand des Käfiggitters. „Winter Fedaykin.“
„Wer?“ Es klang tonlos und schal.
„Wir haben uns in Immerschwinge kennen gelernt…“
Kennen gelernt war nicht unbedingt der passende Ausdruck. Sie hatte ihn geplündert und dafür gesorgt, dass man ihn aus der Stadt verstieß.
Er lachte auf - kurz und bitter. Offenbar erinnerte er sich.
„Und was wollt Ihr von mir, Winter Fedaykin?“, fragte er düster. „Euch an meinem Unglück ergötzen? Nun… genießt es!“
„Nein, ich…“ Sie biss sich auf die Lippen. Wieso kam sie sich so schäbig vor, hier bei ihm aufzutauchen und ihn um einen Gefallen zu bitten? Er hatte ihr Mitleid nicht verdient. Es war nur gerecht, dass er litt. „Ich brauche Informationen zu einem magischen Stein – ein Splitter eines Edelsteins, der…ähm… der einmal Euch gehört hat.“
Stille.
„Ihr meint den Seelensplitter?“
„Ich denke schon…“ Sie stocke. Nein, das hat niemand verdient. „Elijas, ich kann Euch helfen.“
„Das könnt Ihr nicht.“
„Doch, ich kann…“
„Verschwindet!“ Mit jäher Feindseligkeit hob er den Kopf. Winter erschrak, als der Blick seiner grün-goldenen Augen sie traf – dunkel und leer und von tiefen, blessurartigen Ringen umschattet. Von dem stolzen, verschlossenen Elfenfürsten war nicht viel mehr als ein Schatten geblieben, das Gesicht aschfahl und eingefallen; die Gesichtsmuskeln angespannt als falle es ihm schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt bemerkte sie, dass er trotz der Hitze zitterte.
Die Gefangenschaft bringt ihn um, erkannte Winter betroffen. Der Sandkäfig hatte ihm seinen Lebenswillen geraubt. Doch da war noch etwas. Etwas, das ihn auffraß.
„Versprecht mir, dass Ihr verschwindet, wenn ich rede, und ich sage Euch alles, was ich über den Stein weiß.“
Winter zögerte.
„Also gut“, sagte sie und war froh, dass er ihre Augen nicht sehen konnte.
„Der magische Stein, den Ihr gestohlen habt, war ein Familienerbstück“, erklärte der Avariel. „Mein Vater nannte ihn den ‚Seelensplitter’ oder einfach nur ‚den Schlüssel’ und lehrte mich, dass der Stein die Stadt der Gläsernen Gesänge niemals verlassen dürfe, weil er sonst großes Leid über Faerûn bringen könne. Weshalb, das erfuhr ich nie. Er behauptete, der Stein werde mir seine Aufgabe offenbaren, wenn meine Seele dazu bereit sei. Doch das ist nie geschehen.“
So etwas in der Art hatte Winter befürchtet.
„Er wurde gestohlen“, gestand sie leise.
Für einen Augenblick meinte sie so etwas wie Betroffenheit in Elijas’ Augen zu lesen. Dann waren sie wieder kalt und leer.
„Ihr hättet ihn niemals an Euch nehmen dürfen.“
„Ihr könntet uns helfen, den Splitter wieder zu finden.“
„Das ist nicht mehr mein Problem; Ihr habt ihn gestohlen.“
„Aber es wäre uns eine große Hilfe, wenn Ihr…“
Er schnitt ihr das Wort ab: „Ihr habt gesagt, Ihr verschwindet, wenn ich rede!“
„Da… habe ich wohl gelogen“, gestand sie. „Elijas, ich will doch nur…“
„Wachen!“
In einer einzigen blitzschnellen Bewegung katapultierte sich Elijas aus der Hocke in den Sprung. Winters beschwichtigende Worte halfen nichts: Mit Händen und Füßen klammerte er sich an das Gitterdach seiner Zelle und begann wie ein eingesperrtes Tier an den Stäben zu rütteln. Aufgeregte Stimmen wurden laut und einen Augenblick später wurde die Tür des nächstgelegenen Wehrturms aufgerissen und zwei Wächter stürmten mit Knüppeln bewaffnet heraus, um den Gefangenen unter Kontrolle zu bringen.
Winter erkannte, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte.
Aber du kennst mich schlecht, wenn du denkst, dass du mich so einfach loswirst.
Faust
Wenig später in der Arena von Westtor.
„Vampirblut“, erklärte Grimwardt, während er halbherzig das Geschehen in der Arena verfolgte. „Auf Sterbliche wirkt es wie eine Droge. Es verbessert die Reflexe und schärft die Wahrnehmung, doch über kurz oder lang tötet es den Süchtigen und lässt ihn als Vampir wiederauferstehen. Die roten Augen, die Lichtempfindlichkeit – alles Symptome einer Blutsucht.“
„Wir sollten ihm helfen“, sagte Winter bedrückt. „Könntest du ihn nicht in der Abtei behandeln?“
„Warum sollte ich?“, schnaubte Grimwardt. „Hast du vergessen, was er getan hat? Die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat? Unter den Toten waren Kinder! Sein Volk hat ihn nicht ohne Grund verstoßen.“
„Sollen wir etwa zulassen, dass er zum Vampir wird?“
„Das lässt sich verhindern“, brummte Grimwardt und deutete auf seine Axt.
„Grim!“
„Warum bist du so versessen darauf, dem Kerl zu helfen?“
„Weil…“ Winter biss sich auf die Lippen, wie sie es immer tat, wenn ihr die Argumente ausgingen, und senkte irritiert den Kopf.
„Manche Leute haben keine zweite Chance verdient“, erklärte Grimwardt eisern.
„Jeder hat eine zweite Chance verdient“, widersprach Faust und betrachtete den Priester Stirn runzelnd von der Seite. Er hatte den Geschwistern nie erzählt, was er in Myth Drannor über sich selbst erfahren hatte. Was würde Grimwardt tun, wenn er es irgendwann erfuhr? Würde es etwas zwischen ihnen ändern? Wo zog der Priester seine Grenze? Was den Avariel anging, so konnte Faust sein Urteil nur aufgrund dessen fällen, was er von den Geschwistern erfahren hatte. Doch er musste sich eingestehen, dass ihm die Zweck-heiligt-die-Mittel-Philosophie des Elfen bis zu einem gewissen Grad imponierte.
„Miu!“
Abrupt beendete Winters Aufschrei den kleinen Disput. Faust erstarrte. Was war mit Miu geschehen? Woher kam all das Blut, das ihr aus Augen und Ohren trat? Bestürzt bemerkte er die tiefen Einschnitte, die sich über ihren gesamten Körper zogen.
„Miu, was hast du getan?!“
Die Karaturianerin sah ihn mit leidenden Augen an und deutete mit dem Kopf in Richtung der Arena. Während ihrer kurzen Auseinandersetzung hatten die Gefährten kaum auf das Kampfgeschehen geachtet. In der Arena wurde die Belagerung Westtors durch die Truppen des Soleilon nachgestellt. Sir Gen Soleilon, der Paladin des Lathander, hatte nach seinem Sieg über den roten Drachen Ashardalon eine Armee um sich gesammelt und war gegen den Vampirkönig Orlak I. in die Schlacht gezogen. Nach seinem Sieg über den Nachtkönig war er zum König von Westtor gekrönt worden. Die Vampire waren natürlich nur geschminkte Gladiatoren und die glorreichen Streiter des Lathander wussten kaum, wie man mit einem Schwert umging. Umso erstaunlicher war es, dass es auf beiden Seiten bisher kaum Tote gegeben hatte. Und Faust fiel dafür nur eine Erklärung ein: Miu! Die friedliebende Karaturianerin hatte nicht mit ansehen können, wie die Kämpfer in der Arena zur Belustigung der Menge ihr Leben ließen. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal irgendeinen märtyrerischen Zauber gewirkt, der sie alle Wunden auf sich nehmen ließ.
„Miu, du verdammte Irre“, stöhnte Faust. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“
Sieh mich nicht so an!
„Oh, fahr zur Hölle!“, fluchte der Kämpfer, während er, halb wider sich selbst, seinen Knüppel packte und sich, immer zwei Sitzreihen auf einmal nehmend, einen Weg durch den Zuschauerraum bahnte. Bis die Arenenwächter merkten, was los war, war er bereits über die Bande gesprungen und hatte den nächststehenden Kämpfer nieder geprügelt. Die Fellumkleidung seiner Keule federte die Wucht seiner Schläge, als er wie ein Orkan durch die Reihen der Gladiatoren fegte. Die Männer würden von dem Ansturm allenfalls ein paar blaue Flecken und einem brummenden Schädel zurückbehalten. Sicher nicht die Art von Rettungsaktion, die Miu im Sinn gehabt hatte - aber sie hatte nun wirklich kein Recht sich zu beschweren! Wie oft sollte er noch für sie den Trottel spielen, bis ihre Weichherzigkeit sie eines Tages umbrachte? Den Turnierkommentator brachte das Auftauchen des rasenden Irren, der entschlossen schien, mit beiden Seiten gleichermaßen abzurechnen, sichtlich in Erklärungsnot. Doch die Menge jubelte – und wen kümmerte historische Genauigkeit, wenn das Volk zufrieden war?
Es dauerte nicht lange, bis auch der letzte Mann am Boden lag. Was nun? Die Wächter, die ihn eben noch aus der Arena hatten zerren wollen, wirkten nun entschlossen, ihn um jeden Preis am Gehen zu hindern. Ein so erfahrener Kämpfer war ein seltener Gast in der Arena von Westtor… und ein würdiger Gegner für den „Geflügelten Blitz“. Unter lautem Jubel wurde das Gittertor geöffnet, das die Arena von den Sandgruben trennte, und Elijas Avalior trat aus dem Schatten. Trotz der gebrochenen Flügel war der Avariel eine eindrucksvolle Erscheinung – würdevoll und vollkommen ruhig. Doch Faust wusste genug über Aufputschmittel, um zu erkennen, dass seine Gelassenheit der benebelnden Wirkung des Vampirbluts zuzuschreiben war. Wahrscheinlich verabreichte jemand ihm die Droge stets kurz vor dem Kampf, um ihn in der Arena unter Kontrolle zu halten.
Der Kommentator gab das Startsignal. Faust gewahrte noch, wie Elijas einen Hast-Zauber auf sich wirkte, dann streifte ihn kaltes Metal. Bevor er auch nur zu erfassen vermochte, wohin sein Angreifer so plötzlich verschwunden war, traf ihn eine magische Kugel aus purer Energie in den Magen und schleuderte ihn eine Mannslänge durch die Arena. Was zur Hölle…? Faust spuckte Sand. Alles klar: Dem Klingensänger schien daran gelegen zu sein, es schnell hinter sich zu bringen. Und „schnell“ bekam hier eine ganz neue Bedeutung. Faust hatte es schon mit vielen wendigen Gegnern zu tun gehabt, aber Elijas’ Kombination aus magischer Beschleunigung und kämpferischer Präzision übertraf selbst den rasanten Schwertertanz eines Drizzt Do’Urden. Für einen Augenblick bedauerte Faust, dass er nur seinen Knüppel zur Hand hatte – mit seinem Henkersschwert hätte er sich in diesem Kampf deutlich wohler gefühlt. Dann wirbelte er herum und antwortete mit einem Sturmangriff, der den überraschten Elfen gegen die Bande schleuderte. Es regnete Federn und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten.
Er will sterben, erkannte Faust.
Er wusste, dass die elfische Philosophie der Seldarine den Freitod als Verbrechen wider das Leben betrachtete. Wahrscheinlich hatte der Avariel seit langem auf einen Gegner gewartet, der ihm die Stirn bieten konnte, um sein Leben zu beenden ohne seinem Glauben zuwider zu handeln. Selbst wenn Faust ihn mit dem Knüppel nur bewusstlos schlagen konnte, so würde der Kodex der Arena seinen Tod verlangen. Und darauf hoffte er. Die Erkenntnis verpasste Fausts Kampfgeist einen schweren Dämpfer. Er brauchte das Feuer, die Leidenschaft, den Siegeswillen … Welchen Reiz hatte ein Kampf, den sein Gegner zu verlieren hoffte? Nicht, dass Elijas es ihm leicht gemacht hätte! Sein rasanter Klingentanz ließ Faust kaum Raum für Gegenangriffe, doch die überrumpelnde Wucht des ersten Angriffs blieb aus. Sicher, der Avariel war geschwächt: Fausts erster Angriff hatte ihm schwer zugesetzt und die gebrochenen Flügel taten das Übrige den Kampf zu erschweren. Ein einziger sicherer Schlag und er wäre erledigt! Doch es gab keinen sicheren Schlag gegen einen Gegner, der sich schneller bewegte als die verdammte Zeit!
Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, dachte Faust bitter. Immerhin hatten seine Gefährten den Klingentänzer zu fünft kaum besiegen können. Elijas schien zu demselben Schluss zu kommen. Beinahe verzweifelt wirkte sein nächster Schlag… und die Arena begann sich um Faust zu drehen.
Als er wieder zu sich kam, hielt der Avariel ihm das Schwert an die Kehle. Sein Blick aus leeren Augen war auf eine Tribüne im Zuschauerraum gerichtet, wo sich Lady Thistle Thalavar, die Herrscherin von Westtor, von ihrem Platz erhob, um die Entscheidung über Leben und Tod zu verkünden, die das Publikum gefällt hatte. Sie schien nicht besonders glücklich über diese Rolle.
Ihr Daumen zeigte nach unten.
Oh, scheiße, dachte Faust.
Winter
Kurz darauf in der Nähe des Sune-Tempels im südlichen Hochwald.
Faust regte sich, als der Heiltrank zu wirken begann, und blinzelte orientierungslos ins Licht.
„Wo…bin ich? Scheiße, bin ich tot?“
„Nein. Du bist ohnmächtig geworden, bevor ich Elijas niederschlagen konnte“, sagte Winter. „Ich habe uns aus der Arena teleportiert.“
„Oh… danke.“ Faust setzte sich auf.
„Kannst du mir mal helfen?“
Ächzend wälzte Winter den bewusstlosen Avariel auf die Seite. Ihre magischen Bolzen hatten eine hässliche Platzwunde in seine Schläfe gerissen. Faust kniete sich zu ihr und untersuchte die Wunde.
„Du hast ihm eine ordentliche Kopfnuss verpasst, aber das wird ihn nicht umbringen“, sagte er. „Wo sind Miu und Grimwardt?“
„Miu wäre fast an ihren Wunden verblutet. Grim hat sie aus dem Theater geschafft.“
„Und was nun?“ Faust wies auf Elijas. „Was machen wir mit ihm?“
„Wir bringen ihn in den Tempel.“
„Welchen Tempel?“
„Komm mit.“
Faust schulterte den Bewusstlosen und Winter führte ihn durch das Unterholz. Ein Gefühl der Beklommenheit überkam sie, als sie die Terracotta-Säulen des Sune-Tempels durch das Geäst schillern sah. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit… seit jenem Tag. Ein Pulk junger Frauen und schöner Jünglinge in Jagdgewändern kam ihnen aus den Torbögen entgegen geeilt. Ihr unbeschwertes Lachen wich aufgeregtem Getuschel, als sie die Fremden erblickten. Das herzerweichende Bild des verwundeten Kriegers, der einen bewusstlosen „Engel“ im Arm trug, entlockte den Sune-Anhängern rührselige Seufzer. Eine junge Nymphe überwand als erste ihre Scheu und trat auf Faust zu. Schüchtern streckte sie ihre Hand aus und ließ sie sanft über Elijas’ Federkleid gleiten. Dann blickte sie mit großen, samtenen Augen zu Faust auf und zog ihn mit sich in den Tempel.
„Ähm“, machte Winter und hielt ihn am Arm zurück. „Ich muss mit Lady Amalia sprechen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen zurück nach Westtor, um einen Schlachtplan aufzustellen, ehe der Maskenball beginnt.“
„Schlachtplan...“, murmelte der Krieger mit einem entrückten Lächeln ohne die Blicke von den perfekten Rundungen der Nymphe zu lassen.
„Aber Euer Freund ist verletzt, mein Herr“, sagte sie arglos. „Und auch Ihr seid verwundet.“
„Ja, das bin ich“, hauchte Faust wie mit seinem letzen Atemzug.
Oh, bitte!
Winter verdrehte die Augen. Kopfschüttelnd sah sie zu, wie sich Faust von einem Duzend parfümierter Hände in ein luftiges Atrium und auf ein Kissenlager ziehen ließ. Dann fing sie eine der Novizinnen ab, die mit Ölen und Salben anrückten, um die beiden Verwundeten zu verwöhnen, und ließ sich zu Lady Amalia führen. Sie fand die Vorsteherin des Tempels im Gebetsraum, wo sie den Altar mit frischen Blumengestecken dekorierte.
„Winter.“ Ein schwermütiges Lächeln huschte über das Gesicht der Priesterin.
Winter musste sich beherrschen, um nicht laut mit den Zähnen zu knirschen. Sie würde Lady Amalia niemals vergeben können, was sie getan hatte.
„Wir brauchen Eure Hilfe“, sagte sie steif. „Es geht um einen Blutsüchtigen…“
Bevor sie ihr Anliegen vortragen konnte, drangen wütende Stimmen aus dem Atrium und eine Novizin kam herbeigeeilt, um Lady Amalia etwas ins Ohr zu flüstern.
„Entschuldigt mich.“
Winter folgte der Priesterin in die Säulenhalle: Das Liebesnest schien sich in wenigen Minuten in ein Tollhaus verwandelt zu haben. Faust stand aufgebracht in der Mitte des Saals und stritt mit einer hübschen Mondelfe, die mit zornigen Gesten ihre Kameradinnen aus der Nähe des bewusstlosen Avariel verscheuchte. Dazu riefen alle durcheinander und ergriffen Partei für die eine oder andere Seite.
„Nevé!“, rief Lady Amalia die Novizin zur Ordnung. „Was ist hier los?“
Sofort kehrte Stille ein.
„Der Avariel ist ein dhaerow“, sagte die Elfe starrsinnig. „Er trägt das Mal des Ausgestoßenen. Ich sagte dem Krieger, er soll ihn von hier fortschaffen!“
„Was soll der Mist?“, knurrte Faust. „Das hier ist kein elfischer Tempel.“
„Das Haus der Liebe ist freundschaftlich mit dem Immergold-Tempel verbunden, der Hanali Cenalil aus dem Pantheon der Seldarine geweiht ist“, belehrte ihn die Novizin. „Würdet Ihr dem Feind Eures Freundes Einlass in Euer Haus gewähren?“
„Das reicht.“ Lady Amalia hob beschwichtigend die Hände. „Verlasst den Raum. Ich will allein mit unseren Gästen reden… Geht. Auch du, Nevé.“
Widerstrebend gehorchte die Elfe dem Befehl ihrer Herrin.
„Es tut mir leid“, sagte Lady Amalia seufzend, nachdem die anderen gegangen waren. „Und ich entschuldige mich für Nevés Benehmen. Aber sie hat Recht. Ich kann Euren Freund nicht behandeln ohne die elfische Glaubensgemeinschaft des Hochwalds gegen uns aufzubringen.“
„Wegen eines unsichtbaren Mals?“
„Die Elfen bestrafen nur die schlimmsten Verbrechen mit dem Mal des dhaerow“, erklärte die Priesterin.
Faust murmelte schnaubend etwas von „Oberflächliches Pack“ und verließ mit Elijas in den Armen den Tempel. Lady Amalia sah ihnen bekümmert nach.
„Wenn ich sonst etwas für Euch tun kann…“
„Nein“, sagte Winter frostig und folgte Faust in den Wald. Nicht weit vom Tempel lehnten sie Elijas gegen einen Baum und ließen sich ratlos ins Moos sinken.
„Und was nun?“, fragte Faust.
Winter schüttelte mutlos den Kopf.
„Ich muss nachdenken“, sagte sie.
Ziellos machte sie einige Schritte ins Unterholz. Sie wollte allein sein. Sie war den Tränen nahe und ihre eigene Empfindsamkeit befremdete sie. Warum lag ihr so viel daran, diesen Avariel zu retten? Hatte er ihr nicht deutlich genug gezeigt, dass ihm nicht an ihrer Hilfe gelegen war?
Abrupt blieb sie stehen, als sie erkannte, wohin ihre Schritte sie gelenkt hatten.
Doriens Grab.
Er ist wie ich.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es war nicht Elijas, den sie zu schützen versuchte, sondern sich selbst! In dem Moment, als sie ihn in der Grube gesehen und ihm in die Augen geblickt hatte, hatte sie etwas von sich selbst in ihm erkannt. Seine Welt war zusammengebrochen so wie die ihre dabei war, auseinander zu fallen, und es hatte seinen Lebenswillen zerstört. Würde sie enden wie er? Die Leere, die Doriens Tod in ihr hinterlassen hatte, die Furcht Scarlet zu verlieren und schließlich die Hilflosigkeit, die sie beim Wegfall der Magie empfunden hatte, nagten wie dunkle Schatten an ihrer Seele. Was würde von ihr übrig bleiben, wenn sich all das in Staub auflöste, woran sie hing und was ihr wichtig war?
Betäubt ließ sie sich vor Doriens Grab zu Boden sinken.
„Hilf mir“, flüsterte sie. „Sag mir, was ich tun soll.“
Faust
Wenig später.
Sie hatten Elijas mit einem Fluch belegt, der ihm beim Anblick von Vampirblut Brechreiz verursachen sollte. Ob das einen Süchtigen abhalten würde, war fraglich. Winter und Faust waren sich darüber im Klaren, dass er nur überleben würde, wenn er den Willen dazu fand.
„Er braucht ein Ziel“, hatte Winter gesagt, als sie zurückgekommen war. Sie hatte Faust nicht sagen wollen, wo sie gewesen war, doch was auch immer sie im Wald getan hatte, es hatte sie verändert. Sie wirkte entspannter als zuvor.
Faust kniete sich nieder und flößte Elijas einen Heiltrank ein. Der Avariel kam zu sich. Er blinzelte irritiert, als er in Faust seinen Kampfgegner erkannte. Doch dann erblickte er Winter und begriff.
„Aufgeben ist wohl keine Eurer Stärken“, murmelte er ergeben.
„Nein.“
Er schloss die Augen und lachte mutlos auf.
„Ihr hättet mich sterben lassen sollen“, flüsterte er. „Schon damals, in Immerschwinge. Für mich gibt es keine Alternative. Doch das könnt ihr nicht verstehen.“
„Schon klar“, spottete Faust. „Weil wir Menschen sind, was verstehen wir schon?“ Elfischer Überlegenheitsmythos – ein weit verbreitetes Übel.
„Nein. Weil Veränderung Teil eurer menschlichen Natur ist.“
Faust runzelte die Stirn. Er hatte den Avariel falsch eingeschätzt: Er verachtete die Menschen nicht, er beneidete sie…
„Ihr könnt Euer Schicksal ändern“, sagte er. „Auch ich habe einst einen Fehler begangen, den ich glaubte, nie wieder gut machen zu können.“
„Ich habe nicht einfach einen ‚Fehler begangen’“, sagte Elijas düster. „Was ich tat, tat ich aus Überzeugung. Wenn ich falsch lag, warum haben die Seldarine mich nicht mit den anderen in den Tod geschickt? Warum… das hier?“
„Vielleicht haben sie uns geschickt, damit Ihr Euren Weg wieder findet.“
Elijas schüttelte sacht den Kopf, doch Fausts Worte schienen ihn nachdenklich gemacht zu haben. Der Kämpfer schwieg, um seine Worte nachwirken zu lassen.
„Was meintet Ihr eben, als ihr von Euren Fehlern spracht?“, fragte der Avariel schließlich.
Faust zögerte.
„Winter, würdest du vielleicht…?“
Nicht vor ihr.
„Bin schon weg.“
Nachdem Winter im Gebüsch verschwunden war, begann Faust zu erzählen. Er erzählte von den Jahren in Rabenklippe, die er als Mitglied der Neun Schwerter verbracht hatte. Von dem Streit um seinen Vater, der zu dem Kampf mit seinem Meister und dessen Tod geführt hatte. Von seiner Flucht aus Rabenklippe und der Zeit der Buße in der Welt hinter den Nebeln. Von seiner Rückkehr nach Toril und der Rebellion des Nagamura in Kara-Tur. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm nicht schwer sich vor Elijas zu öffnen. Vielleicht weil die Ehre des Avariel mindestens so angeschlagen war wie die seine. Und es tat gut diese Dinge auszusprechen. Worte brachten alles in einen Zusammenhang, gaben dem vermeintlichen Chaos einen Sinn…
Als er schließlich aufsah, war er erstaunt, wie spät es bereits war.
„Was werdet Ihr tun?“, wandte er sich an Elijas, der ihm mit gleichmütiger Miene zugehört hatte. Unmöglich zu sagen, was er dachte.
Der Elf zögerte.
„Ich weiß nicht…Vielleicht werde ich nach Rabenklippe gehen und mich den Neun Schwertern vorstellen. Was Ihr über sie erzählt, hat mich neugierig gemacht.“
Faust hob überrascht den Kopf.
„Oh.“
Nicht gerade die Reaktion, die er erhofft hatte. Sicher, auf eine gewisse Art und Weise hatte er genau das erreicht, was er wollte: Elijas schien nicht mehr darauf zu warten, dass ihm irgendwer ein Schwert in die Brust stieß. Fürs erste hatte er sogar ein Ziel vor Augen, etwas, aus dem er neuen Lebensmut schöpfen konnte. Wenn er ehrlich war, war die Abenteurerstadt Rabenklippe sogar der ideale Ort für einen gefallenen Avariel. Niemand würde ihn dort nach seiner Vergangenheit fragen. Und die Neun Schwerter wären ihm gegenüber vermutlich auch nicht abgeneigt: Sein Klingensänger-Stil war der karaturianischen Kampfkunst des Ordens nicht unähnlich und bei seiner kämpferischen Erfahrung wäre es Elijas vermutlich ein Leichtes, den Stil der Neun zu imitieren. Aber mussten seine Zukunftspläne unbedingt Fausts Vergangenheit beinhalten?
„Keine Angst“, sagte Elijas, der Fausts Zweifel zu erraten schien. „Falls sie noch immer nach euch suchen, werde ich niemandem verraten, wo ihr seid. Ihr habt mein Wort.“
Das Geräusch eines abgebrochenen Zweigs ließ die beiden aufhorchen. Winter trat aus dem Gehölz.
„Wir müssen zurück“, wandte sie sich an Faust. „Grim fragt sich sicher bereits, wo wir bleiben.“
Elijas, der ihre Worte als Signal zum Abschied deutete, richtete sich auf und bewegte vorsichtig die Flügel, die die Sune-Anhänger mit ihren heilenden Salben bestrichen hatten.
„Ich stehe in Eurer Schuld“, sagte er an die beiden Freunde gewandt. „Vielleicht… erhalte ich irgendwann einmal die Gelegenheit, Euch den Gefallen zurückzuzahlen.“
Die beiden sahen ihm nach, als er die Schwingen ausbreitete und davonflog und Faust schien es als hätten sie beide den gleichen Gedanken: Vielleicht hast du das schon.
Winter
Später in Westtor.
Erschöpft ließen sich die Gefährten im Schatten der Marktstände auf einer Mauer nieder, um ihren dampfenden Füßen eine Rast zu gönnen. In der brütenden Sommerhitze war Westtor mit seinen sandigen Straßen und geschäftigen Kaufleuten der reinste Hexenkessel. Ihre Nachforschungen in der Stadt hatten die Gefährten nicht weit gebracht: Die Stadtbewohner waren keine große Hilfe gewesen. Die meisten hatten ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald sie den Namen „Urdo“ auch nur erwähnt hatten. Selbst die Priester der Morgenröte im Tempel des Lathander schienen sich mit dem abgefunden zu haben, was niemand hier auszusprechen wagte: dass Westtor längst in den Händen der Vampirgilde war, die die politischen Geschicke des Stadtstaats aus dem Verborgenen lenkte und die Regierung an der kurzen Leine hielt.
„Seht den Geflügelten Blitz in der Arena von Westtor!“, schallte es über den Marktplatz. Mit einer Trommel in der Hand und einer Werbetafel auf dem Rücken versuchte sich ein junger Marktschreier in all dem Trubel Gehör zu verschaffen. „Der Zitternde Daumen präsentiert: Kampf um Westtor. Heute zur Mittagsstunde in den Sandgruben.“
„Ist er gut?“, fragte Faust mit mäßigem Interesse und ruckte den Kopf in Richtung der Werbetafel. „Der Geflügelter Blitz?“
„Er ist der Beste!“, versicherte der Junge eifrig. „Sie stellen die Schlacht um Westtor nach. Er spielt den Engel, der an Soleilons Seite kämpfte. Und er ist wahnsinnig schnell!“
„Dann ist er wohl wirklich ein Engel?“ fragte Faust mit sanftem Spott.
„Naja, er hat Flügel!“, verteidigte der Junge seinen Helden. „Sie sehen ein wenig aus wie… wie Falkenflügel, aber warum sollte er kein Engel sein? Habt Ihr schon mal einen echten Engel gesehen?“
Winter horchte auf. Falkenflügel? Wahnsinnig schnell? Es mochte ein Zufall sein, doch die Beschreibung passte auf einen einstigen Widersacher ihrer alten Abenteuergruppe.
„Ist dein Engel vielleicht ein Avariel?“, fragte sie.
„Ein… was?“
„Ein geflügelter Elf.“
Der Junge überlegte.
„Nun, er hat spitze Ohren“, räumte er ein.
Elijas Avalior. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Das Intrigenspiel des Klingensängers hatte eine machtgierige Avarielfürstin zu einem verheerenden Angriff auf die Stadt der Gläsernen Gesänge verleitet, der ohne das Eingreifen der Gefährten in einem Desaster geendet hätte. Elijas’ Absichten mochten ehrenhaft gewesen sein: Durch den Angriff waren die korrupten Machenschaften der Regierung aufgeflogen und die Ungeflügelten hatten sich aus ihrer Jahrhunderte währenden Knechtschaft befreit. Doch das änderte nichts daran, dass er den Tod duzender Unschuldiger in Kauf genommen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Für seine Verbrechen war er aus der elfischen Gemeinschaft von Faerûn ausgestoßen worden. Aber es war nicht diese Erinnerung, die Winter im Sinn hatte, als sie sich nun an den jungen Marktschreier wandte.
„Wo finde ich diesen ‚Geflügelten Blitz’?“
„Die Gladiatoren werden in den Sandgruben des ‚Zitternden Daumen’ im Arenenviertel ausgebildet“, sagte der Junge. „Aber im Moment ist keine Besuchszeit. Ihr müsst bis nach dem Kampf warten, um…“
Doch Winter war bereits davongeeilt.
„Kannst du mir erklären, was das werden soll?“, knurrte Grimwardt, der wie Faust und Miu Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
„Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung mit Vampirdrake?“, fragte sie.
„Ja, gestern auf dem…“ Dann stockte er. „Du meinst den Einbruch bei den Wands?“
„Als er uns den Stein aus der Avarielstadt stahl, ganz recht“, bestätigte Winter.
Es war etwa zweieinhalb Monate her. Damals hatte ein Klon, den sie für Drake gehalten hatten, den magischen Steinsplitter entwendet, den Winter bei der Plünderung von Elijas’ persönlichem Hab und Gut gefunden hatte. Der Verlust war ihr als nicht weiter tragisch erschienen. Die einzige Fähigkeit des Steins schien es zu sein, seinem Träger den Grad an Verderbtheit seiner eigenen Seele aufzuzeigen. Nicht gerade die nützlichste Erfindung. Doch in Verbindung mit dem Geheimnis um die seelenlosen Geburten mochte der Stein eine weitaus größere Bedeutung haben, als sie damals hätten ahnen können. Und wer könnte mehr darüber wissen, als der vormalige Besitzer des Steins?
Vom Wächter am Tor der Gladiatorenschule erfuhren die Gefährten, dass die Sandgruben nicht nur Sklaven beherbergten. Der Politik der Arenenbetreiber, die jedem Gladiator, der die Sandgruben ein Jahr lang überlebte, die Freiheit versprachen, war es zu verdanken, dass es auch viele Gemeine in die Arena zog. Der Ruhm hatte schon so manchen Tagelöhner zum Stadthelden gemacht und die meisten der „Wiedergekehrten“ waren inzwischen erfolgreiche Söldner. Der Geflügelte Blitz jedoch war ein Gefangener, den ein Ausbilder einem Tayanischen Sklavenhändler abgekauft hatte. Winter bezweifelte, dass der „Stolz der Arena“ wie die anderen darauf hoffen durfte, in die Freiheit entlassen zu werden.
Während die anderen dem Wächter Karten für das Kampfspektakel abkauften, schlich sich die Zaubermeisterin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, durch das Tor. Die Sandgruben befanden sich hinter dem Hauptgebäude der Gladiatorenschule: In zwei Duzend Bodengruben, die mit stählernen Gitterluken abgedeckt waren, harrten Kreaturen verschiedenster Rassen ihrem Einsatz in der Arena. Die gleißende Mittagssonne drang gnadenlos bis in den letzten Winkel der Zellen und lieferte die Gefangenen den Blicken der Aufseher aus, die das Gelände von vier Wachtürmen überblickten. Immerhin schien es kein magisches Warnsystem zu geben: Unter ihrem Zauber blieb Winter unentdeckt. Nicht einmal als sie mit Hilfe eines Flugzaubers in die Höhe schwebte, um sich einen Überblick zu verschaffen, schlugen die Wachen Alarm.
Aus der Vogelperspektive war es ein Leichtes, den geflügelten Elfen in einer der Sandgruben ausfindig zu machen. Zusammengesunken kauerte der Avariel im schattigsten Winkel seiner Zelle, das Gesicht mit dem Ellbogen abgeschirmt und die Flügel eingeknickt: Die einst kupfer-weißen Schwingen waren an den Ellen angebrochen und mit Staub bedeckt. Der Bruch wirkte gewollt.
Ein Vogel im Käfig, dachte Winter.
„Elijas?“, flüsterte sie.
Er regte sich kurz, sah jedoch nicht auf.
„Ich bin es, Winter.“ Sie kauerte sich unsichtbar an den Rand des Käfiggitters. „Winter Fedaykin.“
„Wer?“ Es klang tonlos und schal.
„Wir haben uns in Immerschwinge kennen gelernt…“
Kennen gelernt war nicht unbedingt der passende Ausdruck. Sie hatte ihn geplündert und dafür gesorgt, dass man ihn aus der Stadt verstieß.
Er lachte auf - kurz und bitter. Offenbar erinnerte er sich.
„Und was wollt Ihr von mir, Winter Fedaykin?“, fragte er düster. „Euch an meinem Unglück ergötzen? Nun… genießt es!“
„Nein, ich…“ Sie biss sich auf die Lippen. Wieso kam sie sich so schäbig vor, hier bei ihm aufzutauchen und ihn um einen Gefallen zu bitten? Er hatte ihr Mitleid nicht verdient. Es war nur gerecht, dass er litt. „Ich brauche Informationen zu einem magischen Stein – ein Splitter eines Edelsteins, der…ähm… der einmal Euch gehört hat.“
Stille.
„Ihr meint den Seelensplitter?“
„Ich denke schon…“ Sie stocke. Nein, das hat niemand verdient. „Elijas, ich kann Euch helfen.“
„Das könnt Ihr nicht.“
„Doch, ich kann…“
„Verschwindet!“ Mit jäher Feindseligkeit hob er den Kopf. Winter erschrak, als der Blick seiner grün-goldenen Augen sie traf – dunkel und leer und von tiefen, blessurartigen Ringen umschattet. Von dem stolzen, verschlossenen Elfenfürsten war nicht viel mehr als ein Schatten geblieben, das Gesicht aschfahl und eingefallen; die Gesichtsmuskeln angespannt als falle es ihm schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt bemerkte sie, dass er trotz der Hitze zitterte.
Die Gefangenschaft bringt ihn um, erkannte Winter betroffen. Der Sandkäfig hatte ihm seinen Lebenswillen geraubt. Doch da war noch etwas. Etwas, das ihn auffraß.
„Versprecht mir, dass Ihr verschwindet, wenn ich rede, und ich sage Euch alles, was ich über den Stein weiß.“
Winter zögerte.
„Also gut“, sagte sie und war froh, dass er ihre Augen nicht sehen konnte.
„Der magische Stein, den Ihr gestohlen habt, war ein Familienerbstück“, erklärte der Avariel. „Mein Vater nannte ihn den ‚Seelensplitter’ oder einfach nur ‚den Schlüssel’ und lehrte mich, dass der Stein die Stadt der Gläsernen Gesänge niemals verlassen dürfe, weil er sonst großes Leid über Faerûn bringen könne. Weshalb, das erfuhr ich nie. Er behauptete, der Stein werde mir seine Aufgabe offenbaren, wenn meine Seele dazu bereit sei. Doch das ist nie geschehen.“
So etwas in der Art hatte Winter befürchtet.
„Er wurde gestohlen“, gestand sie leise.
Für einen Augenblick meinte sie so etwas wie Betroffenheit in Elijas’ Augen zu lesen. Dann waren sie wieder kalt und leer.
„Ihr hättet ihn niemals an Euch nehmen dürfen.“
„Ihr könntet uns helfen, den Splitter wieder zu finden.“
„Das ist nicht mehr mein Problem; Ihr habt ihn gestohlen.“
„Aber es wäre uns eine große Hilfe, wenn Ihr…“
Er schnitt ihr das Wort ab: „Ihr habt gesagt, Ihr verschwindet, wenn ich rede!“
„Da… habe ich wohl gelogen“, gestand sie. „Elijas, ich will doch nur…“
„Wachen!“
In einer einzigen blitzschnellen Bewegung katapultierte sich Elijas aus der Hocke in den Sprung. Winters beschwichtigende Worte halfen nichts: Mit Händen und Füßen klammerte er sich an das Gitterdach seiner Zelle und begann wie ein eingesperrtes Tier an den Stäben zu rütteln. Aufgeregte Stimmen wurden laut und einen Augenblick später wurde die Tür des nächstgelegenen Wehrturms aufgerissen und zwei Wächter stürmten mit Knüppeln bewaffnet heraus, um den Gefangenen unter Kontrolle zu bringen.
Winter erkannte, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte.
Aber du kennst mich schlecht, wenn du denkst, dass du mich so einfach loswirst.
Faust
Wenig später in der Arena von Westtor.
„Vampirblut“, erklärte Grimwardt, während er halbherzig das Geschehen in der Arena verfolgte. „Auf Sterbliche wirkt es wie eine Droge. Es verbessert die Reflexe und schärft die Wahrnehmung, doch über kurz oder lang tötet es den Süchtigen und lässt ihn als Vampir wiederauferstehen. Die roten Augen, die Lichtempfindlichkeit – alles Symptome einer Blutsucht.“
„Wir sollten ihm helfen“, sagte Winter bedrückt. „Könntest du ihn nicht in der Abtei behandeln?“
„Warum sollte ich?“, schnaubte Grimwardt. „Hast du vergessen, was er getan hat? Die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat? Unter den Toten waren Kinder! Sein Volk hat ihn nicht ohne Grund verstoßen.“
„Sollen wir etwa zulassen, dass er zum Vampir wird?“
„Das lässt sich verhindern“, brummte Grimwardt und deutete auf seine Axt.
„Grim!“
„Warum bist du so versessen darauf, dem Kerl zu helfen?“
„Weil…“ Winter biss sich auf die Lippen, wie sie es immer tat, wenn ihr die Argumente ausgingen, und senkte irritiert den Kopf.
„Manche Leute haben keine zweite Chance verdient“, erklärte Grimwardt eisern.
„Jeder hat eine zweite Chance verdient“, widersprach Faust und betrachtete den Priester Stirn runzelnd von der Seite. Er hatte den Geschwistern nie erzählt, was er in Myth Drannor über sich selbst erfahren hatte. Was würde Grimwardt tun, wenn er es irgendwann erfuhr? Würde es etwas zwischen ihnen ändern? Wo zog der Priester seine Grenze? Was den Avariel anging, so konnte Faust sein Urteil nur aufgrund dessen fällen, was er von den Geschwistern erfahren hatte. Doch er musste sich eingestehen, dass ihm die Zweck-heiligt-die-Mittel-Philosophie des Elfen bis zu einem gewissen Grad imponierte.
„Miu!“
Abrupt beendete Winters Aufschrei den kleinen Disput. Faust erstarrte. Was war mit Miu geschehen? Woher kam all das Blut, das ihr aus Augen und Ohren trat? Bestürzt bemerkte er die tiefen Einschnitte, die sich über ihren gesamten Körper zogen.
„Miu, was hast du getan?!“
Die Karaturianerin sah ihn mit leidenden Augen an und deutete mit dem Kopf in Richtung der Arena. Während ihrer kurzen Auseinandersetzung hatten die Gefährten kaum auf das Kampfgeschehen geachtet. In der Arena wurde die Belagerung Westtors durch die Truppen des Soleilon nachgestellt. Sir Gen Soleilon, der Paladin des Lathander, hatte nach seinem Sieg über den roten Drachen Ashardalon eine Armee um sich gesammelt und war gegen den Vampirkönig Orlak I. in die Schlacht gezogen. Nach seinem Sieg über den Nachtkönig war er zum König von Westtor gekrönt worden. Die Vampire waren natürlich nur geschminkte Gladiatoren und die glorreichen Streiter des Lathander wussten kaum, wie man mit einem Schwert umging. Umso erstaunlicher war es, dass es auf beiden Seiten bisher kaum Tote gegeben hatte. Und Faust fiel dafür nur eine Erklärung ein: Miu! Die friedliebende Karaturianerin hatte nicht mit ansehen können, wie die Kämpfer in der Arena zur Belustigung der Menge ihr Leben ließen. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal irgendeinen märtyrerischen Zauber gewirkt, der sie alle Wunden auf sich nehmen ließ.
„Miu, du verdammte Irre“, stöhnte Faust. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“
Sieh mich nicht so an!
„Oh, fahr zur Hölle!“, fluchte der Kämpfer, während er, halb wider sich selbst, seinen Knüppel packte und sich, immer zwei Sitzreihen auf einmal nehmend, einen Weg durch den Zuschauerraum bahnte. Bis die Arenenwächter merkten, was los war, war er bereits über die Bande gesprungen und hatte den nächststehenden Kämpfer nieder geprügelt. Die Fellumkleidung seiner Keule federte die Wucht seiner Schläge, als er wie ein Orkan durch die Reihen der Gladiatoren fegte. Die Männer würden von dem Ansturm allenfalls ein paar blaue Flecken und einem brummenden Schädel zurückbehalten. Sicher nicht die Art von Rettungsaktion, die Miu im Sinn gehabt hatte - aber sie hatte nun wirklich kein Recht sich zu beschweren! Wie oft sollte er noch für sie den Trottel spielen, bis ihre Weichherzigkeit sie eines Tages umbrachte? Den Turnierkommentator brachte das Auftauchen des rasenden Irren, der entschlossen schien, mit beiden Seiten gleichermaßen abzurechnen, sichtlich in Erklärungsnot. Doch die Menge jubelte – und wen kümmerte historische Genauigkeit, wenn das Volk zufrieden war?
Es dauerte nicht lange, bis auch der letzte Mann am Boden lag. Was nun? Die Wächter, die ihn eben noch aus der Arena hatten zerren wollen, wirkten nun entschlossen, ihn um jeden Preis am Gehen zu hindern. Ein so erfahrener Kämpfer war ein seltener Gast in der Arena von Westtor… und ein würdiger Gegner für den „Geflügelten Blitz“. Unter lautem Jubel wurde das Gittertor geöffnet, das die Arena von den Sandgruben trennte, und Elijas Avalior trat aus dem Schatten. Trotz der gebrochenen Flügel war der Avariel eine eindrucksvolle Erscheinung – würdevoll und vollkommen ruhig. Doch Faust wusste genug über Aufputschmittel, um zu erkennen, dass seine Gelassenheit der benebelnden Wirkung des Vampirbluts zuzuschreiben war. Wahrscheinlich verabreichte jemand ihm die Droge stets kurz vor dem Kampf, um ihn in der Arena unter Kontrolle zu halten.
Der Kommentator gab das Startsignal. Faust gewahrte noch, wie Elijas einen Hast-Zauber auf sich wirkte, dann streifte ihn kaltes Metal. Bevor er auch nur zu erfassen vermochte, wohin sein Angreifer so plötzlich verschwunden war, traf ihn eine magische Kugel aus purer Energie in den Magen und schleuderte ihn eine Mannslänge durch die Arena. Was zur Hölle…? Faust spuckte Sand. Alles klar: Dem Klingensänger schien daran gelegen zu sein, es schnell hinter sich zu bringen. Und „schnell“ bekam hier eine ganz neue Bedeutung. Faust hatte es schon mit vielen wendigen Gegnern zu tun gehabt, aber Elijas’ Kombination aus magischer Beschleunigung und kämpferischer Präzision übertraf selbst den rasanten Schwertertanz eines Drizzt Do’Urden. Für einen Augenblick bedauerte Faust, dass er nur seinen Knüppel zur Hand hatte – mit seinem Henkersschwert hätte er sich in diesem Kampf deutlich wohler gefühlt. Dann wirbelte er herum und antwortete mit einem Sturmangriff, der den überraschten Elfen gegen die Bande schleuderte. Es regnete Federn und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten.
Er will sterben, erkannte Faust.
Er wusste, dass die elfische Philosophie der Seldarine den Freitod als Verbrechen wider das Leben betrachtete. Wahrscheinlich hatte der Avariel seit langem auf einen Gegner gewartet, der ihm die Stirn bieten konnte, um sein Leben zu beenden ohne seinem Glauben zuwider zu handeln. Selbst wenn Faust ihn mit dem Knüppel nur bewusstlos schlagen konnte, so würde der Kodex der Arena seinen Tod verlangen. Und darauf hoffte er. Die Erkenntnis verpasste Fausts Kampfgeist einen schweren Dämpfer. Er brauchte das Feuer, die Leidenschaft, den Siegeswillen … Welchen Reiz hatte ein Kampf, den sein Gegner zu verlieren hoffte? Nicht, dass Elijas es ihm leicht gemacht hätte! Sein rasanter Klingentanz ließ Faust kaum Raum für Gegenangriffe, doch die überrumpelnde Wucht des ersten Angriffs blieb aus. Sicher, der Avariel war geschwächt: Fausts erster Angriff hatte ihm schwer zugesetzt und die gebrochenen Flügel taten das Übrige den Kampf zu erschweren. Ein einziger sicherer Schlag und er wäre erledigt! Doch es gab keinen sicheren Schlag gegen einen Gegner, der sich schneller bewegte als die verdammte Zeit!
Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, dachte Faust bitter. Immerhin hatten seine Gefährten den Klingentänzer zu fünft kaum besiegen können. Elijas schien zu demselben Schluss zu kommen. Beinahe verzweifelt wirkte sein nächster Schlag… und die Arena begann sich um Faust zu drehen.
Als er wieder zu sich kam, hielt der Avariel ihm das Schwert an die Kehle. Sein Blick aus leeren Augen war auf eine Tribüne im Zuschauerraum gerichtet, wo sich Lady Thistle Thalavar, die Herrscherin von Westtor, von ihrem Platz erhob, um die Entscheidung über Leben und Tod zu verkünden, die das Publikum gefällt hatte. Sie schien nicht besonders glücklich über diese Rolle.
Ihr Daumen zeigte nach unten.
Oh, scheiße, dachte Faust.
Winter
Kurz darauf in der Nähe des Sune-Tempels im südlichen Hochwald.
Faust regte sich, als der Heiltrank zu wirken begann, und blinzelte orientierungslos ins Licht.
„Wo…bin ich? Scheiße, bin ich tot?“
„Nein. Du bist ohnmächtig geworden, bevor ich Elijas niederschlagen konnte“, sagte Winter. „Ich habe uns aus der Arena teleportiert.“
„Oh… danke.“ Faust setzte sich auf.
„Kannst du mir mal helfen?“
Ächzend wälzte Winter den bewusstlosen Avariel auf die Seite. Ihre magischen Bolzen hatten eine hässliche Platzwunde in seine Schläfe gerissen. Faust kniete sich zu ihr und untersuchte die Wunde.
„Du hast ihm eine ordentliche Kopfnuss verpasst, aber das wird ihn nicht umbringen“, sagte er. „Wo sind Miu und Grimwardt?“
„Miu wäre fast an ihren Wunden verblutet. Grim hat sie aus dem Theater geschafft.“
„Und was nun?“ Faust wies auf Elijas. „Was machen wir mit ihm?“
„Wir bringen ihn in den Tempel.“
„Welchen Tempel?“
„Komm mit.“
Faust schulterte den Bewusstlosen und Winter führte ihn durch das Unterholz. Ein Gefühl der Beklommenheit überkam sie, als sie die Terracotta-Säulen des Sune-Tempels durch das Geäst schillern sah. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit… seit jenem Tag. Ein Pulk junger Frauen und schöner Jünglinge in Jagdgewändern kam ihnen aus den Torbögen entgegen geeilt. Ihr unbeschwertes Lachen wich aufgeregtem Getuschel, als sie die Fremden erblickten. Das herzerweichende Bild des verwundeten Kriegers, der einen bewusstlosen „Engel“ im Arm trug, entlockte den Sune-Anhängern rührselige Seufzer. Eine junge Nymphe überwand als erste ihre Scheu und trat auf Faust zu. Schüchtern streckte sie ihre Hand aus und ließ sie sanft über Elijas’ Federkleid gleiten. Dann blickte sie mit großen, samtenen Augen zu Faust auf und zog ihn mit sich in den Tempel.
„Ähm“, machte Winter und hielt ihn am Arm zurück. „Ich muss mit Lady Amalia sprechen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen zurück nach Westtor, um einen Schlachtplan aufzustellen, ehe der Maskenball beginnt.“
„Schlachtplan...“, murmelte der Krieger mit einem entrückten Lächeln ohne die Blicke von den perfekten Rundungen der Nymphe zu lassen.
„Aber Euer Freund ist verletzt, mein Herr“, sagte sie arglos. „Und auch Ihr seid verwundet.“
„Ja, das bin ich“, hauchte Faust wie mit seinem letzen Atemzug.
Oh, bitte!
Winter verdrehte die Augen. Kopfschüttelnd sah sie zu, wie sich Faust von einem Duzend parfümierter Hände in ein luftiges Atrium und auf ein Kissenlager ziehen ließ. Dann fing sie eine der Novizinnen ab, die mit Ölen und Salben anrückten, um die beiden Verwundeten zu verwöhnen, und ließ sich zu Lady Amalia führen. Sie fand die Vorsteherin des Tempels im Gebetsraum, wo sie den Altar mit frischen Blumengestecken dekorierte.
„Winter.“ Ein schwermütiges Lächeln huschte über das Gesicht der Priesterin.
Winter musste sich beherrschen, um nicht laut mit den Zähnen zu knirschen. Sie würde Lady Amalia niemals vergeben können, was sie getan hatte.
„Wir brauchen Eure Hilfe“, sagte sie steif. „Es geht um einen Blutsüchtigen…“
Bevor sie ihr Anliegen vortragen konnte, drangen wütende Stimmen aus dem Atrium und eine Novizin kam herbeigeeilt, um Lady Amalia etwas ins Ohr zu flüstern.
„Entschuldigt mich.“
Winter folgte der Priesterin in die Säulenhalle: Das Liebesnest schien sich in wenigen Minuten in ein Tollhaus verwandelt zu haben. Faust stand aufgebracht in der Mitte des Saals und stritt mit einer hübschen Mondelfe, die mit zornigen Gesten ihre Kameradinnen aus der Nähe des bewusstlosen Avariel verscheuchte. Dazu riefen alle durcheinander und ergriffen Partei für die eine oder andere Seite.
„Nevé!“, rief Lady Amalia die Novizin zur Ordnung. „Was ist hier los?“
Sofort kehrte Stille ein.
„Der Avariel ist ein dhaerow“, sagte die Elfe starrsinnig. „Er trägt das Mal des Ausgestoßenen. Ich sagte dem Krieger, er soll ihn von hier fortschaffen!“
„Was soll der Mist?“, knurrte Faust. „Das hier ist kein elfischer Tempel.“
„Das Haus der Liebe ist freundschaftlich mit dem Immergold-Tempel verbunden, der Hanali Cenalil aus dem Pantheon der Seldarine geweiht ist“, belehrte ihn die Novizin. „Würdet Ihr dem Feind Eures Freundes Einlass in Euer Haus gewähren?“
„Das reicht.“ Lady Amalia hob beschwichtigend die Hände. „Verlasst den Raum. Ich will allein mit unseren Gästen reden… Geht. Auch du, Nevé.“
Widerstrebend gehorchte die Elfe dem Befehl ihrer Herrin.
„Es tut mir leid“, sagte Lady Amalia seufzend, nachdem die anderen gegangen waren. „Und ich entschuldige mich für Nevés Benehmen. Aber sie hat Recht. Ich kann Euren Freund nicht behandeln ohne die elfische Glaubensgemeinschaft des Hochwalds gegen uns aufzubringen.“
„Wegen eines unsichtbaren Mals?“
„Die Elfen bestrafen nur die schlimmsten Verbrechen mit dem Mal des dhaerow“, erklärte die Priesterin.
Faust murmelte schnaubend etwas von „Oberflächliches Pack“ und verließ mit Elijas in den Armen den Tempel. Lady Amalia sah ihnen bekümmert nach.
„Wenn ich sonst etwas für Euch tun kann…“
„Nein“, sagte Winter frostig und folgte Faust in den Wald. Nicht weit vom Tempel lehnten sie Elijas gegen einen Baum und ließen sich ratlos ins Moos sinken.
„Und was nun?“, fragte Faust.
Winter schüttelte mutlos den Kopf.
„Ich muss nachdenken“, sagte sie.
Ziellos machte sie einige Schritte ins Unterholz. Sie wollte allein sein. Sie war den Tränen nahe und ihre eigene Empfindsamkeit befremdete sie. Warum lag ihr so viel daran, diesen Avariel zu retten? Hatte er ihr nicht deutlich genug gezeigt, dass ihm nicht an ihrer Hilfe gelegen war?
Abrupt blieb sie stehen, als sie erkannte, wohin ihre Schritte sie gelenkt hatten.
Doriens Grab.
Er ist wie ich.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es war nicht Elijas, den sie zu schützen versuchte, sondern sich selbst! In dem Moment, als sie ihn in der Grube gesehen und ihm in die Augen geblickt hatte, hatte sie etwas von sich selbst in ihm erkannt. Seine Welt war zusammengebrochen so wie die ihre dabei war, auseinander zu fallen, und es hatte seinen Lebenswillen zerstört. Würde sie enden wie er? Die Leere, die Doriens Tod in ihr hinterlassen hatte, die Furcht Scarlet zu verlieren und schließlich die Hilflosigkeit, die sie beim Wegfall der Magie empfunden hatte, nagten wie dunkle Schatten an ihrer Seele. Was würde von ihr übrig bleiben, wenn sich all das in Staub auflöste, woran sie hing und was ihr wichtig war?
Betäubt ließ sie sich vor Doriens Grab zu Boden sinken.
„Hilf mir“, flüsterte sie. „Sag mir, was ich tun soll.“
Faust
Wenig später.
Sie hatten Elijas mit einem Fluch belegt, der ihm beim Anblick von Vampirblut Brechreiz verursachen sollte. Ob das einen Süchtigen abhalten würde, war fraglich. Winter und Faust waren sich darüber im Klaren, dass er nur überleben würde, wenn er den Willen dazu fand.
„Er braucht ein Ziel“, hatte Winter gesagt, als sie zurückgekommen war. Sie hatte Faust nicht sagen wollen, wo sie gewesen war, doch was auch immer sie im Wald getan hatte, es hatte sie verändert. Sie wirkte entspannter als zuvor.
Faust kniete sich nieder und flößte Elijas einen Heiltrank ein. Der Avariel kam zu sich. Er blinzelte irritiert, als er in Faust seinen Kampfgegner erkannte. Doch dann erblickte er Winter und begriff.
„Aufgeben ist wohl keine Eurer Stärken“, murmelte er ergeben.
„Nein.“
Er schloss die Augen und lachte mutlos auf.
„Ihr hättet mich sterben lassen sollen“, flüsterte er. „Schon damals, in Immerschwinge. Für mich gibt es keine Alternative. Doch das könnt ihr nicht verstehen.“
„Schon klar“, spottete Faust. „Weil wir Menschen sind, was verstehen wir schon?“ Elfischer Überlegenheitsmythos – ein weit verbreitetes Übel.
„Nein. Weil Veränderung Teil eurer menschlichen Natur ist.“
Faust runzelte die Stirn. Er hatte den Avariel falsch eingeschätzt: Er verachtete die Menschen nicht, er beneidete sie…
„Ihr könnt Euer Schicksal ändern“, sagte er. „Auch ich habe einst einen Fehler begangen, den ich glaubte, nie wieder gut machen zu können.“
„Ich habe nicht einfach einen ‚Fehler begangen’“, sagte Elijas düster. „Was ich tat, tat ich aus Überzeugung. Wenn ich falsch lag, warum haben die Seldarine mich nicht mit den anderen in den Tod geschickt? Warum… das hier?“
„Vielleicht haben sie uns geschickt, damit Ihr Euren Weg wieder findet.“
Elijas schüttelte sacht den Kopf, doch Fausts Worte schienen ihn nachdenklich gemacht zu haben. Der Kämpfer schwieg, um seine Worte nachwirken zu lassen.
„Was meintet Ihr eben, als ihr von Euren Fehlern spracht?“, fragte der Avariel schließlich.
Faust zögerte.
„Winter, würdest du vielleicht…?“
Nicht vor ihr.
„Bin schon weg.“
Nachdem Winter im Gebüsch verschwunden war, begann Faust zu erzählen. Er erzählte von den Jahren in Rabenklippe, die er als Mitglied der Neun Schwerter verbracht hatte. Von dem Streit um seinen Vater, der zu dem Kampf mit seinem Meister und dessen Tod geführt hatte. Von seiner Flucht aus Rabenklippe und der Zeit der Buße in der Welt hinter den Nebeln. Von seiner Rückkehr nach Toril und der Rebellion des Nagamura in Kara-Tur. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm nicht schwer sich vor Elijas zu öffnen. Vielleicht weil die Ehre des Avariel mindestens so angeschlagen war wie die seine. Und es tat gut diese Dinge auszusprechen. Worte brachten alles in einen Zusammenhang, gaben dem vermeintlichen Chaos einen Sinn…
Als er schließlich aufsah, war er erstaunt, wie spät es bereits war.
„Was werdet Ihr tun?“, wandte er sich an Elijas, der ihm mit gleichmütiger Miene zugehört hatte. Unmöglich zu sagen, was er dachte.
Der Elf zögerte.
„Ich weiß nicht…Vielleicht werde ich nach Rabenklippe gehen und mich den Neun Schwertern vorstellen. Was Ihr über sie erzählt, hat mich neugierig gemacht.“
Faust hob überrascht den Kopf.
„Oh.“
Nicht gerade die Reaktion, die er erhofft hatte. Sicher, auf eine gewisse Art und Weise hatte er genau das erreicht, was er wollte: Elijas schien nicht mehr darauf zu warten, dass ihm irgendwer ein Schwert in die Brust stieß. Fürs erste hatte er sogar ein Ziel vor Augen, etwas, aus dem er neuen Lebensmut schöpfen konnte. Wenn er ehrlich war, war die Abenteurerstadt Rabenklippe sogar der ideale Ort für einen gefallenen Avariel. Niemand würde ihn dort nach seiner Vergangenheit fragen. Und die Neun Schwerter wären ihm gegenüber vermutlich auch nicht abgeneigt: Sein Klingensänger-Stil war der karaturianischen Kampfkunst des Ordens nicht unähnlich und bei seiner kämpferischen Erfahrung wäre es Elijas vermutlich ein Leichtes, den Stil der Neun zu imitieren. Aber mussten seine Zukunftspläne unbedingt Fausts Vergangenheit beinhalten?
„Keine Angst“, sagte Elijas, der Fausts Zweifel zu erraten schien. „Falls sie noch immer nach euch suchen, werde ich niemandem verraten, wo ihr seid. Ihr habt mein Wort.“
Das Geräusch eines abgebrochenen Zweigs ließ die beiden aufhorchen. Winter trat aus dem Gehölz.
„Wir müssen zurück“, wandte sie sich an Faust. „Grim fragt sich sicher bereits, wo wir bleiben.“
Elijas, der ihre Worte als Signal zum Abschied deutete, richtete sich auf und bewegte vorsichtig die Flügel, die die Sune-Anhänger mit ihren heilenden Salben bestrichen hatten.
„Ich stehe in Eurer Schuld“, sagte er an die beiden Freunde gewandt. „Vielleicht… erhalte ich irgendwann einmal die Gelegenheit, Euch den Gefallen zurückzuzahlen.“
Die beiden sahen ihm nach, als er die Schwingen ausbreitete und davonflog und Faust schien es als hätten sie beide den gleichen Gedanken: Vielleicht hast du das schon.