Das verlorene Paradies
Nimoroth
Auf der Ewigen Treppe, zwischen Raum und Zeit.
Seit etwa sechs Tagen sind die Gefährten nun unterwegs – Zeit ist auf der Ewigen Treppe kein Begriff, der sich in irgendeiner Form messen ließe. Um sie herum nichts als das schwarze Firmament mit seinen unzähligen Sternbildern. Nimoroth hat sich wieder dazu bereit erklärt, die Gruppe zu führen, um zu verhindern, dass sie sich auf der Ewigen Treppe verlaufen und ihren Träumen in die Leere folgen. Hin und wieder sind sie anderen Weltenreisenden begegnet – einige waren auf Kampf aus, andere folgten den Stufen der Ewigen Treppe mit der gleichen Gleichgültigkeit, die Nimoroth neuerdings in den Mienen seiner Freunde wahrnimmt.
Nimoroth lässt sich von seinem Bestreben lenken, das Reich des Hanthos zu finden, denn einen anderen Wegweiser bietet die Reise durch das Multiversum ihm nicht. Hin und wieder führt er sich den „Schlüssel“ zum verlorenen Paradies, Hanthos Emblem, den Kelch im Dreieck, vor Augen, wenn er an einer Wegkreuzung zögert. Sie ziehen an zahlreichen Weltentoren vorbei und hin und wieder fühlt sich einer von ihnen zu einer der verborgenen Welten hingezogen.
Doch sie haben eine Mission zu erfüllen.
Und dann stehen sie wieder einmal auf einer Plattform. Eine vergitterte Eisentür führt in eine unbekannte Welt. Dahinter nichts als obskure Finsternis und auf einem Torschild über der Gittertür… Nimoroth atmet erleichtert auf, als er das Emblem des Kelchs im Dreieck erblickt. Hanthos’ Emblem! Sie haben es gefunden, das Verlorene Paradies.
Winter findet, dass eine Rast ihnen nicht schaden könnte, bevor sie sich in das nächste Abenteuer stürzen. Nimoroth erbetet sich und en anderen von der Herrin des Waldes ein wenig Proviant, Drake beklagt sich wie immer murrend über den wässrigen Brei, den Nimoroth ihnen vorsetzt, Dorien blickt so, als würde er Drake am liebsten zustimmen, Winter verkneift sich höflich jeden Kommentar, und Grimwardt kann über so viel Gezier und Nörgelei nur den Kopf schütteln.
Derlei eingestimmt auf eine Reise in eine unbekannte Welt, öffnet Kalyd schließlich als erster das Tor (das keinen Widerspruch gegen seinen Eintritt einzulegen scheint) und tritt hindurch. Die anderen folgen. Einen Moment lang verharren sie in bodenloser Schwärze, bevor sie plötzlich - ganz unverhofft - auf einer grünen Wiese stehen. Vanillefarbene Wolken hängen statisch und unbewegt am pastellroten Firmament und die künstlich-unberührte Landschaft wird von vier gnadenlos strahlenden Sonnen beleuchtet. Am Horizont ist zu allen Seiten in weiter Ferne ein Waldrand zu erkennen – offenbar sind sie auf einer Lichtung von gigantischen Ausmaßen gelandet. Eine seltsam tote, künstlich konstruierte Schönheit umfängt sie. Der ehrgeizige Versuch eines Menschen die Mannigfaltigkeit der Natur nachzuahmen. Die Gefährten sehen einander mit Unbehagen an.
Doch bevor noch einer von ihnen nach ihrem weiteren Vorgehen fragen kann, erklingt plötzlich ein metallen-monotones Stampfen und Klappern, das sich zielstrebig in ihre Richtung zu bewegen scheint. Und bevor Nimoroth noch sein Schwert ziehen kann, trifft ihn ein Eisenstachel, der aus dem Nichts zu kommen scheint, hart gegen die Brust. Seinen Gefährten ergeht es nicht besser.
Grimwardt
Mit wildem Blick wendet sich der Kriegspriester in die Richtung, aus der die Attacke kam, doch er kann nichts erkennen. Aus den Augenwinkeln nimmt er wahr, wie seine Schwester sich unsichtbar zaubert und einem dumpfen „Klonk“ in Verbindung mit Winters erzürntem Aufschrei entnimmt er, dass sie im Laufen gegen eine Barriere geprallt sein muss – sie scheinen in einem unsichtbaren Ringwall gefangen zu sein. Kalyd stößt sein Schwert in den Boden, um die Magie der Elfenklinge zu entfesseln, und erschafft eine Klingenbarriere in dem Umfeld, wo er den unsichtbaren Gegner vermutet. Dorien, der Feigling, versieht sich lediglich mit ausreichend Spiegelbildern, um den Metallstachelangriffen zu entgehen. Nimoroths Feenfeuer-Zauber dagegen entlarvt endlich den Unsichtbaren, indem er den großen, unförmigen Körper mit feinem Glitzerstaub bedeckt, der seine Umrisse sichtbar macht. Während sich die unförmige Bestie von der Größe eines Ogers und dem Ausmaß einer quadratischen Maschine aus Kalyds Klingenbarriere befreit, sprintet Grimwardt los. Doch Kalyd und Drake sind schneller. Kalyds Schwert trifft auf dumpfes Metall und scheint wenig auszurichten, Drakes Dolche vermögen dem eisernen Teufel nicht einmal einen Kratzer in seine metallene Rüstung zu ritzen und er zieht sich zurück. Grimwardt plustert sich auf und lässt sein ohrenbetäubendes Schmetterhorn ertönen. Er spürt, wie die Erde unter ihm erbebt. Das Eisenwesen schwankt und Grimwardt vermeint Metall brechen zu hören. Das Wesen wendet sich zu Grimwardt um und hebt einen Arm, der, den Umrissen nach zu urteilen, in einem gigantischen Hammer zu enden scheint. Doch Grimwardt bleibt wenig Zeit sich Gedanken um die Identität der seltsamen Waffe zu machen. Dem betäubenden Schlag des Eisenhammers folgt ein Schwerthieb von Seiten des Monsters und als die Waffe seine Rüstung durchdringt scheinen sich kleine Metallsplitter in seine Haut zu fressen. Weitere Angriffe zielen auf Kalyd, Nimoroth und den fliehenden Drake. Kalyd schlägt tapfer zurück, Nimoroth ruft seine Göttin an, um einen Zauber zu wirken, der ihn wachsen lässt, und stürmt wild gegen das Wesen an. Aus dem Hintergrund werden sie von Winter und Dorien mit Zaubern unterstützt. Grimwardt stößt einen wütenden Schlachtenruf aus und ruft mit donnernder Stimme seinen Gott an. Lanzen aus purem Licht fliegen auf das metallene Geschöpf zu, verstärkt vom Licht der vier Sonnen, und treffen das Wesen mit voller Wucht. Dieses antwortet mit einem Zauber, der die Luft mit donnerndem Getöse erfüllt. Grimwardt vernimmt Winters Schreie und Doriens Stöhnen, als beide sich die blutenden Ohren zuhalten.
Gerade in diesem Augenblick, als sich das Schlachtenglück zugunsten des Metallriesen zu wenden scheint, erscheint ein weiterer Gegner auf dem Schlachtfeld. Ein Golem stürzt sich auf die Gefährten. In stummem Einvernehmen überlässt Grimwardt den Metallriesen den beiden Elfen, während er sich selbst auf den Golem stürzt. Wieder ruft er mit vibrierender Bassstimme seinen Gott an und ein rasender Komet fällt krachend vom Himmel und hüllt beide Gegner in ein gleißendes Licht. Doch der Metallriese entrinnt dem Komet beinahe unbeschadet; der Golem scheint gänzlich immun gegen seine Magie.
Während Grimwardt den Schwertkampf mit dem Golem aufnimmt, bemerkt er aus den Augenwinkeln, dass es um seine Freunde schlecht zu stehen scheint. Kalyd sinkt, schwer getroffen von den Hieben des Metallriesen zu Boden. Nimoroth… Entsetzt bemerkt Grimwardt Nimoroths Blick, als dieser, völlig erschöpft, den Hieb seines Gegners erwartet, wissend, dass er diesen Schlag nicht überleben wird.
„Nein!“, hört Grimwardt Winter schreien. Und plötzlich ist es nicht mehr Nimoroth, sondern seine Schwester, die vor dem Metallriesen steht.
Versetzungstrick, schießt es Grimwardt durch den Kopf.
Der Gegner lässt, wenig berührt von Winters Heldenmut, seinen Hammer auf sie niederfahren und Grimwardt muss hilflos mit ansehen, wie seine Schwester ohnmächtig zu Boden sinkt. Dorien eilt zu Winters Hilfe herbei und Grimwardt spricht eilig einen Heilzauber, der sie und Kalyd vor dem sicheren Tod bewahrt. Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt: Geschwächt und erschöpft stolpern Kalyd und Winter zurück auf die Knie, doch der Metallriese hebt erneut sein Schwert und keiner der drei Gefährten zu seinen Füßen wird diesen Angriff überleben können! Doch in diesem Moment stürzt Nimoroth von Winters vorigem Standort her kommend auf den Metallriesen zu und rammt ihm seinen Säbel in den Leib. Das Wesen schwankt und stolpert… und fällt. Unterstützt von Doriens Energiekugeln erledigt Grimwardt eilig den Golem, bevor er sich neben den anderen erschöpft ins Gras sinken lässt.
Nimoroth
Grimwardt hat ihnen ein Heldenmahl erbetet: Picknick im Freien samt gedeckter Tafel, Silberbesteck und Dienern. Als ob diese Welt noch nicht wunderlich genug sei. Das reichhaltige Mahl erfrischt die erschöpften Geister und, das muss Nimoroth zugeben, ist eine willkommene Abwechslung zu dem Brei, den er sich für gewöhnlich von Mielikki erbetet. Sie beratschlagen, wie sie weiter vorgehen, wie sie Hanthos’ Domizil ausfindig machen sollen. Nimoroth will einen Zauber wirken, der ihnen die Richtung weisen kann.
Nach dem Essen brechen sie auf. Da Nimoroths Zauber nur für einige Stunden wirkt und sie Zeit sparen wollen, teleportiert Dorien sie bis zum Waldrand.
Als er vor dem Wald steht, muss Nimoroth stutzen: Der Wald schwebt! Wenige Meter über dem Boden schweben Bäume von einer Art, die Nimoroth niemals gesehen hat, die Wurzeln wie Fangarme zum Boden gerichtet. Da der Wegweisungszauber ihn geradewegs in den eigenartigen Wald führt, geht Nimoroth weiter; zwischen den schwebenden Bäumen hindurch, die leicht auf und ab zu schaukeln scheinen wie Schiffe auf den Wellen.
Nachdem sie dem Zauber eine Weile lang strikt geradeaus gefolgt sind (in welche Himmelsrichtung ist an diesem Ort mit seinen stationären Sonnen schwer zu sagen), verwandelt Nimoroth sich in eine Amsel, um die Wipfelregion des schwebenden Waldes zu erkunden. Hoch in den Ästen stößt er auf einen seltsam bunten Vogel, der ihn mindestens so unverwandt mustert wie Nimoroth ihn. Nachdem er dem fremdartigen Tier einige wenig informative Auskünfte über die Wurmpopulation des Verlorenen Paradieses entlockt hat, kehrt Nimoroth auf den Boden zurück. Er ruft Nerûl herbei und der Tiger trottet eine Weile neben ihm her.
Nach etwa zweieinhalb Stunden bricht der Wegweisungszauber ab und die Gefährten folgen noch für eine Weile auf gut Glück der Fährte, die der Zauber ihnen vorgezeichnet hat, bevor sie sich „unter den Bäumen“ zur Ruhe legen. Bevor sie sich schlafen legen (was unter vier gleißend auf sie niederbrennenden Sonnen gar nicht so einfach ist), flicken Dorien und Winter magisch ihre beim Kampf in Mitleidenschaft gezogenen Kleidungsstücke. Nimoroth wartet, bis alle schlafen, dann spricht er leise ein Gebet, das ihn in direkten Kontakt zu Boten seiner Göttin treten lässt.
Während der langen Reise auf der Ewigen Treppe hatte Nimoroth viel Zeit über sein Gespräch mit dem Selune-Priester in Tiefwasser nachzudenken. Schon lange ist er von dem Gedanken besessen, irgendwann den Weg der Lykantropen einzuschlagen, denn wie könnte er seiner Göttin besser dienen als so: ein Wesen, halb Mensch und halb Tier, dem Wald und dem Mond verpflichtet… Doch Nimoroth fürchtet, dass die Transformation sein Wesen verändern könnte. Wäre er noch derselbe, wenn er tatsächlich den Weg einschlagen würde, der ihm so erstrebenswert erscheint? Würde er wirklich seiner Göttin oder nur sich selbst dienen? Durch die göttliche Verbindung erhofft Nimoroth sich Antworten auf diese Fragen. Doch eine eindeutige Antwort erhält er nicht. Vielleicht muss er selbst versuchen herauszufinden, was der Wunsch Mielikkis ist…
Winter
Auch „heute“ (was immer dieses Wort an diesem Ort für eine Bedeutung haben mag) hat Nimoroth wieder seinen Zauber gewirkt, der sie weiter durch den schwebenden Wald führt. Alles scheint sich zu wiederholen. Es ist als liefen sie durch eine unendlich oft geklonte Welt. Dorien ist des Laufens offenbar ebenso überdrüssig wie sie; er lässt sich seine Ausrüstung seit zwei Tagen von einem unsichtbaren Diener tragen. Winter kann an diesem „Verlorenen Paradies“ nicht viel Paradiesisches finden. Sie fühlt sich unwohl in ihren verschwitzten Kleidern und ihre Knöchel schmerzen von der langen Reise.
„Was würde ich jetzt geben für ein Schaumbad und ein Bett“, murmelt sie wehleidig.
„Falls wir keine Möglichkeit finden, von hier zu verschwinden, bau’ ich dir ein Baumhaus“, scherzt Drake.
„Ein Baumhaus“, wiederholt Winter spitz und zieht hochmütig die Brauen in die Höhe. „Wie reizend von dir.“
„Ich zauber’ dir ein Herrenhaus“, protzt Dorien und tippt gegen eine seiner Schriftrollen. „Mordenkainens Herrliches Herrenhaus.“
Winter lächelt ihn zuckersüß an; Drake verdreht die Augen.
Eine Weile herrscht Schweigen.
„Was ist los?“
Winter schreckt auf, als sie Grimwardts durchdringenden Blick auf sich spürt. Ihr war nicht bewusst, dass sie die ganze Zeit auf ihre Fingernägel gestarrt hat.
„Ich… ach nichts.“
„Was?“, fragt Grimwardt im harschen Ton eines Inquisitors.
„Ich habe das Gefühl, dass meine Fingernägel nicht mehr gewachsen sind seit wir hier sind, das ist alles“, sagt Winter halb gereizt, halb beschämt. Wie erwartet verdreht Grimwardt nur ernüchtert die Augen. Dorien dagegen mustert sie erstaunt und spreizt instinktiv seine Finger.
„Es ist dir auch aufgefallen?“, fragt er.
„Dir auch?“, fragt Winter, erleichtert, dass es möglicherweise doch eine Bedeutung haben könnte.
Auch Nimoroth scheint sich plötzlich für Fingernägel zu interessieren.
„Vielleicht ein Hinweis darauf, dass an diesem Tag die Zeit nicht fortläuft“, bemerkt er. „Die niemals untergehenden Sonnen, der künstliche Wald, alles scheint hier… ewig, wie unberührt von der Zeit.“
Winter erschaudert.
Sie gehen weiter. Und dann hört der schwebende Wald plötzlich so urplötzlich auf, wie er angefangen hat, und sie blicken über riesige Blumenfelder, die sich bis zum Horizont erstrecken. Angenehm überrascht atmet Winter den lieblichen Duft der fremdartigen Blumen ein. Sie sind bereits ein Stück weit auf die Lichtung hinausgewandert, als Winter plötzlich stockt. Leichen! Sie wandern über ein Feld voller Leichen, einige verwest, andere bereits völlig zersetzt – und alle bewachsen mit den eigenartigen Blumen.
Doch bevor sie noch reagieren können, schießen vor ihnen ganze Schwärme von Blumen aus dem Boden und nun erkennt Winter, dass es Dorngewächse sind. Einen Moment lang scheinen die Pflanzen in der Luft zu verharren, bevor sie sich wie staubige Wolken auf die Gefährten stürzen. Pollenstaub umhüllt sie wie giftiges Gas, doch dank des Heldenmahls, das ihnen Gimwardt auch heute bereitet hat, kann das Gift ihnen nichts anhaben. Dafür überfallen die Blumen sie mit ihren Dornen wie beißende Insekten und die Gefährten fliehen eiligst zurück in Richtung Waldrand.
„Blutsaugende Blumen!“, stöhnt Grimwardt. Muss erniedrigend sein für seine Würde als Kämpfer, von einem Schwarm angriffslustiger Rosengewächse zum Rückzug gedrängt zu werden.
„Ich teleportiere uns auf die andere Seite des Blumenfelds“, ruft Dorien und die anderen halten eiligst auf ihn zu. Dorien murmelt seinen Zauber und bringt sie bis zum Horizont – so weit wie er das Feld überblicken kann. Noch zwei weitere Male muss er teleportieren, ehe sie die ausladenden Blutblumen-Teppiche hinter sich gelassen haben. Vor ihnen nichts als eine endlos scheinende Graslandschaft.
Winter seufzt ernüchtert.
Kalyd
Sieben Mal haben sie Rast gemacht, seitdem sie das Verlorene Paradies betreten haben. Angegriffen wurden sie seit der unangenehmen Begegnung mit den Blutblumenschwärmen nicht mehr. Dafür konnten sie hier allerlei eigenartiges Getier beobachten. Einmal ist Grimwardt über ein igelartiges Knäuelwesen gestolpert, das den Kriegspriester mit großen, entsetzten Knopfaugen musterte, ehe es den Kopf zwischen die Schultern steckte und sich eiligst davon rollte.
Kalyd ist in Gedanken versunken, als Winters aufgeregter Schrei ihn aufstört.
„Was…?“
Doch da sieht er es selbst: Am Horizont erkennt er ein imposantes Bauwerk, das in seiner marmornen Pracht in Schein der vier Sonnen erstrahlt.
„Das muss Hanthos’ Festung sein!“
Sie beratschlagen, wie sie sich der Festung nähern sollen, und Nimoroth schlägt vor eine Taube als Herold auszusenden zum Zeichen ihrer friedlichen Absichten. Drake hat wenig übrig für Symbole der Höflichkeit und Etikette und Grimwardt fürchtet, dass der Vogel als Zeichen ihrer Kapitulation missdeutet werden könnte. Doch da sonst niemand etwas gegen Nimoroths Idee einzuwenden hat, wird die Taube herbeigerufen und mit einer Nachricht im Schnabel zu Hanthos’ Domizil gesandt. Aus der Ferne beobachten die Gefährten, wie sie sich dem strahlenden Gebäude am Horizont nähert, doch kurz bevor sie es erreicht scheint etwas ihren Weg zu blockieren. Der Vogel flattert eine Weile hilflos auf der Stelle, als fliege er gegen eine unsichtbare Barriere an, dann kehrt er unverrichteter Dinge wieder zu Nimoroth zurück, der ihn nichtsdestotrotz mit einigen Brotkrümmeln für seine Dienste belohnt und die Taube entlässt.
Sie nähern sich der Festung. Und als sie ein Stück weit gegangen sind, erkennen sie, dass sie nicht etwa auf festem Boden erbaut ist. Nein, sie schwebt! Eine schwebende Zitadelle über einem Abgrund, aus dessen Tiefen das Brausen eines reißenden Stroms klingt. Die Gefährten nähern sich dem Abgrund und blicken hinunter: Ein Fluss, der in allen Farben des Regenbogens schimmert, bahnt sich seinen Weg durch die Schlucht. Keine Brücke führt hinüber zu Hanthos’ fliegender Zitadelle und nun kann Kalyd auch das Hindernis erkennen, auf das Nimoroths Taube gestoßen ist: Ein magisches Kraftfeld, nur sichtbar als ein leichtes Luftflirren, umgibt Hanthos’ Festung.
Die Helden sehen einander ratlos an.
„Vielleicht sollten wir ihn einfach rufen?“, schlägt Winter vor und schon im nächsten Augenblick donnert Grimwardts Orkanstimme gegen den unsichtbaren Schild.
„HANTHOS!“
Eine Weile geschieht nichts. Dann plötzlich materialisiert sich etwas in der Luft vor ihnen: ein fliegender Schädel.
„Wer stört den ewigen Schlaf meines Herrn?“ Der Unterkiefer des Totenschädels bewegt sich beim Sprechen mechanisch auf und ab. Dunkle Augenhöhlen starren die Gefährten blicklos an.
„Äh… Ihr seid Hanthos’ Diener?“, fragt Winter vorsichtig.
„So ist es.“
„Wir sind Abenteurer aus der Welt Toril“, stellt Nimoroth die Gruppe vor. „Unsere Mission hat uns hierher geführt. Wir müssen dringend mit Eurem Meister sprechen – er ist der einzige, der uns helfen kann.“
„Ihr habt den Anaxim, den Metallriesen, zerstört, der die Grenzen des Verlorenen Paradieses bewacht. Es hat meinen Meister viel Energie gekostet, ihn zu erschaffen. Er wird Euch nicht empfangen. Er schläft.“
„Es geht um Leben und Tod“, sagt Nimoroth ernst. „Oder besser: Um Leben, das schon tot geboren wurde. Es geht um seelenlosen Geburten und ein Heilmittel, das nur Euer Meister zu kennen scheint. In einem Aufsatz, der nach dem Ursprung der Seelen forscht, fanden wir seinen Namen und einen Hinweis auf die Seelenquellen. Wir müssen unbedingt Näheres erfahren. Es waren die beiden mächtigsten Magier unserer Welt, die uns auf diese Mission geschickt haben.“
„Ein äußerst aufschlussreicher Aufsatz“, wirft Winter schmeichelnd ein. „Euer Meister hat einen sehr… äh… einnehmenden Schreibstil“. Kalyd kann sich nicht erinnern, dass Winter auch nur einen Blick in das Buch geworfen hätte, in dem er den Aufsatz fand...
Der Schädel schweigt einen Augenblick lang.
„Mein Meister schläft“, wiederholt er dann. „Solange er schläft, steht die Zeit still an diesem Ort, und er altert nicht. Wacht er, läuft die Zeit weiter und stiehlt ihm die kostbare Zeit, die ihm noch geblieben ist.“
Kalyd runzelt die Stirn, als er bemerkt, wie etwas in seinen Geist eindringt. Besorgt wartet er darauf, dass er wieder einmal irgendetwas Beunruhigendes tut, wie es meistens der Fall ist, wenn er eine fremde Präsenz in seinen Gedanken spürt, doch nichts dergleichen geschieht. Erleichtert stellt er fest, dass er weder mit gezogenem Schwert auf seine Freunde losgeht noch sich sprintend aus dem Staub macht.
Vielleicht will Hanthos herausfinden, ob wir die Wahrheit sagen, denkt Kalyd.
„Vielleicht müssen wir Euren Meister gar nicht aufwecken“, versucht Winter inzwischen den Schädel zur Kooperation zu bewegen. „Ihr könntet uns in seine Bibliothek führen und…“
„Ich bin nicht befugt, jemanden in die Festung zu lassen.“
„Wie wäre es mit einem Handel?“, fragt Dorien.
„Ein Handel?“
„Es muss doch irgendetwas geben, was wir für Euren Meister tun könnten.“
Der Schädel starrt ihn aus leeren Augenhöhlen an.
„In der Tat gäbe es da etwas“, erwidert der Schädel. Er schweigt und scheint auf verborgenen Pfaden mit seinem Herrn in Kontakt zu treten. „Mein Meister ist sehr alt“, sagt er schließlich wieder an die Helden gewandt. „Sehr alt. Jede Minute, die er in der Zeit weilt, könnte seine letzte sein. Er wollte unsterblich werden ohne sich selbst in einen Leichnam zu verwandeln, doch der Preis dafür ist hoch. Das einzige, wonach er sich wirklich sehnt, ist mehr Zeit. Wenn jeder von Euch bereit wäre, ihm einen Anteil seiner Zeit auf Erden zu geben, so will er Eure Fragen beantworten.“
„Wie viel…?“, flüstert Winter, die plötzlich ganz blass wird.
„Fünf Jahre für die Menschen unter Euch, zwanzig für die Elfen.“
Kalyd sieht Nimoroth an. Zwanzig Jahre im Leben eines Elfen – kaum mehr als ein Tag in einem Menschenleben. Kein Opfer, das sie nicht bereit wären zu geben. Dorien und Winter dagegen sind vor Schreck schneeweiß geworden. Und auch Drake scheint wenig begeistert von der Aussicht, sein Leben um fünf Jahre zu verkürzen. Grimwardt betrachtet zweifelnd seine Axt als frage er sich, ob fünf Jahre wohl sehr an seiner Kraft zehren würden.
Nimoroth wirft Kalyd einen fragenden Blick zu; Kalyd nickt unmerklich.
„Wir könnten Euren Anteil mitbezahlen“, wendet sich Nimoroth an die menschlichen Mitglieder der Gruppe.
„Schön, dann wäre das also geklärt.“ Drake verschränkt die Arme vor der Brust.
Die anderen drei sehen verlegen zu Boden.
„Ihr… äh… müsst das nicht…“, murmelt Winter und scharrt mit dem Fuß auf dem Boden.
„Dreißig Jahre weniger… was macht das schon aus, wenn du fünfhundert Jahre zum Leben hast“, sagt Kalyd leichthin, vielleicht ein wenig gelassener, als er sich fühlt.
„Dafür… stehen wir tief in Eurer Schuld.“ Dorien beißt sich auf die Lippen.
„Abgemacht“, ruft Nimoroth dem Schädel zu. „Hanthos bekommt jeweils dreißig Jahre von meinem Cousin und mir.“
Der Schädel bewegt sich auf und ab – ein kläglich-kurioser Versuch zu nicken. Dann verschwindet er. Wenige Augenblicke später kehrt er zurück – zwei Phiolen schweben an seiner Seite. Der Schädel weist Kalyd und Nimoroth an die beiden Phiolen an den Mund zu halten. Kalyd spürt ein leichtes Kribbeln, als seine Lippen das Glas berühren, dann füllt sich die Phiole mit dem weißem Nebel seines Lebensatems. Der Schädel „nickt“ wieder und verschwindet mit den beiden Phiolen.
Nimoroth
Ein alter Magier mit schütterem grauem Haar und verschmutztem Zottelbart materialisiert sich vor ihnen, den Rücken zum Abgrund. Die Jahre lasten schwer auf seinem gebrechlichen Körper und dünne, runzlige Haut spannt sich über sein Gesicht wie vergilbtes Pergament. Aus müden stahlgrauen Augen, die von trägen Augenlidern überschattet werden, sieht er die Gefährten an. Alte Lumpen bedecken seinen mageren Körper und er stützt sich auf einen langen Zauberstab, der mit Runen verziert ist und an dessen oberen Ende Nimoroth das Symbol Mystryls, der alten Göttin der Magie, einen blau-weißen Stern, zu erkennen meint.
„Verehrter Hanthos…“ Winter deutet einen Knicks an. Die anderen neigen leicht die Köpfe.
„Seelenlose Geburten, hm?“ Die Stimme des Alten ist leise und klar. „Dann ist meine alte Heimat also in Gefahr, ja?“
„Das befürchten wir“, erwidert Nimoroth ernst. „Was könnt ihr uns über sie sagen, die seelenlosen Geburten? Wie ist so etwas möglich?“
„Hm“, macht der Alte. „Ihr müsst wissen, allen denkenden Wesen auf Faerûn wird bei der Geburt eine Seele geschenkt – eine mächtige Kraftquelle, die das Leben erst lebenswert macht. Eure Seele lässt euch fühlen, lieben, hassen, lachen, weinen. Sie macht euch zu Individuen, zu Persönlichkeiten. Wesen, die ohne Seele geboren werden, wandeln auf der Welt wie lebendige Leichname, gefühllos, kraftlos, leere Hüllen aus sterblichem Fleisch.“ Er beugt sich tiefer über seinen Stab und für eine Weile befürchtet Nimoroth, dass Hanthos im Stehen einschlafen könnte, doch dann hebt er den Blick und seine stahlgrauen Augen sind auf den Elfen gerichtet. „Wahrscheinlich denkt ihr wie die meisten Wesen auf Faerûn, dass die Seelen den Sterblichen von den Göttern verleiht werden. Doch dem ist nicht so. Nein, sie stammen von Orten purer, unverbrauchter Lebensenergie – den Seelenquellen. Orte, älter als Toril selbst, ja, selbst älter als die Götter. Entsteht ein neues Leben, so wird ein wenig Lebensenergie von einem Seelenquell abgezapft und auf den jungen Körper übertragen; so gelangen die Sterblichen an ihre Seelen. Wie dies geschieht, wer über die Vergabe der Lebensenergie entscheidet, wo sich diese Seelenquellen befinden – das sind Rätsel, denen ich vor langer Zeit erfolglos nachgejagt bin. Ich habe es lange aufgegeben, mehr über die Orte herauszufinden, von denen die Seelen der Sterblichen stammen.“
„Glaubt Ihr denn, dass es überhaupt einen Weg gibt, diese… Seelenquellen zu erreichen?“, fragt Nimoroth.
„Oh ja, den muss es geben“, erwidert der Alte mit bleichen, aufgerissenen Augen. „Und es muss eine Kreatur, vielleicht auch mehrere Kreaturen geben, die diesen Weg gefunden haben. Denn seit Jahrhunderten kommt es immer wieder vor, dass Kinder ohne Seele geboren werden – die seelenlosen Geburten. Doch in letzter Zeit scheint dies häufiger vorzukommen, darum seid ihr hier nicht wahr? Irgendetwas – irgendjemand – hat sich Kontrolle über einen oder mehrere der Seelenquellen verschafft. Vielleicht hat die Kreatur, von der ich spreche, Konkurrenz bekommen, vielleicht entzieht sie den Quellen Energie, um die Kontrolle über sie zu behalten; möglich dass darum weniger Energie an die Lebenden vergeben wird.“
„Aber welches Leben könnte über eine Seelenquelle gebieten?“, wundert sich Dorien.
„Wer weiß das?“, murmelt Hanthos in seinen Bart. „Wer weiß das schon? Ein Wesen, dessen Macht der der Götter gleichkommt. Ein Wesen, das der Macht verfallen ist, von der die Seelenquellen flüstern. Ein überaus gefährliches Wesen, in jedem Fall.“
Die Gefährten wechseln beunruhigte Blicke und Nimoroth weiß, was die anderen denken. Welcher Sterblicher wäre in der Lage, ein Wesen aufzuhalten, das so stark, vielleicht stärker, ist als die Götter?
„Ihr müsst die Seelenquellen finden“, wendet Hanthos sich wieder an die Helden. „Doch hütet euch vor den Verheißungen der Seelenquellen! Hütet Euch vor dem Versprechen der Macht und seid auf der Hut.“
Stille.
„Was… sollen wir jetzt tun? Wo sollen wir anfangen, nach diesem Wesen zu suchen?“, fragt Nimoroth schließlich.
„Sucht jenes Wesen, das die erste Seele Faerûns in sich trägt“, rät ihnen der alte Magier. „Ihr findet es in Westtor. Einst habe ich seinen Rat gesucht und mehr erfahren, doch ich musste schwören, mein Wissen für mich zu behalten und kann euch von hier an nicht weiter helfen. Ich wünsche Euch Glück und den Segen der Götter. Gehabt euch wohl.“
„Ich danke Euch“, will Nimoroth gerade sagen, doch da ist Hanthos, der Seelenmagier, auch schon verschwunden. Nimoroth blickt in die Gesichter seiner Gefährten und liest in ihnen Bekümmerung und Sorge.
Zur Purpurnen Dame
Dorien
Am nächsten Morgen vor den Toren der Stadt Westtor am westlichen Ufer des Sees des Sternregens
Dorien dröhnt der Kopf von Teleportation und Klimawechsel: Um bei dem Ebenenwechsel zurück auf ihre Heimatebene nicht versehentlich in einem der zahlreichen Meere zu landen, peilten sie als Zielort die Stadt Umbra in der Wüste Anauroch an … und landeten inmitten der riesigen Wüste. Eine weitere Teleportation brachte sie dann hierher, vor die Tore der Stadt Westtor. Die bunt gemischten Ströme von Händlern und Besuchern aller Völker und Kulturen, die der Stadt entgegen strömen, lassen vermuten, dass Westtor eine Metropole ist, die stolz ist auf ihre kulturelle Vielfalt. Trotzdem lässt das, was die Gefährten über die Stadt erfahren haben, nicht gerade auf einen angenehmen Aufenthalt hoffen.
„Hmpf“, grummelt Grimwardt und spuckt Sand aus Anauroch in den Dreck. „was wissen wir eigentlich über diese Stadt?“
Dorien erzählt ihnen, was er von den Harfnern weiß. Zurzeit wird die Stadt von der schönen und guten Croamarkh Thistle Thalavar beherrscht. Doch der heimliche Herrscher Westtors ist Orlak, der Vampirfürst, dessen Diebesgilde, die Nachtmasken, die Unterwelt der Stadt kontrolliert.
„Und was tun wir jetzt?“, will Drake ungeduldig wissen. „Spazieren wir durch die Tore und fragen den erstbesten Passanten nach der ersten Seele Faerûns?“
Dorien seufzt.
„Ich werde mal sehen, was ich so herausfinden kann.“
Und er bereitet sich darauf vor, einen Zauber zu wirken, der nicht gerade zu seinen Favoriten zählt, da er fast immer mit unerwünschten Nebenwirkungen wie beißenden Kopfschmerzen und Erschöpfung verbunden ist. Außerdem hat er seit mindestens drei Tagen kein Bad mehr genommen und … Nicht dran denken. Seufzend schließt Dorien die Augen und spricht die Zauberformel… eine Vision blitzt wie ein blendender Ball durch seine Gedanken und er dreht sich um sich selbst hinab in eine finstere Vergangenheit…
Ein kahler Planet, kalt und düster und leblos. Toril vor Anbeginn der Zeit. Dann die Sonne, die am Himmel aufgeht und Dorien wird Zeuge des ersten Sonnenaufgangs auf Faerûn. Ein uralter Mann, seine Haut wie die Rinde einer alten Eiche, sein Haar grün und zerzaust, schreitet über die junge Erde. Es ist der Gott Silvanus und in seinen Augen leuchtet ein warmes, gutmütiges Licht, als er sich niederkniet und die Erde mit seinen zerfurchten Händen berührt. Die Erde öffnet sich unter der Berührung des Gottes und ein kleiner Eichensprössling sprießt aus der kahlen Erde.
„Semphelon“, tauft Silvanus liebevoll seine Schöpfung.
Dann ein Zeitsprung. Wolken ziehen wie rasende Riesen über den Himmel, die Erde wallt sich auf und glättet sich wieder und die Eiche Semphelon erwächst in rasender Geschwindigkeit zu einem gigantischen Baumriesen heran. Andere Bäume sprießen aus der Erde und ein Wald entsteht. Dann erscheinen im Zwielicht zwischen den Baumstämmen Gestalten, Menschen, Elfen und Feenwesen und auf ihren Gewändern tragen sie Symbole des Sylvanus. Monotoner Singsang erfüllt den Wald und die Gestalten fallen auf die Knie, um Semphelon, dem ersten Wesen Torils, ihre Ehrerbietung zu erweisen. Ein Druide löst sich aus der Gruppe der Betenden. Er breitet die Arme aus und beschwört mächtige Magie auf die Eiche herab. Semphelon erstrahlt in gleißendem Licht und ein Gesicht, ähnlich dem des Schöpfers des Baumes, gräbt sich in die Rinde der Eiche ein. Jahre vergehen, in denen die Anhänger des Semphelon den heiligen Hain aufsuchen, um den Rat des sprechenden Baumes einzuholen. Doch die Welt ist noch jung und Drachen herrschen über Toril. Die Anhänger des Semphelon fürchten um ihren Propheten und sie graben Semphelon aus, um ihn in eine befestige Stadt zu bringen, die an einer Küste liegt. Es ist die Stadt Westtor.
Wieder vergehen Jahrhunderte in einem einzigen Augenblick. Die Stadt wächst und quillt über ihre eigenen Stadtmauern hinaus. Dann erblickt Dorien einen König, kalt und herrschaftlich, der ein Tempelverbot für die Stadt verhängt. Die Stadt ist in Aufruhr. Alle Tempel werden vor die Stadtmauern verlegt, wo sieben Schreine errichtet werden und sieben Tempel im Erdreich unter den Schreinen – die Kirche der Elemente. In einem dieser Tempel tief unter der Erde pflanzen die Anhänger des Semphelon ihren Propheten, das Orakel des Silvanus, wieder ein. Und dort überdauert Semphelon die Jahrhunderte, unberührt vom Zorn und Schmerz der Welt. Die Schreine der Sieben Götter geraten in Vergessenheit – und Semphelon mit ihnen.
Als Dorien wieder zu sich kommt, liegt er im Staub, sein Kopf protestiert wie erwartet gegen den Kraft raubenden Zauber und fünf Gesichter starren ihn skeptisch von oben an.
„Und?“, fragt Drake mit vor der Brust verschränkten Armen. Dorien rappelt sich ächzend auf. Nachdem er den anderen berichtet hat, was die Vision ihm offenbart hat, beratschlagen sie, was als Nächstes zu tun sei. Bevor sie das Orakel des Silvanus aufsuchen, wollen Grimwardt und Nimoroth nach Tiefwasser zurück kehren, um einige Bestellungen abzuholen, die sie vor ihrem Aufbruch zum Verlorenen Paradies in Auftrag gegeben haben. Seufzend fügt sich Dorien in sein Schicksal als Teleporter und…
Khelben Schwarzstab!
Sie tauchen auf einem Hügel in der Nähe der Stadt des Glanzes wieder auf.
„Ich habe Khelben gesehen!“
Die anderen starren Dorien verständnislos an.
„In Westtor. Es… Wahrscheinlich hat er nach uns gesucht. Wir müssen zurück.“
Die anderen zucken die Achseln und Dorien spricht seine dritten Teleportation für diesen Morgen. Als sie wieder vor Westtor auftauchen, kann er den Magier nirgends entdecken.
„Bist du dir sicher, dass er da war?“, knurrt Grimwardt.
„Ja…“, erwidert Dorien gereizt. „Naja, vielleicht nicht ganz und gar…“, gibt er dann zu.
Diese ständigen Dimensionsreisen rauben mir den Verstand.
Im nächsten Moment vernimmt Dorien ein leises Surren in der Luft, dass er als die Ankündigung eines dimensionsreisenden Magiers erkennt. Ein schwarzhaariger Magier mit spitzem Kinn und dem durchdringenden Blick eines Adlers materialisiert sich vor ihnen, und Dorien stellt erleichtert fest, dass er noch keinen Halluzinationen erlegen ist.
„Hm“, macht Khelben und mustert sie mit leichter Belustigung. „War das ein Versuch vor mir zu fliehen?“ Dann wird er schlagartig ernst. „Kommt. Ich habe nicht viel Zeit und wir müssen reden. Aber nicht hier.“ Er hält ihnen seine Hände hin und beginnt einen Zauber zu murmeln. Die Gefährten berühren ihn, verschwinden, und tauchen im Dschungel wieder auf.
Im Dschungel?
Die Bäume wachsen so hoch, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden berührt. Farne und fremdartige Sträucher behindern das Fortkommen und Lianengewächse schlängeln sich um die Stämme der mächtigen Baumriesen. Kreischende Vögel lauern unsichtbar in den Baumwipfeln.
„Wo sind wir?“, fragt Dorien.
„Weit weg“, lautet Khelbens informative Antwort. Ohne ein weiteres Wort stapft er durch das Unterholz, schiebt mit seinem Stab einen Lianenvorhang zu Seite und gibt den Blick frei auf eine kleine Holzhütte, die inmitten des Immergrüns beinahe untergeht.
In der Holzhütte wartet eine behagliche Wohnstube auf sie. Khelben bietet ihnen Tee an. Dann setzt er sich den sechs Helden gegenüber und mustert sie aufmerksam.
„Nun erzählt mir, was ihr herausgefunden habt.“
Nachdem sie ihren Bericht beendet haben, schweigt Khelben lange, dann nickt er und murmelt irgendetwas, was Dorien nicht verstehen kann.
„Gute Arbeit“, sagt Khelben schließlich. „Es scheint als hättet ihr mehr herausgefunden als ich in dieser Sache unternehmen konnte.“
„Was ist geschehen, nachdem Ihr mit Elminster verschwunden seid?“, will Nimoroth wissen. „Konntet Ihr die Cathezar aufhalten?“
„Nein“, erwidert Khelben düster. „Es war eine Falle. Wir gerieten in ein magisches Feld, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Balors erwarteten uns mit ihrem Gefolge und die Cathezar konnte fliehen. In dem Kampf, der folgte, wurden Elminster und ich getrennt… Ich hoffe nur, dem alten Sturkopf ist nichts passiert“, fügt er noch mit einem mürrischen Murmeln hinzu.
„Wisst Ihr denn inzwischen, wozu die Cathezar Drakes Hand brauchte?“
„Es scheint als wolle der Nachtkönig einen Klon erschaffen.“
Dorien blickt zu Drake herüber, der mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt steht, doch die Miene des Meuchelmörders ist verschlossen.
„Aber wozu?“
Khelben zuckt die Schultern.
„Mehr kann ich euch leider nicht sagen.“ Der Magier erhebt sich. „Ich werde mich auf die Suche nach Elminster begeben müssen… Versucht mehr über diesen König Soleilon herauszubekommen. Ich wünsche Euch das Beste für eure Suche.“
Die Gefährten erheben sich ebenfalls von ihren Stühlen, um sich zu verabschieden.
Winter
Am Abend im Gasthaus „Zur Goldenen Harfe“ in Tiefwasser
In Abendgarderobe kommt Winter hinunter in die Wirtshausstube. Die anderen haben beschlossen, die Nacht in Tiefwasser zu verbringen, damit Grimwardt und Nimoroth ihre Geschäfte erledigen können. Die beiden sind in die Stadt gegangen; Kalyd wollte seine Eindrücke des Verlorenen Paradieses zu Papier bringen, Dorien ist nach seiner fünften Teleportation für diesen Tag erschöpft ins Bett gefallen und Drake…. Weiß der Abgrund, was Drake gerade treibt. Winter kommt diese kleine Verschnaufpause mehr als gelegen. Mit einigem Stolz ist sie sich der bewundernden Blicke bewusst, die ihr folgen, als sie die Treppe hinunter kommt, ihre Hand gleitet graziös über das Treppengeländer, ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. Ja, sie stellt fest, dass ihr diese „Arbeit“ gefehlt hat.
Zwei Besuchern gilt ihre besondere Aufmerksamkeit. Beide sitzen allein an einem Tisch. Kandidat Nummer Eins trägt die Kleider eines Kaufmanns, ist hoch gewachsen und dunkelhaarig und brütet über einem Glas Wein. Kandidat Nummer Zwei hat blondes Haar und edle Gesichtszüge… und ist ganz in einen Schmöker vertieft. Gerade schreitet Winter an seinem Tisch vorbei, doch er scheint sie nicht zu bemerken. Leicht gekränkt geht Winter auf den Tisch von Nummer Eins zu und hüstelt damenhaft. Der Fremde zuckt zusammen und blickt zu ihr auf.
„Verzeihung, ist noch ein Platz frei an Eurem Tisch, mein Herr?“, fragt Winter mit einem zauberhaften Lächeln.
„Äh, ja“, antwortet der Überrumpelte nicht gerade mit übersprühender Kreativität. Sie wartet, dann scheint er sich zu entsinnen, was von ihm in einer solchen Situation erwartet wird. Er springt auf, stößt dabei beinahe seinen Stuhl um und bietet ihr den Platz dar. Winter setzt sich und schlägt die Beine übereinander. Ihr Tischpartner bemüht sich, hastig einen Bediensteten herbeizurufen, um ihr etwas zu trinken zu bestellen. Seine Ungeschicktheit lässt nicht gerade auf viel Erfahrung im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht schließen, aber andererseits kommt Winter seine Naivität ganz gelegen. Gerade hat sich Nummer Zwei erhoben, um das Gasthaus zu verlassen, und Winter kann einen Blick auf das Buch erhaschen, das er unterm Arm trägt: „Gedichte des Morgens“. Für einen Augenblick kommen ihr Bedenken, ob sie nicht die falsche Wahl getroffen haben könnte, doch dann verwirft sie den Gedanken und schenkt ihrem Auserwählten ein zauberhaftes Lächeln. Sie trifft niemals die falsche Wahl.
„Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?“
„Ilcoron“, beeilt sich der Dunkelhaarige zu sagen und fährt sich nervös über die Schläfe. „Ilcoron ist mein Name. Und Ihr seid…“
„Winter.“ Winter versucht seinen Akzent zuzuordnen. „Lasst mich raten. Ihr kommt aus Amn?“
„Ja, das ist richtig, ich bin geschäftlich hier in Tiefwasser unterwegs… Ich… äh… bin im Holzgewerbe tätig.“
„Holz!“ Winter lacht affektiert und beugt sich über den Tisch. „Ich liebe Holz! Holz ist… ungemein nützlich und… schön.“
„Schön?“, fragt Ilcoron verwirrt.
„Nun, man kann wunderbare Dinge aus Holz fertigen, nicht wahr?“ Winter sieht sich um. „Seht nur diese Holzvertäfelung an der Wand, diese hübschen Schnitzereien. Ist Euch denn niemals aufgefallen, wie schön Holz ist?“
Ilcoron lächelt. „Ich… hätte niemals gedacht, dass ich das einmal zu einer Frau sagen würde, aber… Ihr erinnert mich an meine Mutter!“
Winters Lächeln gefriert für einen Augenblick auf ihren Lippen. „Tatsächlich?“, fragt sie. „Dann ist sie also auch im Holzgewerbe tätig? Muss ein lohnendes Geschäft sein…“
Im Laufe des Gesprächs bemerkt Winter, wie der scheue Holzhändler aufzutauen beginnt. Er wird mutiger und beginnt ihr Fragen zu stellen. Winter erzählt Geschichten aus ihrem Abenteurerleben. Immer wieder lässt sie Andeutungen in ihr Gespräch einfließen, dass sie sich in letzter Zeit oft alleine fühle und sich nach einer starken Schulter sehne, an die sie sich lehnen könne, und bemerkt befriedigt, wie die Blicke, die Ilcoron ihr zuwirft, sich zu verändern beginnen. Die befremdete Scheu, die sie zu Anfang noch aus seinem Gesicht las, verwandelt sich langsam in vorsichtige Zuneigung. Als sie die Zeit für gekommen hält, legt Winter ihm sanft ihre Hand auf den Arm, als er zu seinem Weinglas greift.
„Wollen wir nicht ein wenig spazieren gehen?“
Die Nacht ist sternenklar und warm und es wird ein wundervoller Abend. Ilcoron scheint seine Scheu vollends zu überwinden und Winter bemerkt aus den Augenwinkeln, wie er ihr Blicke voller Zuneigung zuwirft, wenn sie einmal in eine andere Richtung schaut. Ja, sie hat sich nicht getäuscht. Er ist nahezu perfekt. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, als Winter seine Hand ergreift und dicht an ihn herantritt. Sie spürt, wie sein Herz vor Aufregung Purzelbäume schlägt, als sie ihren Mund sanft auf seinen presst. Seine Lippen sind zu trocken und seine Erwiderung kommt zögernd und ein wenig steif. Doch mit ein klein wenig Führung von Seiten Winters lernt Ilcoron schnell. Sie lächelt ihn an.
„Die Nacht wird kalt… Wollen wir uns irgendwo ein Zimmer nehmen?“
Er schluckt. „Sehr… sehr gern.“
Nimoroth
Am nächsten Morgen vor den Toren von Westtor
Dorien hat sie an dieselbe Stelle teleportiert wie am Tag zuvor: ein kleiner Hügel vor dem Nordtor Westtors, der durch dichtes Buschwerk vor neugierigen Blicken geschützt ist.
„Khelben meinte, wir sollten mehr über Soleilon herausfinden“, erinnert Nimoroth die anderen. „Dorien, kannst du noch einmal eine Vision heraufbeschwören?“
„Wenn’s sein muss“, knurrt der Hexenmeister. Dorien ist schon seit dem Morgen überaus gereizter Laune. Genau genommen seit dem Moment als Winter in den Armen eines dunkelhaarigen Händlers im Gasthaus erschien, ihren Freunden ein freundliches Gute-Morgen-Lächeln zuwarf, das darauf schließen ließ, dass sie eine wundervolle Nacht verlebt hatte, und sich dann mit ihrer Eroberung an einen Tisch am anderen Ende des Raums niederließ. Dorien wäre fast sein Frühstück im Hals stecken geblieben und selbst Drake konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. Grimwardt grummelte nur irgendetwas, das wie „… muss ja wissen, was sie tut“ klang und biss in sein Frühstückshähnchen, als wollte er es noch einmal töten. Irgendwie hat Nimoroth das Gefühl, dass sich im Moment niemand außer seinem Cousin und ihm sonderlich um ihre Mission zu scheren scheint…
Inzwischen hat Dorien die Augen geschlossen und seinen Zauber gesprochen. Hinter seinen zuckenden Augenlidern scheinen sich Bilder zu bewegen. Nach einer Weile öffnet er abrupt die Augen, schneidet eine Grimasse und reibt sich die Stirn.
„Ich habe Gen Soleilon als jungen Mann gesehen“, berichtet Dorien. „Er wurde in einem Tempel des Lathander zum Paladin ausgebildet. Ich sah, wie er auf Abenteuer auszog und wie sein Heldenmut andere Paladine dazu bewegte, sich ihm anzuschließen. Als Soleilon nach Westtor gegen den Vampirkönig Orlak auszog, hatte sich bereits eine ganze Armee seiner Führung unterworfen. Es folgte eine gewaltige Schlacht um Westtor, die die ganze Nacht andauerte. Orlak wurde im Duell mit Soleilon getötet. Der Morgen kam und die Stadt war von Orlaks Vampirbrut befreit. Doch dann…“ Dorien versucht sich zu konzentrieren. „Am Morgen fand die Krönungszeremonie statt und Soleilon bestieg den Thron von Westtor. Doch ich sah einen Vampir, der sich offenbar hatte retten können. Er stahl die Krönungsinsignien des Nachtkönigs, wenn ich das richtig gedeutet habe, und stahl sich in die Kanalisation davon. So ist die Blutlinie Orlaks I. offenbar bewahrt worden.“
Die Gefährten werfen sich nachdenkliche Blicke zu und Dorien fährt fort: „Soleilon – oder der Strahlende König, wie seine Zeitgenossen ihn nannten – wurde von seinem Volk geliebt. Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Das Land um Westtor wurde von einem uralten roten Drachen, Ashardalon, tyrannisiert, dem selbst andere Drachen huldigten. Soleilon zog allein aus, um den Drachen zu töten, doch Lathander stellte ihm eine Solar, einen Engel, zur Seite, die ihn begleitete. Gemeinsam waren sie in der Lage, den mächtigen Drachen zu besiegen… oder zumindest schien es so. Soleilon hatte Ashardalon sein heiliges Schwert mitten durchs Herz gerammt. Doch schwer verletzt entkam der Drache mit dem Schwert im Herzen und ist seit diesem Tag nicht mehr gesehen worden. Gen Soleilon verbrachte eine aufregende Nacht mit der Solar.“ Bei diesen Worten wirft Dorien Winter einen düsteren Blick zu. „Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von ihm mit Tränen in den Augen. Gen kehre nach Westtor zurück, wo er als Held gefeiert wurde. Bis zu seinem Tod war er König von Westtor. Er nahm sich eine Frau, die ihm zahlreiche Kinder schenkte… die offenbar wenig vom Heldenmut ihres Vaters geerbt hatten. Soleilons Nachfahren waren nachlässig und träge im Ausüben von Regierungsgeschäften und überließen die Stadt dem langsamen Verfall.“
Die Gefährten beratschlagen, was sie als Nächstes tun sollen und kommen darin überein, dass sie Hanthos Rat folgen und Semphelon, das Orakel des Silvanus, aufsuchen sollten. Nimoroth bietet sich an den Richtungszauber zu wirken, mit dem sie auch zu Hanthos’ schwebender Festung gefunden haben. Er denkt an den Aufenthaltsort der Eiche Semphelon und murmelt die heilige Formel.
Der Wegfindungszauber führt sie zu den Schreinen der Sieben Götter. Sie müssen nicht weit gehen, da ragen auch schon aus dem Boden sieben Obelisken vor ihnen auf. Opfergaben, Nüsse und Früchte, liegen in Schalen vor den sieben Schreinen. Nimoroth wendet sich dem Schrein zu, den der Zauber ihm als den Schrein des Silvanus ausweist. Nichts Auffälliges lässt auf einen geheimen Zugang in einen unterirdischen Tempel schließen. Auch Drakes geübter Schurkenblick vermag keine Geheimtür zu enthüllen. Winter setzt ihren magischen Blick ein und konzentriert sich auf die Schreine, um sie auf ihre magischen Fähigkeiten hin zu überprüfen.
„Magisch sind diese Obelisken zweifellos“, teilt sie den anderen mit. „Bann- und Beschwörungszauber scheinen auf ihnen zu liegen, doch mehr vermag der Zauber mir auch nicht zu sagen.“
Nimoroth zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht“, meint er etwas ratlos, „müssen wir ja einfach nur tief genug graben…. Einen Versuch ist es immerhin wert.“
Gesagt, getan. Innerhalb eines Augenblicks verwandelt sich der Mielikki-Priester in einen Schreckensvielfraß und beginnt sich in die Erde vor dem Schrein des Silvanus zu graben. Er hört noch einen Fluch und vermutet, dass Dorien eine Drecksalve überrascht hat, die er beim Buddeln mit den Hinterpfoten verursacht hat. Tiefer und tiefer gräbt sich Nimoroth in das Erdreich, bis er auf eine härtere Gesteinsschicht stößt und wieder umkehren muss.
„Nichts“, teilt er den anderen mit, als er wieder seine Elfengestalt annimmt. Dorien beobachtet ihn argwöhnisch dabei, wie er sich den Dreck unter den Fingernägeln hervorpult.
„Es gibt gewisse Dinge“, sagt der Sune-Anhänger bedächtig, „die würde ich nicht einmal tun, wenn ich sie könnte“, und wendet sich schaudernd ab.
Inzwischen sind sie nicht mehr allein. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern nähert sich den Hügeln mit den Schreinen der Sieben Götter. Befremdet mustert sie die sechs Abenteurer und den kleinen Erdhügel, den Nimoroths Grabaktion hinterlassen hat. Nimoroth grüßt sie höflich und sie lächelt ein wenig unsicher.
„Kommt ihr oft hierher, gute Frau?“, möchte Nimoroth wissen.
„Hin und wieder“, antwortet die Frau.
„Wir haben gehört, dass es unter diesen Schreinen Tempel geben soll, die für die sieben vergessenen Götter errichtet wurden. Könnt Ihr uns vielleicht etwas darüber sagen?“
„Eine Legende“, erwidert die Frau. „So viel ich weiß, hat niemand je den Zugang zu diesen Tempeln gefunden.“
Nimoroth nickt.
„Ich danke Euch für die Auskunft. Mielikki sei mit Euch.“
Sie lächelt wieder und wendet sich einem der Schreine zu, um Äpfel aus einem Korb, den sie trägt, als Opfergabe darzubringen und eine Weile im Gebet zu verharren. Danach nimmt sie die Kinder wieder bei der Hand und geht mit ihnen davon.
„Vielleicht gibt es keinen direkten, physischen Zugang zu dem Tempel“, überlegt Dorien. Er geht in die Hocke und kramt eine Schriftrolle hervor. „Ich will versuchen festzustellen, ob es hier irgendwo ein verstecktes Portal gibt, das in den Tempel führt.“
Er liest den Zauber von der Schriftrolle ab. Dann lässt er seinen Blick über den Schrein des Silvanus schweifen und hält plötzlich inne und blinzelt. Sein Blick ist auf einen Punkt oberhalb des Obelisken gerichtet.
„Da war etwas“, sagt er. „Ganz kurz konnte ich den Umriss eines Portals wahrnehmen, das über dem Schrein zu schweben schien. Ich nehme an, dass es durch Bannzauber geschützt ist, darum konnte ich es nicht näher identifizieren.“
Nimoroth schwingt sich auf den Obelisken und tatstet mit den Händen in der Luft. Nichts. Dann fällt sein Blick auf einen schwarzen, pulverartigen Rückstand auf dem Stein. Er kniet nieder, um mit dem Finger darüber zu fahren, und erkennt, dass es Ruß ist.
„Irgendetwas scheint dort oben zu sein“, bestätigt er den anderen, während er federnd auf dem Boden aufkommt. „Und ich habe auch eine Idee, wen wir danach fragen können, wie wir das Portal öffnen sollen.“
Die anderen sehen ihn fragend an. Doch Nimoroth kniet sich lediglich vor den Schrein und faltet die Hände zum Gebet. Kurz darauf spürt er die Präsenz eines göttlichen Gesandten in seinen Gedanken.
Verzeiht, Herrin des Waldes, verzeiht mir, dass ich noch einmal auf diesen Zauber zurückgreife, um Euren Rat einzuholen. Doch wir wissen nicht weiter. Um das Wesen aufzuhalten, das die Seelenquellen anzapft, müssen wir zu Semphelon, dem Orakel des Silvanus, gelangen, doch der Weg ist uns versperrt. Ihr müsst mir helfen, meine Göttin.
Plötzlich spürt er eine überwältigende göttliche Macht hinter seinen Gedanken und begreift, dass es Mielikki selbst ist, die zu ihm spricht. Er nimmt Unbehagen und einen Hauch von Missbilligung wahr.
Wir Götter dürfen keine Auskunft geben über die Dinge, nach denen du fragst, Nimoroth. Du bewegst dich auf Pfaden, die kein Sterblicher beschreiten sollte. Sei auf der Hut und frage mich nicht mehr. Nur diese Auskunft will ich dir geben: Den Tempel erreichst du über Semphelons Träume. Suche in den Vampirkrypten nach dem Zugang zur Traumebene.
Nimoroth zittert leicht, als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wird.
„Was ist los?“, fragt Kalyd besorgt.
Nimoroth schluckt. „Ich… sollte von diesem Zauber in nächster Zeit nicht mehr Gebrauch machen.“
Er erzählt den anderen, was Mielikki ihm offenbart hat.
„Traumebene?“ Grimwardt runzelt die Stirn. „Ich glaubte als Priester des Tempus von den meisten Ebenen gehört zu haben – doch von einer Traumebene habe ich noch nie etwas gehört.“
„Geht mir ähnlich“, pflichtet Nimoroth ihm bei.
„Dann kommen wir also nicht darum herum, die Nachtmasken ein wenig aufzureiben, wie?“, murmelt Drake mit einem schiefen Lächeln.
„Doch vorher sollten wir nach Tiefwasser zurück kehren, um uns für diese Begegnung auszurüsten“, meint Grimwardt.
„Ich nehme an, du sprichst von reichlich Knoblauch, Weihwasser und Holzpfählen“, rät Kalyd.
„Was die Holzpfähle angeht, kann uns Winters… neue Bekanntschaft sicher weiterhelfen“, schlägt Drake mit einem verschlagenen Lächeln vor und Winter starrt ihn verblüfft an als frage sie sich, woher er das nun wieder wisse.
Kalyd
Am Morgen des nächsten Tages in Westtor
Sie sind für eine Begegnung mit Vampiren gerüstet: Am Vortag haben sie sich in Tiefwasser mit den entsprechenden Waffen und ausreichend Heilmittel versorgt. Zum Frühstück hat Grimwardt ihnen ein Heldenmahl bereitet, um sie vor Giftattacken und Furchteffekten zu schützen und Nimoroth hat seinen Lokationszauber gewirkt, der ihnen den schnellsten Weg in die Vampirkrypten weisen soll. Sie haben beschlossen früh aufzubrechen, da Vampire bekanntlich bei Tag nicht viele Fluchtmöglichkeiten haben.
Als sie nun die Hauptstraße Westtors entlang schlendern, fällt Kalyd sofort ein prunkvolles Gebäude auf der rechten Straßenseite auf. Fresken, die Tänzerinnen in seidenen Gewändern zeigen, ziehen sich über die gesamte Häuserfront hinweg. Wasserspeier und Satyrs aus purem Gold blicken vom Dach auf die Gefährten herab und die metallverstärkte Eingangstür wird von den Statuen zweier verschleierter Tänzerinnen flankiert, die sich in schlangenartigen Bewegungen winden und den Besucher mit ihren Gesten hinein zu bitten scheinen. Seltsam dekadent und schaurig wirkt das fensterlose Haus. Über dem Eingang hängt ein goldverziertes Schild: Zur Purpurnen Lady – Geöffnet von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.
„Der Zauber führt geradewegs in dieses…. Etablissement“, sagt Nimoroth.
„Sieht ja einladend aus“, murmelt Drake.
Kalyd tritt auf die Tür zu. Sie scheint von innen verriegelt zu sein.
„Hey, was tut ihr da?“ Die sechs drehen sich um. Drei Wachtmänner der Stadtwache haben sich ihnen genähert. Der Mann in der Mitte verschränkt abweisend die Hände vor der Brust und sieht die Gefährten missbilligend an.
„Wir sind Abenteurer und gerade erst in der Stadt angekommen“, sagt Winter arglos. „Auf der Suche nach einer Taverne sind wir sogleich auf dieses… äußerst ansprechende Gebäude gestoßen und…“
„Könnt Ihr nicht lesen?“, blafft der Wachtmann sie an. „Auf dem Schild steht Geöffnet von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.“
„Dann werden wir uns wohl weiter umsehen müssen“, räumt Nimoroth hastig ein. Die Gefährten schlendern weiter die Gasse entlang und da die Männer von der Stadtwache sie zu beobachten scheinen, biegen sie schließlich in eine Nebengasse ein, um sich den Blicken aus der Hauptstraße zu entziehen.
„Und was nun?“, fragt Kalyd. „Der Kerl ist offensichtlich gekauft. Ohne die Stadtwache auf den Plan zu rufen, kommen wir bei Tag nicht dort hinein.“
Drake zuckt die Schultern. „Was können die uns schon anhaben.“
„Keine unnötigen Toten und keine unnötige Aufmerksamkeit“, warnt Nimoroth.
„Schon verstanden“, seufzt Drake. „Dann bleibt uns nichts weiter übrig als…“
„Hey, ihr seid ja immer noch da!“
Schon wieder die Stadtwache.
„Weil wir uns beraten wollten, wohin wir jetzt gehen“, erwidert Dorien gereizt. „Die Hauptstraße würde uns wieder aus der Stadt hinaus führen. Vielleicht wärt Ihr ja so freundlich, uns ein Gasthaus zu nennen, wo wir die Nacht verbringen können?“
„Ich wäre sogar so freundlich, euch persönlich dorthin zu begleiten“, knurrt die Wache.
Winter
Wenig später im Gasthaus „Zum leeren Fisch“
Winter betritt den Barraum. Drei Matrosen, die an dem einzig besetzten Tisch in einer Ecke der Hafenspelunke herum lungern, pfeifen als sie sie sehen und rufen ihr teils vulgäre teils schmeichelnde Bemerkungen zu. Winter zwinkert ihnen zu und schlendert zu ihrem Tisch hinüber. Sie machen ihr hastig Platz und fordern sie fröhlich auf, sich zu ihnen zu gesellen. Sie scheint Glück zu haben. Zu dieser frühen Stunde sind die Seeleute offenbar noch nicht betrunken genug, um auf dumme Gedanken zu kommen.
Nachdem der lästige Wachtmann die Gefährten in eine billige Spelunke im Hafenviertel geführt hatte, waren sie zu dem Entschluss gekommen, dass ihnen nichts würde übrig bleiben als bis zum Abend zu warten, bevor sie die Purpurne Lady wieder aufsuchten. Da Nimoroths Richtungszauber so lange nicht andauern würde, hatte er sich bereiterklärt bis zum Abend Ruhe zu halten, um sich den Zauber dann erneut zu erbeten. Winter will in der Zwischenzeit versuchen, ein paar Informationen über die Purpurne Lady in Erfahrung zu bringen.
Lächelnd denkt sie zurück an den letzten Abend in Tiefwasser. An Ilcorons glückstrunkenes Gesicht, als er ihr die Hand reichte, um ihr aus der Kutsche zu helfen… Er ist ganz offensichtlich ernsthaft im Begriff sich in sie zu verlieben.
„… bist denn du, hübsches Ding? Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
Winter schreckt aus ihren Gedanken auf und wirft dem Matrosen, der die Frage gestellt hat, einen aufreizenden Blick zu.
„Oh, ich bin auch gerade erst angekommen.“ Sie geht hastig ihre imaginäre Pseudonymliste durch. „Mein Name ist Alias.“
Der Matrose rückt mit seinem Stuhl etwas näher an sie heran. „Du bist vom Gewerbe, hä?“
„Äh… ja.“ Sie kichert affektiert. „Wie hast du das bloß erraten?“
„Naja, ich…“ Er wird fast ein bisschen rot.
„Wisst ihr….“ Sie dreht spielerisch an einer Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fällt. „Wisst ihr vielleicht, wo ich in dieser Stadt an Kundschaft komme?“
„Versuch es heute Abend in der Lanzenstraße“, rät ihr ein anderer Matrose und lacht. „Ich sage dir, du wirst dort die Attraktion sein! Und ich weiß, wovon ich spreche!“
Die anderen klopfen ihm grinsend auf den Rücken und stimmen ihm zu.
„Lanzenstraße….“ Winter gibt vor zu überlegen. „Tja, wisst ihr, auf dem Weg in die Stadt, da bin ich an einem überaus prunkvollen Gebäude vorbei gekommen. Wie war doch gleich der Name? Lasst mich überlegen.“
„Zur Purpurnen Lady“, hilft der dritte Matrose ihr eifrig auf die Sprünge.
„Ja, das war es!“ Winter klatscht freudig in die Hände. „Auf der Hauswand waren überall Tänzerinnen abgebildet und…“ Sie beugt sich verschwörerisch zu den Matrosen über den Tisch. „Wisst ihr, ich habe große Pläne! Glaubt ihr, ich könnte dort vielleicht als Tänzerin anfangen?“
Plötzlich werden die drei Männer ruhig und starren betreten in ihre Bierkrüge.
„Tja, weißt du“, murmelt der erste zögernd. „Vielleicht solltest du dich von diesem Ort lieber fernhalten.“
„Aber warum denn?“
Er hadert mit sich, dann sagt er: „Ist vielleicht alles nur olles Seemannsgarn, aber man erzählt sich, dass die Gäste der Purpurnen Lady… nicht alle wieder herauskommen.“
„Ach, wirklich?“
„Naja, das ist ein Ort, wohin die Reichen gehen, und wer weiß schon, was die Reichen so treiben. Und dieser Sorenth ‚Frohsinn’ Gorender scheint auch eine recht zwielichtige Gestalt zu sein.“
„Frohsinn?“
„Der Besitzer der Bar, ja. Lässt sich tagsüber nie blicken, wohl, weil er nächtelang ausschweifende Feste feiert… Daher auch der Name.“
„Verstehe.“ Winter erhebt sich. „Nun, ich danke euch für eure Hilfe, Jungs… Vielleicht sieht man sich ja mal“, fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Einer der Matrosen springt auf und umfasst ihre Taille. Das lüsterne Funkeln in seinen Augen gefällt ihr nicht.
„Warum warten?“, fragt er grinsend. „Ich habe noch ein paar Münzen übrig. Wie ist dein Preis, Alias?“
Winter entzieht sich mit sanfter Bestimmtheit seinem Griff und droht ihm spielerisch mit dem Finger. „Nicht so hastig, mein Freund. Du weißt doch, Vorfreude ist die schönste Freude. Komm heute Abend in die Lanzengasse. Ich muss mich jetzt ausruhen, um für eine lange Nacht gerüstet zu sein.“ Das ist nicht einmal gelogen. Die Nacht könnte tatsächlich lang werden.
Enttäuscht blickt der Matrose ihr nach, als sie ihm beschwingt den Rücken kehrt und davon stolziert.
„Bei Sonnenuntergang in der Lanzengasse!“, ruft er ihr nach.
Dorien
Dorien schreibt in ihrem Schlafraum im Leeren Fisch gegen die Wand gelehnt an einem Liedtext. Betten gibt es hier nicht, die Gefährten müssen mit einigen Strohmatten vorlieb nehmen. Nimoroth sitzt in Meditationshaltung auf einem der improvisierten Betten, die Augen geschlossen. Dorien blickt auf, als sich die Tür öffnet. Es ist Winter. Leise, um Nimoroth nicht zu stören, berichtet sie Dorien, was sie von einigen Matrosen im Barraum erfahren hat. Dorien schlägt vor etwas essen zu gehen. Winter ist einverstanden. Verwundert beobachtet er sie dabei, wie sie ihren Verkleidungshut benutzt, um sich in einen schäbigen Straßenjungen zu verwandeln.
„Ich habe mich diesen Kerlen als… na du weißt schon was vorgestellt… will ihnen lieber nicht noch einmal in meiner wirklichen Gestalt über den Weg laufen“, erklärt sie.
Dorien zieht die Augenbrauen hoch. „Ich kann dich auch bezahlen“, bietet er amüsiert an.
Winter zieht es vor diese Bemerkung zu ignorieren.
Auf der Suche nach einem Gasthaus, das eher ihren Vorstellungen von guter Küche entspricht als der Leere Fisch, schlendern die beiden durch die Stadt und kehren schließlich im Blauen Banner ein, wo Winter wieder ihre wirkliche Gestalt annimmt. Nachdenklich mustert Dorien sie über den Rand seines Weinglases hinweg.
„Und?“, fragt er mit einem schiefen Lächeln. „Ist er ein Opfer oder ist da mehr zwischen euch, dir und deinem Holzhändler?“
Sie sieht ein wenig überrumpelt von ihrem Hähnchenfilet auf.
„Nun ja, er ist ein Opfer“, behauptet sie dann. „Wenn du es so ausdrücken willst... Ich finde es ist mal wieder an der Zeit, dass ich mich nach einem Mann umsehe, der mich eine zeitlang versorgt.“
„Hm“, macht Dorien und runzelt die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich dich dafür bewundern oder es missbilligen soll.“
Oder ob ich ganz einfach nur ein eifersüchtiger Narr bin.
Winter lächelt schwach. „Aber du kennst mich doch, Dorien. Wie vielen Frauen hast du in den letzten Jahren das Herz gebrochen?“
„Ich gehöre nicht zu den Männern, die es nötig haben mit ihren Eroberungen zu prahlen“, erwidert Dorien selbstgefällig.
„Wie viele?“, wiederholt Winter unbeeindruckt.
„In den meisten Fällen bin ich nicht so lange geblieben, um zu erfahren, ob ich ihnen…“
„Wie viele?“
Dorien kapituliert.
„Acht? Neun?“, überschlägt er großzügig. Es waren weniger – wie er entsetzt feststellt.
Ich werde alt. Grauenvoller Gedanke.
Winter lächelt triumphierend. „Siehst du. Du bist auch nicht besser als ich.“
„Ich habe niemals eine Frau bestohlen… oder absichtlich betrogen.“ Dann sieht er sie Stirn runzelnd an. „Hat dir denn schon einmal jemand… das Herz gebrochen?“
„Das ist lange her“, sagt sie ruhig.
„Du machst mich neugierig.
Sie wendet den Blick ab und seufzt. „Ich war jung und er war unehrlich. Er… Ich glaubte tatsächlich, ihn zu lieben… und dass er mich auch liebte.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Er war ein Idiot.“
„Das war er wohl wirklich.“
Grimwardt
Am Abend auf dem Weg zur Purpurnen Lady
Während sie schweigend nebeneinander hergehen, denkt Grimwardt mit gerunzelter Stirn an die Begegnung mit Teleria, der Kartoffelfrau, auf dem Marktplatz von Westtor. Die ganze Zeit hatte er sich beobachtet gefühlt. Er war in eine Seitengasse gelaufen und Teleria war ihm gefolgt. Doch als er sie schließlich zur Rede stellen wollte, behauptete die Kartoffelfrau steif und fest, dass sie lediglich auf dem Markt eingekauft habe. Grimwardt spielte den Kavalier und begleitete sie zum Fischmarkt.
Und ich bin mir trotzdem sicher, dass du mich verfolgt hast, was auch immer du behaupten magst.
„Ich werde den Wegfindungszauber erst wirken, wenn wir in dem Gebäude sind“, reißt Nimoroth Grimwardt aus seinen Gedanken, „damit wir diesmal sicher sein können, dass die Wirkungsdauer reicht.“
Sie sind inzwischen vor dem prunkvollen Eingangstor der Purpurnen Lady angelangt. Doch im Gegensatz zu ihrem Besuch am Morgen sind die hölzernen Flügeltüren einladend geöffnet. Ein purpurner Samtvorhang, der hinter der Eingangstür befestigt ist, verwehrt den Blick ins Innere der Bar.
Als die Gefährten eintreten wollen, versperren zwei muskulöse Halbork-Türsteher mit Krummsäbeln ihnen den Weg.
„Was wollt Ihr?“, grunzen sie unhöflich.
Winter mimt den pikierten Gast. „Nun, das Schild über dem Eingang lässt vermuten, dass dieses Etablissement der Öffentlichkeit zugänglich ist – oder ist dem etwa nicht so?“
„Abenteurer haben die Angewohnheit Ärger zu machen und sind hier nicht willkommen“, erklärt einer der beiden, während der andere hinter dem purpurnen Vorhang verschwindet. „Wartet hier.“
Kurz darauf kehrt der zweite Halbork zurück und nickt seinem Kollegen zu.
„Lass sie rein.“ Dann wendet er sich den Gefährten zu. „Sorenth Gorender erwartet Euch.“
Sie werfen einander nervöse Blicke zu, als sie dem Halbork in den Barraum folgen. Grimwardt spürt sogleich, wie ihn eine überwältigende Aura des Bösen und des Untods empfängt, als er den prunkvollen Saal betritt. An zahlreichen Tischen frönen vornehm gekleidete Gäste alkoholischen Getränken oder ziehen mit exstatisch verklärten Blicken an Pfeifen. Die Luft ist erfüllt vom Geruch berauschender Drogen und exotischer Kräuter. Auf einer Bar aus schwarzem Obsidian bewegen sich Tänzerinnen mit purpurnen Schleiern und freizügiger Kleidung in schlangenartigen Bewegungen zur Musik einer Gruppe männlicher Musikanten, die auf einer kleinen Bühne neben der Bar spielt. Auf der Längsseite des Saals befinden sich Couchnischen mit Vorhängen. Von dort, wo die Vorhänge zugezogen sind, hört man leises, lustvolles Stöhnen.
Der Halbork führt die Gefährten zu einem Tisch, wo sie ein großer muskulöser Adliger mit bleichen, stechenden Augen erwartet. Zu seiner Seite ruht ein blitzender Krummsäbel und zahlreiche edelsteinbesetzte Ringe zieren seine bleichen Finger. Hinter seinem Stuhl harrt reglos eine junge Frau mit exotischen Gesichtszügen und goldbrauner Haut. Sie wirkt krankhaft mager und ihr kahler Schädel ist tätowiert.
Der Vampir deutet ein schales Lächeln an und fordert seine Gäste mit einer Handbewegung auf sich zu setzen.
„Sorenth Gorender?“, fragt Nimoroth.
„Der bin ich.“ Er neigt den Kopf und weist auf seine Begleiterin. „Und dies ist Rinta.“ Er bedeutet dem Halbork sich zu entfernen. „Würdet Ihr mir die Ehre erweisen mit mir zu speisen?“
„Was verschafft uns denn die Ehre?“
Statt einer Antwort lächelt Sorenth wieder sein schales Lächeln und schenkt den Gefährten Wein ein. Dann hält er sein eigenes Glas in die Höhe und prostet ihnen zu.
„Auf unsere neuen Gäste.“
Siedend heiß fällt Grimwardt ein, dass die Wirkung des Heldenmahls, das er am Morgen erbetet hat und das die Freunde vor Gift schützen sollte, bereits verklungen sein muss. Doch es ist schon zu spät. Dorien, Winter und Drake haben bereits einen Schluck genommen. Nimoroth und Kalyd erstarren in der Bewegung, als sie Grimwardts Blick auffangen.
„Wollt Ihr nicht kosten?“, fragt Sorenth mit einem amüsierten Lächeln. „Ich serviere nur den besten Wein – und ich kenne mich aus, was das Ausrichten von Festabenden angeht. Man nennt mich nicht umsonst Sorenth ‚Frohsinn’ Gorender.“
„Ich… hätte lieber ein Glas Wasser.“
Nicht nur Sorenth starrt Nimoroth befremdet an.
„Wenn Ihr mir nicht traut, müsst Ihr nicht…“
„Nein, es ist nur… Ich bin ein Priester der Mielikki. Wenn ich es vermeiden kann, konsumiere ich nichts, das aus den Früchten der Natur hergestellt wurde.“
Sorenth zieht die Augenbrauen hoch, dann bricht er in amüsiertes Lachen aus und winkt einen Diener herbei.
„Bring unserem Naturkind einen Schluck Wasser!“
Das Wasser wird gebracht und Nimoroth hat keine andere Wahl als zu kosten.
Einen Augenblick später stößt Winter einen erstickten Schrei aus und fasst sich an die Kehle. Auch Dorien beginnt zu zittern und zu schwitzen. Drake, der den Wein die ganze Zeit über im Mund behalten hatte, spuckt ihn Sorenth kalt über die Schulter und zieht seine Waffen. Auch Nimoroth wird von dem Gift betroffen. Alle scheinen gleichzeitig aufzuspringen, um ihre Waffen zu ziehen. Panik bricht aus, als Stahl blitzt und Zauber durch den Saal surren und die Gäste eilen in alle Richtungen davon. Die Tänzerinnen springen raubtierartig von der Bar und fletschen die Vampirzähne. Ein paar von ihnen klettern wie Spinnen an den Wänden empor, um von oben anzugreifen. Zu den zwei Halbork-Vampiren mit den Krummsäbeln gesellen sich zwei weitere, die am Eingang standen.
In dem Durcheinander, das folgt, erhascht Grimwardt einen Blick auf Sorenth, der sich nach Vampirart in Nebel verwandelt und zu fliehen versucht. Weder Doriens Energiekugeln noch Kalyds Schwert scheint ihn aufhalten zu können. Grimwardt konzentriert sich auf den Fliehenden und beschwört einen Priesterzauber auf ihn herab, der Körperlose zu vernichten vermag. Einen Moment lang glaubt er die Furcht des Vampirfürsten spüren zu können, doch dann scheint Sorenths Wille sich zu festigen und er wehrt den Zauber ab. Im nächsten Augenblick ist er dem Kampf entflohen und Grimwardt stößt einen zornigen Fluch aus. Als er erkennt, dass das Gift bei Winter und Nimoroth seine Wirkung zeigt und beide ohnmächtig zu Boden sinken, schleudert er wütend den nächsten Zauber.
„Tod den Untoten“, brüllt er und weidet sich an den Schreien der Vampirbrut, die sein Fluch dahinrafft. Rinta, Sorenths Komplizin, unberührt von allen Angriffen, die auf sie gerichtet sind, steht noch immer reglos dort, wo sie schon bei der Ankunft der Helden stand. Ihr durchdringender Blick ist auf Kalyd gerichtet und Grimwardt vermutet, dass sie versucht in den Geist des Kämpfers einzudringen. Doch mit grimmiger Entschlossenheit, die ihn jahrelange Erfahrung mit magischen Bezauberungen gelehrt hat, widersteht der Elf den geistigen Befehlen. Als sie bemerkt, dass ihre Versuche fruchtlos bleiben, wendet Rinta den Blick ab und teleportiert sich davon. Der Rest der Vampirbrut ist schnell besiegt, doch Grimwardt vermutet, dass die Tänzerinnen und Säbelschwinger ohnehin nur dem Zweck dienten, sie für eine Weile aufzuhalten. Der Kampf ist zu Ende obgleich er kaum richtig begonnen hat.
„Was machen wir mit Winter und Nimoroth?“, reißt Dorien, der neben den beiden Ohnmächtigen kniet, ihn aus seinen Gedanken. Zum Glück erinnert sich Kalyd an zwei Heilstäbe, die Nimoroth aus einem früheren Abenteuer der beiden Cousins bei sich trägt. Mithilfe der Stäbe vermag Grimwardt die Vergifteten schnell aus ihrer Ohnmacht aufzuwecken.
Winter
Nachdem sich Winter und Nimoroth von dem Schreck erholt haben, wirkt Nimoroth den Wegweisungszauber, der sie zur Traumebene bringen soll. Winter blickt den Elfen erwartungsvoll an, doch dieser schüttelt Stirn runzelnd den Kopf.
„Es funktioniert nicht“, sagt Nimoroth. „Möglicherweise kann der Zauber uns nicht auf eine andere Ebene führen.“
„Und dafür hast du nun acht Stunden lang meditiert“, bemerkt Drake trocken. Winter erinnert sich an einen Zauber, von dem sie einmal gehört hat.
„Vielleicht könnten wir nach Sorenth suchen und hoffen, dass er das Portal zur Traumebene bewacht“, schlägt sie vor. Drake sieht sie mit hochgezogenen Auenbrauen fragend an.
Winter beginnt nun ihrerseits eine Zauberformel aufzusagen, der ihr den Weg zu dem vampirischen Barbesitzer weisen soll.
„Es funktioniert!“, teilt sie den anderen triumphierend mit und geht zielstrebig auf die Hintertür des Barraums zu, aus der Sorenth in Nebelgestalt fliehen konnte. „Dort entlang.“
Grimwardt erhebt seine Axt und will die Tür zerschmettern.
„Äh, Grim“, erinnert ihn Dorien, der eilig in den Hintergrund zurück weicht. „Willst du nicht erst jemanden nach Fallen suchen lassen?“
Grimwardt grummelt etwas Unverständliches und Winter nutzt seine Untätigkeit, um die Tür zu inspizieren. Als sie keine Fallen finden kann, zückt sie ihre Haarnadel und beginnt das Türschloss zu bearbeiten. Schon nach wenigen Augeblicken stiehlt sich ein befriedigtes Lächeln auf ihre Lippen. Schwungvoll tritt sie von der Tür zurück, um den anderen den Vortritt zu lassen. Grimwardt will die Tür aufstoßen, doch sie lässt sich nicht öffnen. Winters Lächeln weicht einem Stirnrunzeln und sie sieht sich noch einmal die Tür an.
„Balken“, wendet sie sich schließlich seufzend an die anderen. „Auf der anderen Seite ist die Tür mit zwei Balken verriegelt.“
Grimwardt wirft Winter einen beredten Blick zu und hebt wieder seine Axt.
„Warte.“ So schnell will Winter sich nicht geschlagen geben. Sie weist die anderen an, sich um sie zu sammeln und öffnet ein Dimensionstor auf die andere Seite der Tür.
Vor ihnen liegt ein langer Korridor mit zahlreichen Türen zu beiden Seiten, der in eine Wendeltreppe mündet. Magische Fackeln beleuchten den engen, fensterlosen Gang. Obgleich Winters Zauber sie den Gang hinunter führt, schlägt sie vor einige der Räume zu inspizieren. Es sind luxuriös eingerichtete Gästezimmer. Während in einigen der Räume zerwühlte Bettlaken und ein Duftgemisch nach Schweiß und Erregung darauf hindeuten, dass hier noch vor kurzer Zeit Gäste der Purpurnen Lady ihrer Lust gefrönt haben, scheinen andere unberührt zu sein. In einem der Räume entdeckt Winter winzige Löcher in den Wänden, die es den Vampiren offensichtlich ermöglichen in Nebelgestalt von Raum zu Raum zu gelangen. Am Ende des Ganges befindet sich ein größerer Raum, der die Wendeltreppe umschließt. Dorthin folgt Winter der Weisung ihres Zaubers. Nimoroth verharrt.
„Habt ihr das gehört?“, fragt er die anderen.
Winter dreht sich zu ihm um. „Was denn?“
„Ein Wimmern….“
Nun kann Winter es auch hören. Ein leises Schluchzen oder Weinen scheint von jenseits der Tür zu kommen. An der Tür verharrt sie, um einen weiteren Zauber zu sprechen, der es ihr erlaubt Gedanken wahrzunehmen.
„Kannst du jemanden in dem Raum spüren?“, wispert Kalyd.
„Ich nehme… acht Anwesenheiten wahr“, flüstert Winter zurück. „Warte…“ Sie konzentriert sich eingehender auf den Zauber. „Zwei von ihnen scheinen furchtbare Angst auszustehen. Außerdem kann ich… Ungeduld bei vier anderen spüren und…. Selbstsicherheit bei den übrigen beiden.“
„Gorender und die Magierin mit ihrem Gefolge“, schließt Nimoroth aus ihrer Beobachtung.
„Und offenbar haben sie zwei Geiseln genommen“, fügt Grimwardt hinzu.
Ein paar Minuten geschäftiger Stille vergehen, in denen sich die Gefährten auf die Konfrontation mit den Vampiren vorbereiten. Winter und Dorien verabreden flüsternd, sich mit Versetzungszaubern an die Stelle der Geiseln zu teleportieren, sollten die Vampire versuchen, die Gefährten damit zu erpressen, die beiden Gefangenen zu töten. Kurz bevor Winter die Tür aufschließt, lässt Nimoroth sein heiliges Gebrüll ertönen, das alle bösen Kreaturen im Umkreis erstarren lässt (Drake, der inzwischen an die Fähigkeiten des Elfenpriesters gewöhnt ist, hält sich wohlweißlich die Ohren zu).
Dann reißt Winter die Tür auf und der Kampf kann beginnen.
Kalyd
Kalyds Elfenherz setzt für einen Augenblick aus, als er in den Raum hinein blickt. Hinter den vier Säbel-schwingenden Halbork-Vampiren, die die Gefährten hinter der Tür erwarten, erkennt Kalyd Sorenth, den Besitzer der Purpurnen Lady, der mit bluttropfendem Säbel breitbeinig über einem kleinen Elfenjungen steht, der sich wimmernd am Boden windet. Links neben ihm schwebt in einer magischen Kugel Rinta, die Magierin. Eine junge Elfe, offenbar die Mutter des Jungen, liegt gefesselt und entkleidet an der Wand unter einem schaurig-barocken Gemälde, das eine gekreuzigte Frau zeigt. Blutrinnsäle fließen der Figur über den entblößten Körper und eine Horde schwarz gewandeter Vampire labt sich zu ihren Füßen an ihrem geschundenen Leib. Ein deckelloser steinerner Sarg nimmt beinahe die gesamte rechte Seite des Raums ein.
Noch ehe die Vampire reagieren können, stürzt Kalyd sich auf den ersten Halbork. Auch Nimoroth scheint das Bild der beiden gefolterten Elfen tief zu berühren. Mit erhobenem Säbel stürmt er an Kalyd vorbei auf den nächsten Angreifer zu. Die Wucht seines Angriffs reißt den Halbork-Vampir von den Füßen und der Mielikki-Priester wuchtet ihn gegen die Wand. Während zwei blind kämpfende Halborks ihn angreifen, bemerkt Kalyd aus den Augenwinkeln, wie Grimwardt in der Tür erscheint.
„Diesmal entrinnst du mir nicht, Gorender!“, brüllt der Kriegspriester und schleudert dem Vampir einen Fluch entgegen. Der Barbesitzer reißt ungläubig die Augen auf, als der Säbel in seiner Hand zu zittern beginnt. Etwas beginnt seine Haut zu zerfressen und im nächsten Augenblick verpufft die Gestalt des Vampirs zu nebligem Dunst, der durch ein Loch in den steinernen Sarg entweicht. Rinta stößt einen Schrei aus und zielt einen Zauber auf Grimwardt. Ein schattig umspielter schwarzer Strahl trifft den Priester in die Brust und Grimwardt krümmt sich keuchend zusammen, als er spürt, wie der Zauber an seiner Lebensenergie zu nagen beginnt. Der Strahl springt auf Kalyd über, der eilig ein Spiegelbild beschwört, das ihn vor den Auswirkungen des Zaubers bewahrt. Auch an Doriens unsichtbarer Rüstung prallt Rintas Strahl ab und Drake kann ihm entgehen, indem er sich eilig zur Seite rollt. Um den Elfenjungen aus dem Wirkungsbereich von Rintas Zaubern zu bringen, wirkt Dorien einen Versetzungstrick und tauscht den Platz mit dem Jungen. Er befindet sich nun rechts unterhalb von Rintas Kugel. Dorien wirbelt herum und weist mit der Hand auf die Magierin. Ein grüner Strahl schießt aus den Fingern seiner rechten Hand und durchdringt Rintas Kugel der Unverwundbarkeit. Spiegelbildern und Rintas flimmernder Gestalt trotzend, trifft der Strahl die Magierin in die Brust. Ihr Schrei verstummt auf ihren Lippen und ihr Körper zerfällt zu Staub. Kein Nebel.
Dann war sie also kein Vampir, wundert sich Kalyd.
Kalyd, Grimwardt, Nimoroth und Winter erledigen eilig die vier Halborks, die zu fliehen versuchen als sie begreifen, dass ihre Anführer gefallen sind. Drake lehnt sich mit scheinbarer Gelassenheit gegen die Wand und beobachtet den Kampf aus sicherer Entfernung. Doch Kalyd entgeht nicht das Stirnrunzeln, das sich zwischen den Augenbrauen des Assassinen gebildet hat – offenbar ärgert sich Drake über seine eigene Nutzlosigkeit in dieser Situation. Seine Dolche vermögen den untoten Säbelschwingern kaum einen Kratzer zuzufügen.
Ein einfacher Kampf, freut sich Kalyd, als sich der letzte Halbork unter seinen Schwerthieben in Nebelschwaden auflöst. Lediglich Grimwardt wurde verletzt. Murrend versucht er seine Unpässlichkeit herunter zu spielen, als Nimoroth ihm seine heilenden Hände auf die Schläfen legt.
„Ein Gläschen Wein und ich bin wieder der Alte“, hört Kalyd ihn grummeln.
„Nimoroth!“ Kalyd wendet sich um, als er Doriens Ruf vernimmt. Der Hexenmeister hält die junge Elfe in seinen Armen. Er hat sie von ihren Fesseln befreit und ihren entblößten Körper in eine Decke gehüllt. „Sie braucht Hilfe.“
Da Nimoroth noch mit Grimwardt beschäftig ist, eilt Kalyd herbei. Seine Heilkräfte als Barde sind schwach, doch sie vermögen die Gefangene aus ihrer Ohnmacht aufzuwecken. Als sie die Augen öffnet, erkennt Kalyd, dass sich unter dem blutverkrusteten Gesicht eine wunderschöne Goldelfe verbirgt.
„Wo ist… mein Sohn?“, flüstert sie benommen.
„Es geht ihm gut“, erwidert Dorien beruhigend. Kalyd sieht sich um. Winter fängt seinen Blick auf und kniet sich zu dem Jungen, der zitternd an der Wand lehnt und lethargisch den Kopf gegen den Stein schlägt. Sie redet sanft auf den jungen Elfen ein und führt ihn zu seiner Mutter. Als er sie erkennt, leuchtet ein Funke in seinen Augen auf und die beiden fallen sich in die Arme.
„Ich danke Euch“, flüstert die Elfe mit Tränen in den Augen und sieht Kalyd an als habe sie noch nie einen anderen Elfen gesehen. „Wer seid Ihr?“
„Mein Name ist Kalyd – wir sind Abenteurer“, erwidert Kalyd. „Wie ist Euer Name?“
„Hanali“, antwortet sie errötend.
„Wie passend“ sagt Dorien mit einem Lächeln. Hanali Celanil ist der Name der elfischen Liebesgöttin. „Wie seid ihr beide nur an diesen Ort gelangt?“
„Wir wohnen in Westtor“, erwidert Hanali. „Es verschwinden immer wieder Leute aus der Stadt. Die Vampire kommen, um sie zu holen. Dieses Mal hat es uns getroffen.“
„Macht Euch keine Sorgen“, sagt Kalyd. „Wir werden dafür sorgen, dass Ihr und Euer Sohn heil hier heraus kommt.“
Sie betrachtet ihn mit großen Augen.
„Wo kommt Ihr her?“, fragt sie auf Elfisch, eine leise Sehnsucht im Blick.
„Aus Windigwasser.“
„Windigwasser“, wiederholt sie leise. „Ein Elfendorf?“
„In den Talländern, ja.“ Kalyd lächelt. „Wenn Ihr gerne möchtet, kann ich Euch das Dorf einmal zeigen. Mein Vater ist…“ Er senkt den Blick. „Mein Vater war Vorsitzender des Rats der Ältesten. Meine Familie hat in Windigwasser stets hohes Ansehen genossen; ich kann Euch mit den Dorfältesten bekannt machen. Ihr könntet dort ein neues Leben beginnen.“
„Ich habe noch niemals unter Elfen gelebt.“ Und dann stiehlt sich zum allerersten Mal ein Lächeln auf ihre Lippen. „Das wäre wirklich wundervoll.“
Winter
„Was tust du da?“, fragt Winter mit in die Hüften gestemmten Händen und beobachtet Drake mit wachsamem Blick. Der Assassine ist vor dem Kreuzigungsgemälde stehen geblieben und betrachtet es aufmerksam. Dann tritt er abrupt vor und hebt das Gemälde von der Wand. Dahinter kommt ein eingebauter Tresor zum Vorschein. Winter macht große Augen.
Drake lehnt das Gemälde an die Wand, sucht nach Fallen und zückt, als er keine findet, seinen Dietrich, um das Tresorschloss zu bearbeiten. Nach einem Augenblick hält er inne und wendet sich zu Winter um.
„Mein Dietrich ist abgebrochen“, behauptet er, doch Winter kann keinen gesplitterten Dietrich sehen. Sie zieht die Augenbrauen hoch.
„Ach ja? Lass es mich mal versuchen.“
Drake lässt ihr den Vortritt, doch auch Winter scheitert an dem verzwickten Öffnungsmechanismus. Drake sieht fast erleichtert aus, als auch ihr kein Erfolg beschieden ist. Mit einem selbstgefälligen Lächeln lässt er sich von Winter ihr Diebeswerkzeug reichen.
Im gleichen Augenblick ertönt ein lautes „Klonk“, das Winter und Drake zusammen zucken lässt. Nimoroth ist im Begriff Gorenders steinernen Sarg mit dem Vorschlaghammer zu bearbeiten, den er sich in Tiefwasser zugelegt hat.
„Wie soll ich mich bei dem Krach denn konzentrieren?“, knurrt Drake. Anstelle einer Antwort murmelt Grimwardt einen Stillezauber. Drake grinst (Winter hat das Gefühl, dass er für ihren Bruder beinahe so etwas wie Respekt empfindet) und widmet sich wieder dem Tresorschloss. Nach einigem Tüfteln und Drehen verrät ein vertrautes „Klick“, dass er den Mechanismus geknackt hat. Unzählige Platinmünzen und Edelsteine klimpern Winter und Drake entgegen.
Nimoroth hat inzwischen den Sarg zerstört, zögert jedoch den Vampir im Sarg zu pfählen wie die Tradition es fordert.
„Hanali“, wendet er sich an die Elfe. „Möchtet Ihr vielleicht Euren Sohn vor die Tür führen? Das könnte ein wenig… blutig werden.“
Die Elfe nickt und Kalyd rät ihr, sich in das Gasthaus zum Leeren Fisch zu begeben und dort auf die Gefährten zu warten. Winter, stets mit allem ausgestattet, was eine Frau begehrt, überlässt ihr das grüne Seidenkleid, das sie sich für den Nymphenball in Tiefwasser zugelegt hat, und Nimoroth leiht ihr seinen Helm und erklärt ihr, wie sie damit ihr Aussehen oder das ihres Sohnes verändern kann, falls die Nachtmasken nach ihr fahnden sollten. Schließlich fordert er sie noch auf, sich von den Edelsteinen und dem Platin zu nehmen, das der Tresor ausgespuckt hat.
„Das… kann ich wirklich nicht annehmen“, flüstert Hanali überrumpelt.
Dorien zuckt die Schultern. „Ich finde, Ihr habt eine Abfindung verdient für das, was Euch und Eurem Sohn widerfahren ist. Außerdem haben wir ohnehin nicht den Platz, alles zu verwahren.“
„Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll.“ Sie lächelt die Gefährten an. „Vielleicht kann ich euch ja einmal mit einem Essen danken, wenn ich mich tatsächlich in Windigwasser niederlasse.“
Sie verabschieden sich. Nachdem die beiden Elfen gegangen sind, köpft Nimoroth Gorender, der mit geschlossenen Augen und über der Brust gefalteten Händen in dem zerstörten Sarg liegt. Dann stopft er dem Vampir den Mund mit Knoblauch und stößt ihm einen Holzpfahl durchs Herz. Sorenth Gorender reißt die bleichen Augen auf und sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse hasserfüllten Zorns. Dann löst sich der Vampir in Staub auf. Nachdem auch die Gefährten sich mit soviel Edelsteinen und Platinmünzen ausgestattet haben wie sie tragen können, ziehen sie weiter.
Nimoroth
Da sie die Vampirkrypten und den Zugang zur Traumebene in der Kanalisation vermuten, folgen die sechs Helden der Wendeltreppe ins Kellergewölbe der Purpurnen Lady. Auch hier unten beleuchten spärlich magische Fackeln ihren Weg. Gleich die erste Tür zu ihrer Linken ist mit goldenen Verzierungen geschmückt. Doch die Gefährten beschließen, sich zunächst die anderen Räume vorzunehmen, die von dem düsteren Gang abzweigen. Aber sie finden lediglich ein paar reichlich gefüllte Korn- und Vorratskammern sowie einen Weinkeller.
„Du wolltest Wein?“, neckt Winter ihren Bruder.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, erwidert Grimwardt standhaft. „Nehmen wir uns den ersten Raum vor.“
Sie postieren sich hintereinander im Gang vor der verzierten Tür und Winter sucht nach Fallen. Dann öffnet sie die Tür… und wird sogleich von einer Horde kreischender Vampirtänzerinnen angefallen, die sich wie rachsüchtige Erinnyen auf sie stürzen. Winter stimmt tapfer in den Kreischchor mit ein, während die anderen einen Blick in den Raum zu erhaschen versuchen.
Eine dunkle Holzvertäfelung zieht sich über die Wände des ausladenden Saals, in dessen Mitte ein glänzender, runder Altar aus schwarzem Obsidian mit Verzierungen aus purpurnem Amethyststein thront. Über dem Altar sind Spruchrollen angebracht mit Parolen wie „Die Dunkelheit ist das ewige Licht“. Flankiert von zwei Golems erwartet ein schwarz gewandeter Priester mit pupillenlosen schwarzen Augen und drohendem Blick die sechs Gefährten. Schattig verschwommene Tentakel scheinen dem Schwarzäugigen aus dem Oberkörper zu sprießen.
Ein Shar-Priester, denkt Nimoroth, der den runden schwarzen Altar als steinernes Symbol der Göttin der Finsternis erkennt.
Doch es ist weder der Anblick des Tentakel-Priesters noch die Gegenwart der beiden Golems, die Nimoroth das Blut in den Adern gefrieren lässt: An den beiden Längsseiten des Tempels klammern sich mit panischen Blicken und verzweifeltem Schluchzen Frauen und Kindern aneinander oder stecken die ausgemergelten Arme durch die Stäbe der Käfige, in denen sie festgehalten werden. Leichen hängen an Widerhaken von der Decke des Raums und die Luft riecht nach Verwesung und Furcht.
Der Gang, in dem sie stehen, ist so eng, dass sie nur einzeln hintereinander passen. Und solange ihnen die Tänzerinnen den Weg versperren, gibt es keine Möglichkeit in den Tempel zu gelangen. Aus diesem Grund flüstert Dorien seinen Freunden zu sich aneinander festzuhalten und teleportiert sie in den Saal, ehe der Shar-Priester aus dieser Situation seinen Vorteil ziehen kann. In einer geschlossenen Reihe tauchen sie hinter dem Priester und den beiden Golems wieder auf. Kalyd nutzt das Überraschungsmoment, um die Tänzerinnen in einer Klingenbarriere einzusperren. Etwa die Hälfte der Vampirbrut wird von den Klingen, die plötzlich aus dem Boden schießen, zerstückelt, ehe sie sich kreischend und zeternd in Nebel auflösen und sich in die Särge verziehen, die entlang der Käfige aufgebahrt sind. Diejenigen, die den Klingen entgehen konnten, fliehen Zähne fletschend aus dem Raum.
Die leeren Pupillen des Shar-Priesters ziehen sich zu kleinen Schlitzen zusammen, als er sich zu den Gefährten umwendet und sein Blick fällt auf Nimoroth.
„Auf dass die Dunkelheit kommen wird Euch zu umfangen“, zischt er und Nimoroth versucht vergeblich, dem Schwertstreich des Klerikers zu entgehen. Während er sich die Schulter hält, wo die Klinge seine Rüstung durchdrungen hat, spricht er keuchend ein Zauberwort, dass ihn ätherisch werden lässt. Die Welt verschwimmt zu unscharfen Konturen, als Nimoroth die Ätherebene betritt, und er vermag sich unbehelligt an seinen Gegnern vorbei zu stehlen. In sicherer Entfernung ruft er seine Göttin an, dass sie ihm Kraft verleihen möge, kehrt auf die materielle Ebene zurück und stürmt mit blitzendem Säbel gegen den Priester an. Dieser erhebt in einer schützenden Bewegung seine Tentakel vor seinen Oberkörper, doch in selben Augenblick spricht Winter einen Bannzauber, der die schwarzen Fangarme verschwinden lässt, und Nimoroths Angriff trifft den Priester mit voller Wucht. Seine schwarzen Augen scheinen zu zerfließen, als der Tod in sein Gesicht tritt.
Auf dass dich die Dunkelheit holt, denkt Nimoroth. Er blickt sich um: Dorien und Winter schleudern Zauber um Zauber gegen die steinernen Figuren der Golems, die Kalyd und Drake in eine Giftwolke gehüllt haben. Grimwardt beschwört die Macht des Tempus, um eine Woge positiver Energie auf seine Freunde und die Menschen in den Käfigen herab zu beschwören, die alle Lebenden heilt, die fliehenden Untoten dagegen in den Tod reißt. Der Kampf gegen die Golems stellt sich als langwieriges, wenn auch nicht sonderlich gefährliches Unterfangen dar, doch nach etlichen Schwerthieben und Energiekugeln zerfallen die steinernen Riesen endlich zu Geröll.
Nach dem Kampf nehmen sich Nimoroth und Griwmardt der blutigen Aufgabe an, alle Särge im Raum zu öffnen, um die Vampire zu zerstören, während die anderen die Gefangenen aus den Käfigen befreien. Die Geretteten lassen es sich nicht nehmen, Grimwardt, den Tempuskleriker, der sie alle durch ein „göttliches Wunder“, geheilt hat, in den Himmel zu loben. Als er ihnen dann auch noch anbietet, sich an den Platinmünzen gütlich zu tun, die sie im „Kreuzigungszimmer“ gefunden haben, kann Nimoroth geradezu in ihren Gesichtern lesen, wie einige ihrem alten Glauben abschwören und Tempus für seine Barmherzigkeit danken. In Gedanken sieht er sie bereits in Scharen dem nächstgelegenen Tempustempel zustreben, um dem Herrn des Krieges ihre Dankbarkeit zu erweisen. Der Mielikki-Priester seufzt ein wenig neidig. Wenn es nur immer so einfach wäre, die Menschheit für einen Glauben zu begeistern…
Kalyd
Nachdem sie sich wieder gesammelt haben, wirkt Kalyd einen Bardenzauber, der ihm Geheimtüren enthüllt. Und er hat Glück – tatsächlich führt der Zauber ihn zu einer verborgenen Tür in der Wand.
„Selbst ein blindes Huhn findet einmal ein Korn“, kommentiert Drake Kalyds Erfolg mit einem spöttischen Lächeln. Kalyd ignoriert die Bemerkung und führt die anderen durch den Gang hinter der Geheimtür. Der Weg macht eine Biegung und mündet in eine weitere Geheimtür. Enttäuscht stellt Kalyd fest, dass sie lediglich zurück auf den Korridor führt.
„Das war dann wohl doch nichts“, bemerkt Drake zynisch.
Die Gefährten beginnen Vorratskammern, Weinkeller und den Shar-Tempel nach Geheimtüren, Portalen oder Treppen abzusuchen – den Zugang zu den Vampirkrypten. Es ist Winter, die endlich etwas entdeckt, als sie den Weinkeller unter die Lupe nimmt. Vier hölzerne Weinfässer lagern hier nebeneinander.
„Eines der vier Fässer ist kürzer als die anderen“, erklärt Winter den anderen. „Dahinter habe ich ein Tor entdeckt – doch seht selbst!“
Winter führt sie an der Wand entlang hinter das erste der vier Fässer. Dahinter klafft ein ovales, menschengroßes Loch in der Wand, das nichts als schwarze Finsternis preisgibt. Um sich, im Falle eines Rückzugs, den Rücken freizuhalten, zerstören die Gefährten das Weinfass, indem sie erst den Wein auslaufen lassen und das leere Holzgestell anschließend beiseite schieben. Kalyd ist der erste, der durch das Tor tritt.
Gähnende Finsternis. Kalyd hört seine Freunde fluchen.
„Eine magische Bannmauer“, hört er Dorien wispern.
„Ich kann nichts sehen“, flüstert Winter. „Etwas unterdrückt meine Dunkelsicht.“
Kalyd lässt sein Schwert aufleuchten, doch Aryvelahr Kerym vermag nur spärlich Licht zu spenden. Nichts als endlose Finsternis umfängt sie.
Das sind nicht die Vampirkrypten, durchzuckt Kalyd ein Gedanke. Dies ist die Schattenebene.
Doch ihm bleibt keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, wohin das Tor sie geführt hat. Etwas streift den Lichtschein seines Schwertes und im nächsten Moment erhellt eine Explosion chaotisch verzweigter Regenbogenstrahlen die Umgebung und Kalyd erkennt sechs menschengroße geisterhafte Schemen, von grauen Schleiern umspielt. Einer der Schemen wird von Doriens Regenbogenstrahlen getroffen und verschwindet.
„Schatten!“, vernimmt Kalyd noch Grimwardts Warnruf, als auch schon das erste Schattenwesen seine dürren, substanzlosen Klauen nach ihm ausstreckt. Zischende Worte in einer Sprache, die ebenso substanzlos klingt, flüstern durch die Dunkelheit. Während er sich gegen die Stärke raubenden Angriffe der Schatten verteidigt, schließt Kalyd aus Grimwardts Gebeten, dass der Tempuskleriker versucht, die Untoten kraft seiner priesterlichen Macht zu vertreiben. Hin und wieder blitzen Zauber in der Dunkelheit auf, die von Dorien oder Winter stammen müssen. Drei Schatten fliehen, von Grimwardts Furcht einflößenden Blicken getroffen aus dem Kampf, ein weiterer verbrennt in der Feuerglut eines Zaubers.
Und dann scheint der Boden unter Kalyds Füßen plötzlich zu erbeben. Aus dem schattigen Dunst, der den Boden in Schlieren bedeckt, wuchten sich gigantische Wesen in die Höhe, die bis jetzt unsichtbar im Nebel geharrt haben müssen. Es sind riesenhafte Würmer mit chitingepanzerten schwarzen Leibern, die steinernen Türmen gleich aus dem Boden wachsen.
„Nachtkriecher“, hört Kalyd Nimoroth, der ganz in seiner Nähe zu stehen scheint, aufkeuchen. „Gebt Acht, dass sie euch nicht…“
Doch es ist bereits zu spät. Ehe Kalyd auch nur sein Schwert in die Höhe reißen kann, reißt einer der beiden Riesenwürmer sein Maul auf und Kalyd blickt in ein Dickicht dolchartiger Zähne, das auf ihn nieder rast. Der Biss des Monsters scheint Kalyd alle Kraft zu rauben. Panisch versucht er sich aus dem Würgegriff zu befreien, mit dem der Wurm ihn zwischen seinen Kieferknochen gefangen hält, doch gegen das gigantische Ungeheuer kommt der Elf nicht an. Ein übermächtiger Sog saugt ihn in den Schlund des Monsters und Kalyd schlittert seinem eigenen Tod entgegen.
Grimwardt
„KALYD!“
Es ist Nimoroths Schrei, der die anderen in der Bewegung innehalten lässt. Als Grimwardt den Elfen im Schlund des Monsters verschwinden sieht, überkommt ihn die bleiche Wut.
„Auf dass wir uns in Tempels Hallen wieder sehen!“, donnert der Kriegspriester und stürmt, dem Schatten zum Trotze, der noch immer mit bleichen Klauen nach ihm greift, auf den riesenhaften Wurm zu. Doch seine Axt scheint machtlos gegen den Chitinpanzer des Nachtkriechers. Nimoroth und Drake vermögen ebenso wenig auszurichten wie er selbst; Dorien und Winter fürchten mit ihren Zaubern nicht nur dem Monster, sondern auch Kalyd zu schaden, den der Nachtkriecher immerhin bei lebendigem Leibe verschlungen hat. Zudem ist ihrer aller Vorrat an Zaubern und Fähigkeiten nahezu erschöpft. Müdigkeit und Erschöpfung gesellen sich zu dem Fieberwahn, in den Kalyds Tod sie versetzt hat. Es gibt nichts, was sie den Nachtkriegern entgegen setzen könnten. Das Klügste wäre es in dieser Situation aufzugeben, aus dem Kampf zu fliehen, das muss sogar Grimwardt, der Kriegspriester, zugeben… Doch niemand macht diesen Vorschlag. Niemand will wahrhaben, dass sie Kalyd nicht retten können. Dass sie nicht einmal seine Leiche aus dem Magen des Monsters schneiden können. Dass er für sie verloren ist.
Und dann geschieht das Unvermeidbare. Während Kalyds Widersacher noch seine Beute verdaut, greift das nächste Wesen an. Grimwardt spürt wie ein riesenhafter Schatten über ihn fällt. Dann wird er in die Höhe gezogen und spürt, wie der Wurm ihn in seinen Schlund zu saugen versucht. Mit aller Macht stemmt Grimwardt sich gegen die Macht des Wesens, versucht den Nachtkriecher mit seiner Priestermacht zu beeindrucken, doch die Gewissheit holt ihn ein, dass er ebenso enden wird wie Kalyd.
„GRIMMM.“
Das letzte, was er sieht ist seine Schwester, bleich und verzweifelt, die mit Tränen in den Augen zu ihm aufblickt. Doch da ist noch etwas anderes in ihrem Blick. Entschlossenheit?
Dann bemerkt Grimwardt, wie etwas in seinen Geist einzudringen versucht, und plötzlich begreift er, was sie vorhat.
Sie will den Standort mit mir tauschen, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Sie will sich für mich opfern!
Mit aller Kraft, die ihm geblieben ist, kämpft Grimwardt gegen Winters Geist, der in seinen einzudringen versucht, und währt ihn ab. Kaltes Entsetzen weicht der Verwirrung in Winters Blick, als ihr Zauber fehlschlägt. Grimwardt schließt die Augen, bereit sich in sein Schicksal zu fügen. Wenn es nur eine Gewissheit gäbe, dass seine Schwester diesen Tag überlebt….
Nicht gerade der Tod, den ich mir gewünscht habe, aber was soll man machen…
„Grimwardt! Wehe – wenn – du – dich währst!“ Es ist wohl eher der angespannte Tonfall, als die Worte, die Grimwardt die Augen noch einmal öffnen lassen. Diesmal ist es nicht Winter, sondern Dorien, der offenbar einen Rettungsversuch plant. Wieder spürt Grimwardt eine fremde Präsenz in seinem Geist, doch er ist zu erschöpft, sich noch einmal dagegen aufzulehnen. Außerdem wirkt Dorien eher zornig als aufopferungsvoll…
Und dann ist er frei. Als Grimwardt sich seiner Selbst wieder bewusst wird, befindet er sich an der Stelle, wo eben noch Dorien stand. Hastig wendet er sich um. Der Hexenmeister, der den Platz mit ihm getauscht hat, hat offenbar keinesfalls die Absicht, sich von dem Nachtkriecher verschlingen zu lassen. Stattdessen scheint er irgendeinen Zauber gewirkt zu haben, der es ihm ermöglicht, dem Ungeheuer zu entgleiten. Der Nachtkriecher, wenig angetan davon, dass er sich jetzt mit dem Nachtisch begnügen muss, versucht zwar Dorien in seinen Schlund zu saugen, doch dieser entwindet sich dem Würgegriff, stürzt zu Boden und flieht, während das Wesen weiter nach ihm schnappt, doch lediglich seine Spiegelbilder trifft. Erleichtert will Grimwardt sich dem zweiten Nachtkriecher zuwenden, als ihn eine blaue Kältewolke umhüllt.
Welche Ironie, denkt er, als der Tod ihn erstarren lässt.
Nimoroth
Los, ergreif mich endlich!, denkt Nimoroth, der sich mit ausgebreiteten Armen dem Nachtkriecher zum Fraß vorwirft, der Kalyd verschlungen hat. Sicher, er weiß, dass sein Plan wahnwitzig ist. Mehr als das. Die Chance, dass es ihm gelingt, zu überleben, bis er im Magen des Riesenwurms angelangt ist und die Wahrscheinlichkeit, dass er dort Kalyd (oder Kalyds Leiche) findet und sich mit ihm aus dem Magen des Wurms zu teleportieren vermag, ist mehr als gering. Aber soll er zulassen, dass das untote Ungeheuer seinen Cousin ebenfalls in einen Untoten verwandelt? Kann er das zulassen?
Doch das Monster ergreift ihn nicht. Nimoroth bemerkt, dass es sich mit dem zweiten Nachtkriecher zu unterhalten scheint. Kraft einer Fähigkeit seines Schwertes vermag Nimoroth zu verstehen, was sie sich in ihrer dunklen Schattensprache zurufen. Offenbar sind sie sich der Verwundbarkeit ihrer Beute bewusst und entschlossen, sie an der Flucht zu hindern. Als Nimoroth sich umblickt, erkennt er, dass Winter und Drake sich um die Leiche des toten Grimwardt geschart haben, offenbar um sich fortzuteleportieren, während Dorien sich noch immer auf der Flucht vor den Angriffen des zweiten Nachtkriechers befindet. Der andere öffnet den Mund und hüllt Winter und Drake in einen Kältekegel ein, der auch Nimoroth streift.
„Sie versuchen euch aufzuhalten“, ruft Nimoroth Winter zu. Doch sie stürzt sich nur verzweifelt über die Leiche ihres Bruders, während sie mit ihrer freien Hand nach Drake tastet und spricht das Wort, das sie von hier fort teleportieren soll. Gleichzeitig versucht der Nachtkriecher, der Dorien aus seinen Fängen entlassen musste, Winters Zauber zu bannen. Doch ihr gelingt es, den Bannzauber des Monsters abzuwehren und Drake, Grimwardt und sie verschwinden in der ewigen Nacht.
Doch selbst die Kapitulation seiner Freunde vermag Nimoroth nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Da der Wurm noch immer keine Anstalten macht ihn anzugreifen, spricht er einen Flugzauber (Mielikki hat ihm am Morgen Zugang zur Domäne des Reisens gewährt), um dem Wesen in den Rachen zu fliegen. Doch der Nachtkriecher bannt seinen Zauber und Nimoroth stürzt zu Boden. Als er aufblickt, steht Dorien neben ihm.
„Was, bei allen Göttern, tust du noch hier?“, fährt Dorien ihn an. „Du kannst nichts mehr für Kalyd tun!“
Nimoroth ringt mit seinem Gewissen und verflucht Dorien im Stillen dafür, dass er noch einmal zurückgekommen ist. Doch als er Doriens anklagenden Blick auffängt, begreift er, dass er fliehen muss. Ohne seine klerikalen Fähigkeiten haben die anderen keine Möglichkeit zurück auf ihre Ebene zu gelangen oder Grimwardt ins Leben zurück zu rufen. Zudem hat er nicht das Recht dazu, Dorien durch seine Opferbereitschaft mit in Gefahr zu bringen.
Fluchend ergreift er den Hexenmeister beim Arm und teleportiert sich mit ihm so weit wie er es sich vorstellen kann.
Irgendwo ins schwarze Nichts.